18. September 2007 | Lateinamerika

Ein neuer Sozialismus

von Leo Gabriel. Wien


Während in Washington die Falken regieren, wird in Lateinamerika der Sozialismus wiedergeboren, fast 20 Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer. Zu der politischen Wende haben nicht nur die negativen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, sondern auch die sozialen Bewegungen.

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Die geopolitische Wende im Erdteil südlich des Rio Bravo ist auf eine Politisierung der durch Jahrhunderte unterdrückten oder instrumentalisierten Kulturen zurückzuführen, welche letztendlich zu einem Erstarken lokaler, regionaler und national-revolutionärer Kräfte geführt hat. Es handelt sich bei der Trendwende in Lateinamerika also weder um kurzfristig vorbereitete Putsche linksgerichteter politischer Fraktionen noch um deren „zufällige“ Wahlerfolge, sondern tatsächlich um einen tiefsitzenden Wandel im politischen Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheiten, der sich in fast allen Ländern Lateinamerikas bereits in den letzten fünfzig Jahren abgezeichnet hat. 

So lange ist es nämlich ungefähr her, dass sich in ganz Lateinamerika und der Karibik im Sog anscheinend entgegengesetzter sozialrevolutionärer politischer Strömungen wie der Castristen und Basischristen, der linken Sozialdemokraten und der kommunistischen Parteien in den Sechziger- und Siebzigerjahren so genannte organizaciones populares gebildet haben, die sich zunächst einmal, in verschiede Sektoren gegliedert, auf lokaler Ebene organisiert hatten:  zahlreiche Wohnviertelorganisationen, Campesino-Bewegungen und studentischen Gruppierungen gehörten ebenso dazu wie die an klassischen Modellen orientierten unabhängigen Gewerkschaften, die sich von ihren unternehmerfreundlichen Zentralen abgespaltet haben. 

Diese so genannten organizaciones populares, die sich während der Achziger- und Neunzigerjahre zu großflächigen Regionalverbänden vom Kaliber einer MST (brasilianische Landlosenbewegung), einer CONAIE (Indígena-Bewegung Ecuadors), eines Movimiento Piquetero (Argentinische Arbeitslosenbewegung) oder einer MAS (aus der Kokabauernbewegung Evo Morales entstandene politische Linkspartei Boliviens) ausgeweitet hatten, suchten und fanden immer öfter den Weg zueinander, sei es im Rahmen regionaler und internationaler Treffen wie der Sozialforen, sei es in der Form von gemeinsamer politischen Aktionen wie dem Kampf gegen die vom US-Imperium gesteuerten kontinentalen Freihandelszone ALCA. 

All das führte zu einem vielschichtigen und vielfältigen Amalgam von zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche sich manchmal (wie die brasilianische PT, die bolivianische MAS und die ehemaligen zentralamerikanischen Guerillabewegungen) zu politischen Wahlparteien verknüpften oder – wie die EZLN in Mexiko oder die CONAIE in Ecuador – zu eigenständigen, autonomen Trägern eines gemeinschaftlichen Bewusstseins auf nationalstaatlicher oder kontinentaler Ebene. 

Mitten in diesem historischen Prozess fand nun eine Entwicklung statt, die eigentlich für diesen Prozess eher atypisch ist: mit dem Wahlsieg und der einige Jahre später erfolgten Machtergreifung von Hugo Chavez in Venezuela wurde eine Führungspersönlichkeit kreiert, die das politische Panorama des Anderen Amerika mehr als die anderen linken Präsidenten nachhaltig bestimmte. Dabei hätte Chavez genauso gut ein rechts- oder linksliberaler Volkstribun werden können. Der ehemalige Putschistenführer verstand jedoch die Zeichen der Zeit und entpuppt sich heute als eine Art spiritus rector eines neuartigen lateinamerikanischen Integrationsprozesses (ALBA – Alianza Latinoamericana Bolvariana).  

In Lateinamerika konnten wir während der letzten Jahre miterleben, wie sich die Mobilisierungen gegen den Freihandel, die Privatisierungsprozesse und für den Schutz der natürlichen Ressourcen und die Ernährungssouveränität explosionsartig ausweiteten; diese Mobilisierungen haben in einigen Ländern zur Übernahme von Regierungen geführt, die jene politischen Alternativen verfolgen, welche im Rahmen der Kämpfe an der Basis entstanden sind. Das jüngste Beispiel dafür ist der Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien, der auf die Kämpfe gegen die Privatisierung des Wassers und der Auseinandersetzungen der Campesinos und Indígenas sowie der ArbeiterInnen und BewohnerInnen der städtischen Randviertel zurückzuführen ist, die sich in diesem Land seit dem Jahr 2000 entwickelt haben.“  

Diese lapidaren Sätze, entnommen aus der Schlusserklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen beim Weltsozialforum 2006 in Caracas deuten bereits auf die allgemeine Aufbruchsstimmung hin, die derzeit in nahezu allen Ländern Lateinamerikas herrscht. Für die meisten stellen die partizipatorischen Strukturen der Indígena-Bewegungen, die sich im Anschluss an die Bewegung „500 Jahre Widerstand der Indigenen, Schwarzen und Volksorganisationen“ 1992 in den einzelnen Autonomieprozessen von Chiapas, Mexiko, über das Amazonasbecken und das Hochland Ecuadors bis Chapare, Bolivien gebildet hatten, einen wichtigen Referenzpunkt für die Entwicklung der politischen Erneuerung dar.   

„Partizipative Demokratie ist jedoch im Unterschied zu der repräsentativen keine politische Überlebensgarantie“, sagte Rafael Alegría einer der Führer der weltweiten Bauernbewegung Via Campesina, „sie muss jeden Tag von Neuem erkämpft werden“.

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Der Autor

Journalist, u.a. als freier Mitarbeiter des ORF. In den 70er und 80er Jahren lebte Leo Gabriel in Südamerika. 1980 gründete er die alternative Presseagentur APIA in Managua (Nicaragua). Für sein Buch „Aufstand der Kulturen“ – über die Konfliktregionen Mittelamerikas – erhielt er 1988 den von der katholischen Kirche vergebenen Dritte Welt-Publizistikpreis. Mitbegründer u.a. von Attac Österreich, der Initiative „EuroMarsch Österreich“, der Clean-Clothes-Kampagne, der Informationsgruppe Lateinamerika und von Anti-Kriegs-Bewegungen.


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