Im Jahresbericht über Pressefreiheit von Freedomhouse, einer 1941 vom US Präsident Roosevelt kreierten Stiftung, war Italien 2006 Europas einziges Land, das als nur „teilweise frei“ klassifiziert wurde. Weltweit liegt es auf Rang 79, hinter Bulgarien und der Mongolei. Laut Freedomhouse „blieb 2005 die Freiheit der Medien eingeschränkt durch die anhaltende Konzentration der Medienmacht in den Händen des Premierministers Silvio Berlusconi, der durch seinen privaten Medienkonzern und seine politische Macht über die staatlichen Sender 90 Prozent der Rundfunkmedien des Landes kontrollierte.“
Vergleicht man die Länder dieser Welt miteinander an Hand von zehn Erhebungen bezüglich ihrer Entwicklung, so besetzt Italien im Durchschnitt Rang 46. Doch bei zwei Faktoren gibt es deutliche Ausreißer: Das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner ist Italiens bester Wert und liegt auf Rang 19. Die Pressefreiheit ist dagegen weit unterdurchschnittlich ausgeprägt. Das heißt: Die Italiener sind im Weltmaßstab sehr reich – und sehr schlecht informiert.
Zentralen Anteil daran hat Silvio Berlusconi, der in Personalunion Patron der italienischen Regierung, des AC Mailand und des Medienimperiums Fininvest mit einem Jahresumsatz von 5 Milliarden Euro ist. Berlusconi pflegt seine geschäftlichen und politischen Verkaufskräfte zu belehren, dass man das „Publikum“ am besten gewinnt, wenn man es wie elfjährige Kinder anspricht. Tatsächlich trifft dieses Bild auf viele Italiener zu: Die meisten von ihnen konsumieren viel mehr, als ökologisch zu verantworten ist – wie Kinder, die Ferrari ohne Bremse fahren wollen. Das spiegelt sich auch darin, dass Italien beim ökologischen Nachhaltigkeitsindex ebenfalls weit unten auf Platz 69 gelandet ist. Die beiden Extreme – hoher materieller Verbrauch und niedriges sozioökologisches Bewusstsein – kennzeichnen das Italien der letzten 30 Jahre: viel Wachstum, wenig Entwicklung; viel private Bereicherung, immer weniger öffentliche Güter; viel Werbung, wenig Forschung; viele Stadien, wenige Hochschulen; viel kommerzielles Fernsehen, wenig Kultur.
Rang 79 für Pressefreiheit verkörpert in Italien eine Gestalt, die Pier Paolo Pasolini für einen surrealen Film hätte erfinden können, die aber leider höchst real nun wieder Regierungschef geworden ist. Vor der Wahl war er, ein älterer Werbemann und der reichste dazu, drei Wochen lang in schwarzem Hemd und ohne Krawatte unterwegs und tobte täglich vor einer kleinen Menge auf dem Wahlkampfpodium eines kleinen Marktplatzes. Mit vulgären Witzen und Verleumdungen beschimpfte er Feinde und die Hälfte des Stimmvolkes und erreichte damit täglich durch die Tagesschauen der sieben nationalen Sender Millionen von Zuschauern. Sein Bild verkörpert die zwei übelsten Erzeugnisse Italiens der letzten hundert Jahre: den Autoritarismus im faschistischen Schwarzhemd und kommerzielle Propaganda, die in den letzten Winkel vordringt.
Kaum etwas illustriert Rang 79 für Italiens Pressefreiheit eindringlicher als das einzige, indirekte Wahlkampfduell der zwei Hauptkandidaten zwei Tage vor der Abstimmung. Um den TV-Zuschauern als Fast-Duellant begegnen zu dürfen, musste der schwächere Kandidat Walter Veltroni sich in einen privaten TV-Sender seines Kontrahenten begeben. Dort war er Silvio Berlusconis Willkür ausgeliefert. Eine Dreiviertelstunde lang durfte sich der Gast von einem Journalisten interviewen lassen, den Gastgeber Berlusconi bezahlt. Natürlich musste er als Erster antreten, bevor in einer zweiten Runde dann Berlusconi an der Reihe war. Zwei Werbeblöcke unterbrachen die zwei Bewerber: den Gast für vier, den Gastgeber für anderthalb Minuten. In jeder Werbeminute verlor der Gast Zuschauer und verdiente der Gastgeber Geld. Der Hausherr entzog sich dann jedem Dialog und ließ sich einfach von Bediensteten befragen. Er sprach fast ununterbrochen eine Dreiviertelstunde lang und gönnte sich die Gelegenheit, alle kurz zuvor vom Gast gebrachten Argumente anzugreifen und zum Teil zu verhöhnen. Veltroni bekam keine Gelegenheit, darauf zu antworten.
Berlusconi versprach Härte gegen das Verbrechen und bezeichnete zugleich einen ehemaligen sizilianischen Pferdeknecht seiner Residenz als „Helden“, obwohl der für Mafia-Mitgliedschaft, mehrfachen Mord, Körperverletzung und Drogenhandel zu „lebenslänglich“ verurteilt worden ist. Obwohl einige Behauptungen Berlusconis offensichtlich unwahr waren, hakte der Journalist nicht nach. Und als Berlusconi in der letzen Redeminute im Falle seiner Wahl die Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer ankündigte, blieb auch das ohne Nachfrage.
Berlusconi steht mit seiner Medienfirma Fininvest in Italien nicht alleine da. Fast alle Tageszeitungen gehören Industrieunternehmen. Zusätzlich hängen sie an einer zweiten kommerziellen Leine: einer überbordenden Werbung. Die überschwemmt zum Beispiel an einem Tag bis zu sechs Seiten der wichtigsten Tageszeitung mit Anzeigen eines Mineralwassers. Wen wundert es angesichts solcher Zustände, wenn ein mehrfach rechtskräftig verurteilter Mineralwasser-Baron und Eigentümer von Tageszeitungen als Senator des Fininvest-nahen „Volkes der Freiheit“ ins neue Parlament einzieht – und auch sein Bekenntnis, Faschist zu sein, dafür kein Hindernis darstellt. In Italien dienen die herrschenden Medien grundsätzlich nicht den Lesern oder Zuschauern, sondern den Eigentümern und Werbekunden.
Um zwei verlorene Jahrzehnte aufzuholen, bräuchte Italien handlungsorientierte Modernisierungsprogramme, die die kommenden 50 Jahre in den Blick nehmen. Doch tatsächlich wird das Land mit dem Blick zurück regiert. Da wird zum einen das Mittelalter mythisch überhöht, verkörpert von mit Hellebarde, Rüstung und keltischen Devotionalien auftretenden Kriegern auf den rituellen Versammlungen der Lega Nord. Ihr Chef Umberto Bossi erklärt, was die Partei damit sagen will: „Berlusconi soll unsere Befehle vollstrecken. Ohne Reformen werden wir unsere 300.000 Flinten einsetzen.“ Zweitens wendet sich das siegreiche Bündnis hin zu Italiens zwanzig faschistischen Jahren, die im Parlament auch durch zwei Damen in Schwarz vertreten sind, eine davon die Großenkelin des Duce. Die beiden wetteifern öffentlich, welche der beiden vom „wahren“ Opa Mussolini in Traum besucht wurde. Und schließlich folgt Italien einer von den 60er-Jahren inspirierten Rezeptur: mehr Werbung, deshalb mehr Konsum, Produktion, Arbeit und Glück für alle. Das alles vermarkten die drei nun triumphierenden Kräfte unter dem Motto: Steh wieder auf, Italien!
© Der Artikel wurde in der TAZ vom 26. Mai 2008 veröffentlicht
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Der Autor
Marco Morosini arbeitet als Dozent für Indikatoren nachhaltiger Entwicklung und schreibt als freier Journalist Buch-, Zeitungs- und TV-Beiträge. Seit 1993 berät er außerdem Beppo Grillo.