Die Jahre mit Silvio Berlusconi als Ministerpräsident sind für Italien verehrend gewesen. Die neue Mitte-Links-Koalition von Romano Prodi trat 2006 für eine politische Wende ein, sie hat aber ihr Versprechen bisher nicht eingelöst. Als im Februar 2007 eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes zur Debatte stand, stimmte der linke Flügel gegen die US-freundliche Position der eigenen Regierung. Romano Prodi trat erst einmal zurück, um dann eine zweite Regierung zu bilden.
PETRA RESKI: Es geschieht in Italien nicht zum ersten Mal, dass eine linke Regierung von links in eine Niederlage gestürzt wird, handelt es sich dabei um einen genetischen Defekt der italienischen Linken? Ein Selbstzerstörungs-Gen?
PAOLO FLORES D’ARCAIS: Für die offizielle Linke, also für die der linken Parteien, war es ein Schock. Was eigentlich paradox ist, denn es war vorauszusehen. Der wichtigste Politikwissenschaftler Italiens, Giovanni Sartori, hat gleich am Tag nach den Wahlen vorausgesagt, dass diese Regierung früher oder später Probleme haben würde. Auch für die linke Wählerschaft war es ein Schock. Nicht, weil sie mit dieser Regierung zufrieden ist, ganz im Gegenteil. Die Vorstellung, dass Berlusconi zurückkehren könnte, löst Angst und Bestürzung aus. Das wäre wirklich eine Katastrophe für das Land.
RESKI: Hat der Schock die Beteiligten wachgerüttelt?
D’ARCAIS: Ministerpräsident Prodi hat nach der Niederlage sofort gesagt: Jetzt will ich freie Hand haben. Und dann veröffentlicht er eine Liste von Forderungen, die so inhaltsschwer sind wie klares Wasser. Es ist doch sehr eigenartig, wenn der Regierungschef sagt: Ich will das letzte Wort haben! Man fragt sich: Warum hast Du nicht früher danach verlangt, freie Hand zu haben? Etwa am Tag nach seinem riesigen Erfolg bei den Vorwahlen? Damals dachte man, dass höchstens 500 000 Menschen an diesen Vorwahlen teilnehmen würden, und es kamen fast 3,5 Millionen. Es war eine Volksabstimmung für Prodi. Und am nächsten Tag hätte er sehr wohl bei den Parteien des Linksbündnisses nach freier Hand verlangen können.
RESKI: Und warum tat es nicht?
D’ARCAIS: Er tat es nicht, weil er politisch nicht an die Notwendigkeit einer Wende glaubt – einer Wende im Verhältnis zwischen Bürgern und Parteien. Darin liegt aber das wahre Problem Italiens: Das der Parteienherrschaft. Und dann kommen natürlich noch persönliche Charakterzüge hinzu. Prodi ist kein großer Kämpfer.
RESKI: Unlängst haben Sie festgestellt, dass die Regierung Prodi einen Berlusconismus ohne Berlusconi betreibe.
D’ARCAIS: Ja. Und ich habe auch gesagt, dass die Regierung auf diese Weise eine Rückkehr von Berlusconi vorbereite. Und das denke ich nach wie vor. Die Unità, die ehemalige Parteizeitung der Kommunisten, titelte nach dem Regierungssturz: „Sie haben 19 Millionen Wähler verraten“. Womit die beiden Senatoren aus dem linken Lager gemeint waren, die gegen die Regierung gestimmt haben. Wenn wir diese Schlagzeile ohne Heuchelei analysieren, dann fällt folgendes auf: Was die Erweiterung der US-Militärbasis von Vicenza betrifft, so ließ die Regierung ihre Wählerschaft viele Tage lang in dem Glauben, dass die Erweiterung auf keinen Fall stattfinden würde. Wochenlang schrieben die Zeitungen nichts anderes. Als es dann hieß, die Regierung müsse darüber nachdenken, stellte Piero Fassino, der Parteisekretär der Linksdemokraten, sogar eine Bürgerabstimmung in Vicenza in Aussicht. Jetzt mal ganz ehrlich: Wer hat hier wen verraten? Der Senator Turigliatto oder Prodi und Fassino? Auch in einer anderen delikaten Frage, nämlich der Entführung des Imams Mullah Omar durch den CIA, auch hier hat sich die italienische Regierung eigentümlich verhalten, indem sie die Angelegenheit als Staatsgeheimnis deklarierte, genau wie die Regierung Berlusconi. Ebenso wurde die Ermordung des italienischen Agenten Nicola Calipari zum Staatsgeheimnis erklärt – jenes Beamten des Auslandsgeheimdienstes, der bei der Befreiung der italienischen Journalistin Giuliana Sgrena in Bagdad unter nicht geklärten Umständen ums Leben kam. Vor den Wahlen hieß es: Nie wieder Staatsgeheimnisse! Und jetzt werden hier mehr Vorfälle zum Staatsgeheimnis deklariert als unter Berlusconi. Wer hat also hier verraten, der Senator Rossi oder Ministerpräsident Prodi und sein Justizminister Mastella? Es ist zu bequem zu sagen, dass diese beiden Senatoren einen Verrat begangen hätten. Und ich könnte noch viele andere Dinge aufzählen, wo die Regierung in den ersten neun Monaten ihrer Legislaturperiode ihre Wähler kontinuierlich verraten hat.
RESKI: Zum Beispiel?
D’ARCAIS: Wahlversprechen war, alle Gesetze, die auf die persönlichen Probleme Berlusconis zugeschnittenen waren, wieder rückgängig zu machen. Es wurde nur ein einziges rückgängig gemacht, jedoch vom Verfassungsgericht und nicht von der Regierung. Es gab keine einzige Reform der Justiz. Nur eine gewaltige Strafamnestie. Da waren sich alle einig, sowohl die Rechten als auch die Linken. Denn sie haben alle in ihren Reihen jemanden, der als Angeklagter vor Gericht steht. Rechts natürlich etwas mehr als links, aber sie haben alle ihre korrupten Politiker, sowohl rechts als auch links. Und sie haben alle ihre zukünftigen korrupten Politiker. Sie sind da sehr weitsichtig. Das Gesetz zur Strafamnestie ist fast einstimmig verabschiedet worden. Das diskreditiert die Politiker in Augen der Italiener natürlich noch mehr. Aber obwohl die Regierung Prodi ihre Wählerschaft in allen Punkten ihres Wahlprogramms betrogen hat, müssen wir diese Regierung halten. Weil Berlusconi keine Alternative ist. Doch man kann wirklich nicht sagen, dass diese beiden Senatoren die Wähler verraten hätten. Sondern die Regierung Prodi hat sie verraten. Systematisch. Und auf sehr arrogante Weise.
RESKI: Warum ist die Regierung dann ausgerechnet an einer Frage der Außenpolitik gescheitert?
D’ARCAIS: Die Regierung hätte über jede beliebige andere Frage stürzen können. Bei der Außenpolitik ist es nur so, dass manche Termine nicht intern von der Regierung, sondern international festgelegt werden. Den Gesetzesvorschlag zu den gleichgeschlechtlichen Gemeinschaften etwa konnte man aufschieben, als man merkte, dass er eine Krise auslösen würde. Das funktioniert bei einer außenpolitischen Frage nicht.
RESKI: Wann wird es wieder zu einer Krise kommen?
D’ARCAIS: Selbst wenn Prodi wie durch ein Wunder am Ende der Legislaturperiode ankommen wird, werden sich die wahren Probleme des Landes weiterhin verschlimmern. Es ist ein Problem der Parteienherrschaft – der Nomenklatur. Nomenklatur mit „K“ geschrieben, so wie es bei den Parteien im Osten üblich war. Mit einer autoreferentiellen Bürokratie. In anderen europäischen Ländern kommt es wenigstens teilweise zu einer Erneuerung der politischen Klasse, in Italien nicht.
RESKI: Man spricht auch von der Herrschaft der Urgroßväter.
D’ARCAIS: Aber es ist nicht nur ein Problem des Alters. Die Jungen sind oft schlimmer als die Alten. Es ist ein Problem der politischen Klasse Italiens. Im Mitte-Rechts-Bündnis haben wir eine enge Verbindung zur organisierten Kriminalität. Und im Mitte-Links-Bündnis haben wir vor allem ein erschreckendes Mittelmaß. In Spanien beispielsweise war die Sozialistische Partei jahrelang in der Krise – bis Zapatero kam und eine Wende einleitete. In Frankreich gibt es Ségolène Royal. Ich weiß nicht, ob sie es schaffen wird oder nicht, sicher ist, dass sie anders ist – anders als die anderen Figuren des traditionellen Parteiapparates. In Italien hingegen herrscht in den Parteiapparaten der Linksparteien eine absolute, geschlossene Hierarchie. Das ist das wahre Problem. Und das wird man nicht mit einer zweiten Regierung Prodi lösen können, die ein paar Monate dauern wird.
RESKI: Lässt sich das Problem der Parteienherrschaft durch eine Reform des Wahlrechts lösen?
D’ARCAIS: Niemand will Neuwahlen mit diesem Wahlrecht. Es bringt nichts als Durcheinander hervor. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder das deutsche Modell, also ein Verhältniswahlrecht mit einer Korrekturmöglichkeit durch eine Prozent-Hürde. So dass man die Parteien dazu bringt, sich untereinander zusammenzuschließen. Oder der Bipolarismus des französischen Wahlrechts mit zwei Wahlgängen. Natürlich kann man beide Systeme noch verbessern. Aber niemand kann sich für das eine oder andere System entscheiden. Im Mitte-Rechts-Bündnis ist Berlusconi für das Mehrheitswahlrecht und die Christdemokraten sind für das Verhältniswahlrecht. Beim Mitte-Links-Bündnis ist es das Gleiche. Und viele kleine Parteien, also Parteien, die bei ein oder zwei Prozent liegen, wollen ein Verhältniswahlrecht – aber nicht so sehr durch Prozent-Hürden eingeschränkt, dass sie nicht mehr weiter existieren können. Es ist schwierig.
RESKI: Wie wäre die Parteienherrschaft sonst zu brechen?
D’ARCAIS: Besonders zur Zeit der Vorwahlen, als ein Klima von bürgerlichen Engagement herrschte, hätte Prodi sagen können: Ich habe die Unterstützung der Bürger. Ich werde Kandidaten auswählen, die nicht von den Parteien bestimmt werden, sondern von ihren Fähigkeiten. Ich werde, wenn wir gewinnen, eine Reihe von institutionellen Reformen vorschlagen. Etwa, dass ein Bürgermeister nicht gleichzeitig Europaparlamentarier sein kann. Oder dass ein Politiker nicht länger als zwei Legislaturperioden hintereinander im Parlament vertreten sein kann und danach eine Pause einlegen muss – damit er nicht zum Berufspolitiker wird. Es gibt viele Dinge, die getan werden müssen. In Italien sind die Politiker diejenigen, die man am meisten verachtet. In Umfragen sind die Politiker immer die Berufsklasse, der man die geringste Wertschätzung entgegenbringt.
RESKI: Sind die Italiener resigniert?
D’ARCAIS: Ja, sicher, die meisten sind resigniert. Und die Resignation ist in einer liberalen Demokratie etwas sehr Schädliches. In einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung resigniert ist, ist jedes mögliche politische Abenteuer denkbar. Ein Anti-Demokrat, der etwas weiter als Berlusconi gehen möchte, findet keinen Widerstand mehr vor. Denn wenn die Resignation weit verbreitet ist, wird sich auch niemand mehr über etwas empören.
RESKI: Und wie kommt Italien da heraus?
D’ARCAIS: Vielleicht gar nicht. Es ist möglich, dass Italien in ein oder vier Jahren wieder von einer populistischen, antidemokratischen Rechten geführt wird. Dass Italien also einem Ende entgegentrudelt, wie ein Flugzeug, über das man die Kontrolle verloren hat. Aber zum Glück ist manches in der Politik unvorhersehbar. Niemand hat den Fall der Mauer vorausgesehen. In Italien hätte niemand die Ermittlungen um den Korruptionsskandal von „Saubere Hände“ vorausgesagt. Oder das Auftauchen von Berlusconi. Gott sei Dank gibt es Überraschungen. Wenn die Linke sich das nächste Mal zur Wahl stellt, dann wird das sicher nicht mit Prodi sein. Der Kandidat wird durch Vorwahlen festgelegt werden, und es kann sein, dass es dabei schon zu echten Auseinandersetzungen kommt – und dass eine Person am Ende herauskommt, der so etwas wie ein italienischer Zapatero sein kann. Heute gibt es keine Namen. Der einzige, der mir möglich erscheint, der aber scheinbar keine große Lust hat, sich zu engagieren, ist bei den Linken der römische Bürgermeister Walter Veltroni. Und dem ich in Italien sicher keinen Gefallen tue, wenn ich seinen Namen in diesem Zusammenhang ausspreche. Er genießt eine große Popularität nicht nur im linken Lager, sondern auch im bürgerlich-konservativen. Zum Glück ist die Zukunft der Politik voller Überraschungen. Im guten wie im schlechten Sinne.
© 2007 – Herzlichen Dank an Petra Reski und Paolo Flores D’Arcais für die freundliche Genehmigung