25. Oktober 2008 | Netzwerke

Zwischen Flexibilität und Ordnung

von Andreas Kohlmann. Mainz


Vernetzung kann vieles sein. Einerseits hat sie das Potenzial inne Flexibilität und Freiräume für den Einzelnen zu schaffen und dabei die solidarische Gemeinschaft zu wahren, gleichzeitig kann sie aber im Chaos enden.

Lesezeit 6 Minuten

Die Suche nach Alternativen zum traditionellen Bürokratiemodell ist alt. Gerade in letzter Zeit ist in diesem Zusammenhang das Modell des „Netzwerks“ in Mode gekommen. Dies ist nicht verwunderlich, denn Netzwerke versprechen Flexibilität, Freiraum und persönliche Entfaltung für den Einzelnen, während klassische Hierarchien ein Sinnbild für Starrheit, Maßregelung und einseitige Machtstrukturen geworden sind. Die Netzwerk-Idee erscheint allerdings nicht ausschließlich für die Gestaltung privatwirtschaftlicher Organisationen interessant, sondern wird auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene im Zusammenhang mit der Umsetzung basisdemokratischer Prozesse diskutiert. Hier fallen Begriffe wie Bürgergesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement, die die Überwindung des Gegensatzes von Individuum und Solidarität erhoffen lassen.

Wie so oft steckt bei guten Ideen die Tücke allerdings im Detail und in der Umsetzung. Erwägt man nur die eine Lehre der Systemtheorie, die besagt, dass Systeme intern Strukturen ausbilden, um sich damit von ihrer Umwelt abzugrenzen, so wird schnell klar, dass totale Offenheit nicht zu umsetzungsfähigen Organisationen führen kann. Zwei Sachverhalte bedingen sich hier gegenseitig. Zur Umsetzung gemeinsamer Ziel ist auf ein gewisses Maß von Weisungen und Regeln nicht verzichtbar, um Projekte nichts ins Leere laufen zu lassen. Auf der anderen Seite kann ein vertretbares Maß an Offenheit, den Spielraum von Organisationen erweitern und somit auch auf nicht eingeplante Risiken reagieren. Man könnte sagen, dass Organisationen genau da ihre Ziele optimal umsetzen, wo sie sich nach dem Prinzip „wohlgeordnetes Chaos“ selbstverwalten (vgl. Abbildung). Luhmann wählt hierfür den Begriff der Komplexität in seinem Theoriegebäude.

Abbildung 1
Grafik: Andreas Kohlmann

Es lohnt sich noch einen näheren Blick auf den Begriff der Komplexität zu werfen. Dieser spielt nicht nur eine zentrale Rolle in der Luhmannschen Systemtheorie, sondern findet sich in anderen Zusammenhängen sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Informatik wider. In diesen Bereichen gibt es sogar eindeutige Komplexitätsdefinitionen, die sie aus der Shannon’shen Informationstheorie herleiten. Hier soll ein intuitives Beispiel für die Darstellung genügen. Man betrachte sich die Texte in der folgenden Abbildung:

Abbildung 2
Grafik: Andreas Kohlmann

Auf den ersten Blick lässt sich folgende Beobachtung vollziehen. Nur der dritte Text hat eine sinnvolle Struktur, der zweite ist ein wildes Wirrwarr, der erste wirkt ziemlich eintönig. Die Informationstheorie lehrt nun, dass sich die Texte durch die Länge der Regeln unterscheiden, die benötigt wird, um sie aufzuschreiben. Dabei handelt es sich um folgendes: Bei dem ersten Text reicht es schlicht zu sagen „Schreib 30 mal ‚n’“. Der zweite Text basiert allerdings auf dem Zufallsprinzip. Für die Niederschrift bleibt nichts anderes übrig, als den Text in ganzer Länge zu wiederholen. Bezüglich des dritten Textes muss bedacht werden, dass der Empfänger der Regel nicht menschlich ist, sondern ein Computer. Für einen Menschen erscheint der Sachverhalt trivial, da der Text einen sinn ergibt. Ein Computer kann diesen allerdings nicht erkennen und es bedarf einem sehr komplexen System von Regeln, um einen Text wiederzugeben, der nicht vollkommen zufällig, aber auch nicht vollkommen geordnet ist.

Folgende Lehre können wir also daraus ziehen. Ordnungen erzeugen Einfachheit. Je größer die Ordnung eine Systems ist, desto einfacher ist die Regel, die zu seiner Beschreibung notwendig ist. Chaos ist strukturlos. Ein Regelsystem bringt keine Vorteile. Komplexe Systeme sind kompliziert aber dennoch einfach. Kompliziert sind sie als Regelsystem, einfach werden sie als Sinnsystem, das von Menschen erkannt werden kann. In einfachen Worten können wir also festhalten: Im Bereich der Informatik ist Komplexität der Ausdruck dafür, dass einfache menschliche Sinnsysteme nur durch komplizierte binäre Rechenprozesse erfasst werden können.

Diese Erkenntnis gilt es nun auf den Bereich von Organisationen zu übertragen. Von Hierarchien kann man nämlich als ein Netzwerk sprechen, bei dem für jeden Knoten genau ein übergeordneter Knoten existiert. In der Wurzel laufen alle diese Stränge zusammen. Dieser ist die höchste Hierarchiestufe. Es entsteht eine klare und einfache Struktur. Im Gegensatz dazu soll der Begriff Heterarchie ein gänzlich vermaschtes Netzwerk bezeichnen, in dem alles mit allem vernetzt ist, es keine Über- oder Unterordnung gibt, sonder jeder Knote, das gleiche Gewicht innerhalb des Systems trägt. Denkt man nochmals an die Texte, so konnte doch der das größte Interesse erregen, der einen Sinn ergab und als komplex bezeichnet werden konnte. In Hierarchien können wir solch ein Muster erzeugen, indem wir das strenge Prinzip, der Über- und Unterordnung brechen und es durch Nebenordnungen ergänzen. Dieser Sachverhalt ist in folgenden Netzwerken exemplarisch dargestellt:

Abbildung 3
Grafik: Andreas Kohlmann

Die komplexe Organisation ist also das, was wir in einem ersten Versuch als wohlgeordnetes Chaos bezeichnet hatten. Sollen demzufolge Organisationen mit mehr Flexibilität und Freiräumen ausgestattet werden, so kann dies nicht durch völlige Öffnung entstehen, die im Chaos enden würde, sondern vielmehr durch sinnvolle Vernetzung. Sinn ist allerdings ein rein menschliches Phänomen, der durch Regelsysteme nur auf sehr komplizierte Weise imitiert werden kann, wenn überhaupt. Für die Umsetzung heißt dies aber, nicht technische Methoden können weiterhelfen, sondern nur menschliches Miteinander. Komplexe Organisationen sollten sich selbst als sinnhaftes Ganzes verstehen, was aber nur möglich ist, wenn hier ein Umfeld existiert, in dem gegenseitige Verachtung und Vertrauen gefragt sind. In der Realität ist gerade dieser Umstand ein Problem vieler Bürokratien, gegenseitiges Vertrauen ist oft auf ein Minimum reduziert und so bleibt nichts übrig als den Sinnprozess durch komplizierte Regelsystem technisch zu reproduzieren. So werden Probleme der optimalen Gestaltung organisationaler Prozesse zu Problemen des menschlichen Miteinander.

In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass die Netzwerk-Thematik auch in politischen Diskussionen zunehmend an Gewicht gewinnt. Es braucht nicht viel, um die Erkenntnisse über die Gestaltung privatwirtschaftlicher Organisationen zu übertragen. Denn die Differenz von Hierarchie und Heterarchie kann ebenso gut auf die Gesamtgesellschaft als Modell übertragen werden. Auf den ersten Blick kann das Netz als Ideal einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden. Alle Individuen sind integriert und eindeutige Machtzentren existieren nicht. Jedoch gilt auch hier: Ordnung entsteht nur durch Nich-Beliebigkeit. In diesem Sinne wäre das totale Netz als Anarchie zu interpretieren. Auch auf gesellschaftlicher Ebene ist es wichtig, das wohlgeordnete Chaos zu suchen und in gewisser Weise lassen sich ja gerade moderne Gesellschaften von Standesgesellschaften dadurch unterscheiden, dass sie auf eine klare Hierarchie verzichten und den Individuen mehr Flexibilität und Freiräume zubilligen. Auch sind sie nicht linear an einer höchsten Hierarchiestufe ausgerichtet, sondern konzentrisch um Verfassung und Gewaltentriade aufgebaut. Es ist dies die besondere Leistung moderner Gesellschaften, dass sie den Individuen tatsächlich mehr Flexibilität und Freiräume zugestehen. Dies wird in den vielen kritischen Stimmen unserer Zeit leider viel zu oft vergessen. Darüber hinaus hat der Rundgang durch die Forschungsergebnisse zum Thema Komplexität gezeigt, dass komplexe Systeme durch Sinn ihre Kompliziertheit verlieren und an Einfachheit gewinnen. Wo dieser fehlt müssen komplizierte Techniken die Sinngebung ersetzen. Ein Beispiel ist das Steuersystem. Entweder versucht man ein „sinnvolles“ System der Steuergerechtigkeit aufzubauen oder man ersetzt den fehlenden Sinn durch ein immer kompliziertes System an Gesetzen. Dieser Fall ist nur allzu bekannt und lässt deutlich werden, dass die fehlende politische Leistung der gesellschaftlichen Integration einen weiteren Wirkungskreis mit sich zieht als man zunächst denkt. Gerade hier werden zivilgesellschaftliche Organisationen interessant. Sie vermögen ein Potenzial der Integration offen zu legen und durch Gemeinsamkeit neue Sinnebenen zu erschließen. Die Legitimationsordnung des Staates sollte dabei allerdings nie in den Hintergrund treten. Denn die bürgerliche Gesellschaft hat auch schon eine „dunkle Seite“ erfahren, die sich in Form von Cliquen-Denken, Ausgrenzung und Abschottung ausdrückt.

Vernetzung kann vieles sein. Einerseits hat sie das Potenzial inne Flexibilität und Freiräume für den Einzelnen zu schaffen und dabei die solidarische Gemeinschaft zu wahren, gleichzeitig kann sie aber im Chaos enden. Diesen Sachverhalt kennt schon der griechische Mythos. Arachne, die Weberin, hat ihr Kunsthandwerk von den Göttern gelernt. Diesen untersagt sie jedoch ihre Hochachtung und verärgert über diesen Hochmut fordern die Götter sie zum Wettstreit heraus. Athene tritt gegen Arachne an den Webstuhl an. Sie kann diese allerdings in ihrer großen Kunstfertigkeit nicht übertreffen und zerstört in ihrer Wut den Teppich der Arachne und verwandelt diese darauf in eine Spinne. Das Spinnennetz hat ebenso diese Zweiseitigkeit, die wir auch für gesellschaftliche Netzwerke herausgearbeitet hatten. Eine große Festigkeit, die jedoch auch leicht zerreißen kann. Für die Griechen stellte die Webkunst eine göttliche Kunst dar, für den modernen Menschen heißt dies, er sollte sich seiner selbst wieder mehr gewiss werden und aktiv beginnen am gemeinsamen Miteinander zu weben.

© Andreas Kohlmann, 2006

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Literatur:

  • David J. Krieger. Einführung in die allgemeine Systemtheorie. München: W. Fink, 1996.
  • Johannes Weyer (Hrsg.). Soziale Netzwerke. München: Oldenbourg, 2000


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