3. März 2010 | Buchrezension

Die Krise als Normalfall

von Luise Dirscherl. München


„Welche Krise?“ Das sei letztlich egal, meint der Münchener Soziologe Armin Nassehi. In seinem gerade veröffentlichten Buch „Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys“ gehe es ihm vielmehr um die unvermeidliche Krisenhaftigkeit der modernen Gesellschaft.

Lesezeit 3 Minuten

Anders als andere Werke zeigt das neue Buch „Soziologische Storys“ von Armin Nassehi, Soziologie-Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, keine Lösungen für gesellschaftliche Krisen auf. Er versucht nicht einmal die Verantwortlichen einer Krise zu identifizieren. Für Nassehi ist der Ausnahmezustand in unserer hochkomplexen Gesellschaft vielmehr Normalfall. Schließlich basiert unsere Gesellschaft eher auf Konfrontation und Differenzen, die auch durch Kommunikation nicht ohne Weiteres beseitigt werden können.

Für Nassehi bietet sich hier eine Chance, wenn denn nicht mehr naiv nach der einzig richtigen Beschreibung oder Lösung gesucht werde. „Mir geht es um den Blick für Blicke“, sagt der Soziologe. „Warum erscheint die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven und Positionen so unterschiedlich, und warum verfangen wir uns in unseren eigenen Sichtweisen?“ In seinem Buch plädiert er für eine „entschieden liberale“ Haltung, wenn auch nicht in einem vordergründig politischen Sinne: „Wir müssen vielmehr Verständnis für unterschiedliche Weltzugänge entwickeln, also die verschiedenen Positionen verstehen – und uns in sie hineinversetzen.“

Die zentrale Frage in Nassehis „Soziologischen Storys“ ist, wie sich Menschen verhalten, wenn sie von verschiedenen Standpunkten aus miteinander reden, wenn sie ihren normalen Alltag leben, wenn sie Führungsaufgaben übernehmen, wenn sie mit Krisen konfrontiert sind oder die Gesellschaft verändern wollen. Treffen in Konfliktsituationen – fast zwangsläufig – unterschiedliche Perspektiven aufeinander, kann es kaum zu einer eindeutigen und einzig richtigen Lösung kommen. Das gilt schon für scheinbar banale Situationen, umso mehr aber wenn etwa Fragen nach dem freien Willen, nach Fremdheit und Toleranz zu klären sind, wie Nassehi in seinem Buch anhand von Beispielen beschreibt.
„Sehr oft haben sogar alle Beteiligten recht, wenn man ihren Kontext und ihre Perspektive berücksichtigt“, sagt Nassehi. „Das gilt auch, wenn sie radikal Unterschiedliches beitragen. Eine einzig richtige Beschreibung einer Situation zu erwarten, ist als Blick auf die Gesellschaft naiv – das wird der Komplexität unserer modernen Welt nicht gerecht.“

Früher sei die Gesellschaft wohl eher noch „aus einem Guss“ gewesen, vermutet der Soziologe. Der Sinn fürs Praktische habe damals wohl darin bestanden, zu tun, was getan werden musste – immer wieder gleich und jeder an seinem verordneten Ort. „Der Sinn fürs Praktische ist heute aber – im Wortsinne – ein Widersinn“, meint Nassehi. „Denn er muss sich angesichts einer Gesellschaft, die durch Verschiedenheit geprägt ist, inmitten einander entgegenstehender Bedeutungen, Interessen, Aufgaben und Anforderungen bewähren.“ Dadurch aber ergibt sich auch ein neuer Begriff von Professionalität und von Elite, bei dem es nicht mehr nur um die Kennerschaft auf dem eigenen Gebiet geht, sondern um ein aktives Rechnen mit anderen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Das mag den Verlust althergebrachter Steuerungskompetenzen und -phantasien bedeuten. „Es ist aber auch ein Gewinn, wenn der Umgang mit der Verschiedenheit und Differenziertheit der modernen Gesellschaft besser wird“, meint Nassehi. „Bislang reflektiert die öffentliche Diskussion gesellschaftlicher Themen, Probleme und Herausforderungen selten die grundlegende Multiperspektivität der Gesellschaft.“

Der Soziologe zeigt sich überzeugt, dass sich die drängendsten Probleme, von der Ökologie über die globale Ungleichheit, von der Demografie bis zur Weltfinanzkrise, von der Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln bis zur Energieversorgung der Zukunft nicht im Kampf um einen einzig richtigen Weg lösen lassen. Sehr deutlich zeigt sich dies auch in der medizinischen Praxis, in der zunehmend seltener von „Halbgöttern in Weiß“ die Rede ist. Denn hier stellen sich neue Aufgaben, für die es noch keine Routinen gibt, und Menschen müssen miteinander reden, die vorher arbeitsteilig effizient eingebunden waren. Selbst der Soziologe Nassehi steht dann manchmal für einen bestimmten Kontext und eine spezifische Perspektive – und wird auch so wahrgenommen. Das machte ihm nicht zuletzt ein befreundeter Arzt klar, der Sterbende begleitet und dabei neben medizinischen Fragen unter anderem auch juristische, seelsorgerische und ethische Aspekte berücksichtigen muss. „Ich habe erfahren, dass sich unsere Arbeit ändert, wenn wir den Mut haben, die eingefahrenen Zuständigkeiten in Frage zu stellen“, ließ der Palliativmediziner den Soziologen Nassehi eines Tages wissen. „Was meinst du, warum ich als Arzt sogar mit Soziologen rede?“

Publikation

Armin Nassehi, Mit dem Taxi durch die Gesellschaft. Soziologische Storys, Murmann Verlag, Hamburg, Februar 2010, ISBN 978-3-86774-095-1, 19,90 Euro

Profil: www.lmu.de

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