16. Juli 2007 | Lateinamerika

Kunst in Brasilien

von Brigitte Richter-Sandvoß. Köln


Während die Bereiche Tanz, Musik, besonders auch Capoeira als Ansätze brasilianischen Transfers in die globale Kultur vordringen, kann die Bildende Kunst allenfalls mit nur wenigen Werken neben anderen ihren Platz behaupten, die jedoch alle dem ästhetischen Transfer der westlichen Kultur verbunden sind. Brigitte Richter-Sandvoß fehlt gegenwärtig noch das Bekenntnis zu einer eigenständigen brasilianischen Ästhetik.

Lesezeit 3 Minuten

Auslösend und richtungsweisend für die Modernismus-Bewegung in Brasilien ist der Ästhetik-Transfer aus Europa (Paris). Die Bewegung  beginnt mit der ‚Semana de Arte Moderna’ in São Paulo 1922.

  • Aufbruch, Aufruhr  und Fragestellungen: Die futuristische und die primitivistische Linie bilden sich heraus.
  • Entwicklung bis Ende der 20er Jahre: Abgrenzung der beiden Richtungen Antropófago  (Oswaldo de Andrade)   vs.  Verdeamarelismo  (Menotta del Picchio u.a.), daneben die richtungsweisende Produktion von Mário de Andrade.
  • Sprachrohr der Bewegung ist die Zeitschrift Klaxon.

Als Paradigma gilt die Suche nach dem ursprünglich Nationalen im künstlerischen Ausdruck. Es beherrscht die Szene bis Mitte der 60er Jahre. 

  • Die Erneuerungstendenzen richten sich gegen den erstarrten Akademismus  und seine Ästhetik, setzen sich mit dem portugiesischen Erbe auseinander und davon ab, um das genuin Brasilianische herauszukristallisieren.
  • Gleichzeitig setzen sich die Bildenden Künstler und Kunstkritiker mit der Fragestellung nach der sozialen Funktion der Kunstproduktion sowie mit ihrem Publikum auseinander. Welche Möglichkeit hat der Bildende Künstler mit seinem Werk die Struktur einer ungerechten Gesellschaft zu verändern? Dieses soziale Engagement, das den Künstler zeitweilig zur militanten, politischen Aktion trieb – in Musik, Theater, Dichtung, in der Literatur, in der Bildenden Kunst und im Kino -, durchdringt nicht unbedingt sein gesamtes künstlerisches Werk. Häufig beherrscht die soziale Frage nur eine bestimmte Schaffensperiode, oder einzelne Werke des Bildenden Künstlers reflektieren gewissen Anlässe der politisch-sozialen Bewegung in seinem Umfeld.
  • In Brasilien sind drei fest umrissene Perioden erkennbar, in denen Bildende Künstler sich mit ihrem Werk sozial engagieren. Diese Perioden stehen sowohl mit der Rezeption europäischer Vorgaben als auch mit der eigenen politischen Landesgeschichte im Zusammenhang.

I.  Der künstlerische Ausdruck von Anfang der 30er Jahre bis Ende 1935.

II. Mitte des 2. Weltkriegs bis etwa 1956. (Auch Architektur und Stadtplanung)

III. Anfang der 60er bis zum Ende des Jahrzehnts.

Danach berührt die soziale Frage nur noch marginal das Kunstschaffen der Bildenden Künstler.  Noch Ende der 50er bis etwa 1969 zog die politische Situation mit politischen Unruhen viele Künstler in ihren Bann, indem sie Politik explizit zu ihrem Thema machten. Sogar die gewagten formalen Versuche, die aus den kosmopolitischen Metropolen kamen, wurden genutzt, um einen gewissen Sozialprotest voranzutreiben, wie es der ‚Tropicalismo’ [1] vorführte. Ausgelöst durch die Musik- und Liedermacher auf dem ‚Festival de Música Popular’  1967 in São Paulo erhebt sich die künstlerische Avantgarde gegen die nunmehr ‚konservative’ Meinung und Kritik des Modernismus. Die Bewegung des ‚Tropicalismo’ läutet den Paradigmenwechsel ein.

Das Paradigma der brasilianischen Selbstfindung aus dem Modernismus wird abgelöst vom Paradigma der Suche nach dem Platz, den die brasilianische  Kunst in der weltweit postulierten Massengesellschaft einnehmen wird. 

  • In der Massengesellschaft beherrschen neue Themen, Ausdrucksformen und Techniken die Kunstszene. Von den sozialen Brennpunkten der vorausgegangenen Periode bleibt nur der Fokus auf Sexualität übrig, ja wird sogar stärker. 
  • Die  Pop-Schule wurde Ende der 60er Jahre für die Bildende Kunst weltweit die bedeutsame Strömung von Erneuerung und Originalität, die Kollagen, thematische Mischungen, Mythen und Techniken der Konsumgesellschaft zum Thema hatte.
  • In Anlehnung an den Tropikalismus-Kult wurde die Richtung der Bildenden Kunst ‚Pop-Tropicalismo’ genannt. Diese Richtung wurde nicht marktbeherrschend, sondern sie existierte neben anderen sich herausbildenden auf dem brasilianischen Kunstmarkt.

Eindeutig hatte sich jedoch der ästhetische Transfer von Europa nach USA verschoben.

  • Für das brasilianische Kunstschaffen hat sich nach dem Paradigmenwechsel von der Introspektion des Modernismus zur Fokussierung auf die Massengesellschaft auch der Weg zur Globalisierung angekündigt. Welchen eigenständigen Platz die brasilianische Bildende Kunst in der globalen Kultur einnehmen wird, ist noch nicht zu ersehen.  Während die Bereiche Musik, Tanz, besonders auch Capoeira als Ansätze eines brasilianischen Transfers in die globale Kultur vordringen, kann die Bildende Kunst Brasiliens allenfalls mit zum Teil hervorragenden Werken neben anderen  ihren Platz behaupten, die alle noch dem ästhetischen Transfer der westlichen Kultur verbunden sind. 
  • Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem die globale Ästhetik aufgemischt wird, dürfte auch für die brasilianischen Bildenden Künstler die Rückbesinnung auf die ursprünglich brasilianische Ausdruckskultur – als Analogie zum Modernismus – an Bedeutung gewinnen, um in der Introspektion die eigene schöpferische Kraft wiederzufinden, die der regionalen Kultur das Publikum zurückerobert.

Noch fehlt das Bekenntnis zu einer eigenständigen brasilianischen Ästhetik. 

Sollte sich diese rechtzeitig herausbilden, könnte Brasilien auf  der gerade entstehenden   kulturellen Achse zwischen China, dem indischen Subkontinent, Afrika und den Golfstaaten mitmischen.

————————————————

Die Autorin 

Brigitte Richter-Sandvoss ist Sprachlehrerin für Deutsch als Fremdsprache und Portugiesisch mit langjähriger Tätigkeit im In- und Ausland (Brasilien, Portugal, Spanien), u.a. im Goethe-Institut. Ihre Schwerpunkte sind Berufs- und Wirtschaftssprache.

Fußnote

[1] Die Bezeichnung ‚Tropicalismo’ geht auf den Architekten und Bildenden Künstler, Hélio Oiticica, zurück, der Ende 1966 sein Umweltprojekt im Museum für Moderne Kunst, Rio de Janeiro, ‚Tropicalia’ nannte


Category: ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert