16. Juli 2007 | Künstler

Kunst und Wahnsinn

von Willi Kemper. Bielefeld


Die verrückten Maler in der psychiatrischen Klinik waren alle besser und in ihrem Ausdruck authentischer als die etablierten akademischen Künstler in Bielefeld. Die Kunst sollte sich endlich aus ihrer Erstarrung lösen.

Lesezeit 9 Minuten

Die Kraft, die in einer entwickelten künstlerischen Persönlichkeit steckt, kann groß und wunderbar sein. Der Mensch, der so eine Kraft in sich hat, kann der Gesellschaft immer wieder Impulse für ihre Lebendigkeit und ihre humane Organisation geben, ja diese Impulse wie selbstverständlich zum Programm machen. So entstehen Perspektiven für das Heute und das Morgen, alles bleibt in Bewegung und jeder kann an diesen Prozessen und Auseinandersetzungen teilnehmen. Leider besitzt die Masse der ausgebildeten Kunstmenschen nicht die Fähigkeiten und nicht die Einsichten, sich solchen Prozessen zu stellen und an ihnen mitzuwirken. Überall erlebe ich bei Künstlern Selbstverwirklichungsträume auf niedrigstem Niveau. Es ist eine akzeptierte Tatsache, dass sich künstlerisches Sein heute nicht mehr durch die Fähigkeit definiert, Leinwände gut auf die Keilrahmen zu spannen oder die Ölmalerei in Perfektion zu beherrschen.

Die Kunst der Reflexion hat die Kunst der Kunstfertigkeit überflügelt. Und die umfassende Reflexion kann Kunst entstehen lassen, aber gleichzeitig entstehen Fragen und Erkenntnisse und daraus Prozesse, die kaum ein Ende haben. So kommt der Künstler mitten ins Leben und dort muss er seinen Platz finden. Wie kaum eine andere Berufsgruppe haben die Künstler die Möglichkeit, sich selbst radikal zu ergründen und eine Position zur Welt zu finden. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich deutlich die neuen Möglichkeiten und Kompetenzen der Künstler.

Die Erscheinungsformen der bildenden Kunst und aller Beteiligten heute sind diffus und eigenartig. Auf der einen Seite boomt der kapitalistische Kunstmarkt und erreicht fast wöchentlich neue Rekorde. Andererseits findet die absolute Mehrheit der ausgebildeten Künstlerinnen und Künstler keine Basis, um von und mit der Arbeit durch Kunst leben zu können oder auch eine akzeptierte gesellschaftliche Rolle zu finden. Da wird viel geklagt und geschimpft, es wird nach Hilfe durch den Staat gerufen oder man wartet auf den endlich kommenden Durchbruch. Doch der kommt in der Regel nicht. Es fällt auf, dass die Mehrheit dieser „armen Künstler“ ihr Schicksal annehmen und es als gegeben ansehen. Mir fehlt bei ihnen fast völlig die Fähigkeit zur Analyse, zur rigorosen Bestandsaufnahme der eigenen Situation. Im Grunde leben sie in der sich rasant verändernden Welt immer noch das Künstlerideal des 19. Jahrhunderts. Und das ist illusorisch, das funktioniert nicht.

Der einfachste und schwierigste Weg für einen Künstler ist der zum Star im Kunstbetrieb. Einfach erscheint er deshalb, weil er einer gewissen Logik folgt und weil er als Traum bei fast allen jungen Kunstmenschen da ist. Schwierig ist er real, weil der Kunstmarkt in der heutigen Form noch nicht einmal einem Prozent der bereitwilligen Künstler die Chance gibt, auf diesem Feld ein Star zu werden. Und peinlich und unwürdig sind die Träume von Künstlern, wenn sie dann mit 50 oder sogar 60 Jahren immer noch an ihren Durchbruch zum Star glauben. Sie fühlen sich übersehen und verkannt, aber sie lassen die Hoffnung nicht fahren. Ihre Vorbilder sind van Gogh und andere arme Schlucker, die Zeitlebens keine Anerkennung fanden und heute durch ihre Arbeiten die Könige der Auktionshäuser sind. Solche Träumer unter den Künstlern gibt es zuhauf.

Mit diesem Text will ich ärgern und die ewigen Erwartungen und Vertröstungen als das deklarieren, was sie sind: Illusionen. Hört auf zu jammern, schaut euch eure Arbeiten an, macht eine Pause, macht euch bewusst, was ihr gemacht habt in all den Jahren. Und wenn ihr ehrlich seid, spürt ihr, wie ihr in den Konventionen steckt, wie ihr euch wiederholt, wie ihr euch zufrieden gebt mit wenig. Schmeißt die langweiligen und unehrlichen und kaum noch zu ertragenden Arbeiten weg, befreit euch von ihnen, macht euch frei. Ihr seid bei so vielen Moden auf den Karren gesprungen, viele eurer Arbeiten sind von euch selbst so weit entfernt wie der Mond von der Erde.

Die Muster der Vergangenheit tragen nicht mehr. Der Künstler steckt heute in einem offensichtlichen Dilemma: Er wird überhaupt nicht gebraucht und er wird dringender denn je gebraucht. Eine schwierige Lage, meist zu schwierig für einen einfachen Künstler.

Um diesen Widerspruch zu fassen und ihm Gestalt zu geben, muss zuerst die Frage gestellt werden, was ein Künstler ist, was er vermag, wie er sich sieht, welche Rolle er spielt oder spielen möchte. Ich will nicht fragen nach seiner Kreativität oder seinem künstlerischen Vermögen, das sind inzwischen abgegriffene Schlagworte, die den Künstler höchstens noch diskreditieren oder gar lächerlich machen. Kreativität ist kein Wert an sich, Kreativität wirkt nur in der Verzahnung mit dem Leben, der Gesellschaft, der Zeit.

Es gibt keine Rezepte zur Produktion von Kunst. Jeder der an solche Rezepte glaubt oder sie sich durch ein Studium der Malerei oder der Zeichnung aneignen will, gerät in eine Sackgasse. Zur Entwicklung des künstlerischen Menschen kann das Erlernen traditioneller Techniken und Fertigkeiten durchaus beitragen, nur diese Fähigkeiten reichen nicht mehr aus, um den Anspruch, Künstler zu sein, zu begründen. Nur an „Kunstfertigkeiten“ und „Techniken“ orientierte Künstler werden zwangsläufig zu biederen Trotteln.

Es ist nicht leicht, aus all diesen Erkenntnissen und Ärgernissen Wege aufzuzeigen, die ein neues Künstlerbild begründen können. Ich will es trotzdem versuchen: Der erste Schritt wird immer der des Innehaltens und der Analyse sein. Auch der Entschluss, die Produktion von Kunstwerken zu beenden, kann von Bedeutung sein und wie eine Befreiung wirken. Oft beginnt mit dem „Beenden“ die erste künstlerische, weil reflektierte Existenz. Die Existenz als Künstler begründet sich heute längst nicht mehr durch die Produktion von Kunst. Die hoch entwickelte Gabe der Beobachtung ist ein wunderbares Mittel, um Erkenntnisse zu gewinnen, Reflexionen zu betreiben, Welterfahrung zu verdichten, neue Wege zu finden und alte in ihrer Unbrauchbarkeit bewusst zu machen. All das, was ich da behaupte, bringt natürlich noch keinen neuen Job, noch kein neues Arbeitsfeld. Aber ich bin ganz sicher, dass in Zukunft die entwickelte künstlerische Persönlichkeit in vielen Gesellschaftsfeldern notwendige und vitalitätserhaltende Aufgaben übernehmen wird. Und das, weil andere Berufszweige diese Lebendigkeit und diese Authentizität nicht besitzen und auch nicht herstellen können. Aus diesen von Künstlern begleiteten oder in die Welt gebrachten Prozessen wird zwangsläufig Kunst entstehen. Es kann nur sein, dass der Künstler mit seiner Kraft zurückfällt hinter die neuen Künstler, die durch seine Arbeit erst zur Kunst kamen und sich dann so wunderbar entfalteten.
Die Chance, als entwickelte künstlerische Persönlichkeit einen Platz und eine Aufgabe zu finden, ist heute enorm groß. Der Künstler kann im besten Sinne Überzeugung und Faszination zusammen bringen.

Das Normale ist nicht Normal. Kunst ist nicht normal, wenn sie normal wäre, wäre sie keine Kunst. Kunst kann Erstarrungen lösen, eingefahrenen Strukturen ihre Bedeutung nehmen, Kunst kann böse sein und lächerlich machen, Kunst kommt gut mit Verrückten klar, Kunst ist verrückt. Der Künstler muss radikal wissen, wer er ist und was er vermag. Und wer nie an seine Grenzen geht oder darüber hinaus, kann kein Künstler sein. Der Künstler steht täglich neu vor der Welt und arbeitet daran, ein Verhältnis zu ihr zu bilden.

Für den alten bürgerlichen Galeriebetrieb und für die Rolle, die der Künstler darin spielt, kann ich keine neue Formel finden. Das ist nicht möglich und ist auch nicht mehr mit den Entwicklungen in der Kunst auf der breiten Ebene in Einklang zu bringen. Kunst als Ware und Handelsobjekt ist mir zu wenig. Die Künstler müssen sich über ihrer veränderte Position und die sich daraus ergebenden Chancen Klarheit verschaffen. Jeder sollte in den Prozess einsteigen, die alten Positionen werden brüchiger. Wir erleben eine Zeit des Umbruchs, das Alte ist nicht mehr möglich und das Neue muss Gestalt bekommen. Die sich entwickelnden künstlerischen Persönlichkeiten werden den Weg finden.

Der Bereich „Kunst und Psychiatrie“. Erfahrungen, Ahnungen, Deutungen.

„Die verrückten Maler in der psychiatrischen Klinik waren alle besser und in ihrem Ausdruck authentischer als die etablierten akademischen Künstler in der Stadt“. (Ein bekannter Sammler nach dem Besuch des Künstlerhauses).

Diese Aussage ist sicher überspitzt, gibt aber einen Eindruck wieder, der sich durch die Konfrontation mit unerwarteten und völlig aus den ästhetischen Erwartungshaltungen künstlerischer Produktion ausbrechender Werken einstellte.

Der psychisch kranke Künstler kann kein Vorbild oder Ideal für künstlerisches Vermögen sein. Jede psychische Erkrankung nimmt den Menschen die wunderbare Fähigkeit der vollen Entfaltung. Und trotzdem stehen wir vor dem Phänomen, dass durch ein psychisches Leiden oft erst ein Mensch zu Ausdrucksvermögen von ungeahnten Ausmaßen kommt. Auf der Suche nach Erklärungen wird schnell deutlich, wie stark heute alle Lebensbereiche des Menschen reglementiert und durch genau definierte Erwartungshaltungen geprägt sind. Diese „Erziehung zum brauchbaren Menschen“ begleitet den Lebensweg und lässt viele wunderbare Fähigkeiten, die in jedem einzelnen stecken, gar nicht zum Ausdruck kommen.

Diese Fähigkeiten wollen aber heraus, sie wollen Gestalt annehmen, der Mensch will sich entfalten, er will begreifen, wer er ist, was er vermag. Seine Sehnsüchte sind ferne Ahnungen von dem, was möglich sein könnte.

Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Anforderungen (und Einengungen) und der notwendigen eigenen Entfaltung erzeugt in vielen Menschen extreme Gefühle von Unbehagen, Stress, Wut, Aggression, aber auch Lethargie oder körperliche Erkrankungen. Aus so einer Situation heraus ist der Weg zu einer psychischen Erkrankung oft nicht weit

Der psychisch kranke Mensch ist vielfach vollbeladen mit verdrängten Bildern, Sehnsüchten, Erinnerungen, Ahnungen etc. Diese riesige Packung von gespeichertem, aber nie ausgepacktem „Vermögen“ will heraus, will sichtbar werden, will Gestalt gewinnen. Zuerst ist alles Durcheinander, ein großes Wirrwarr, und so sind die Kunstäußerungen, die dann, wenn sich so ein Mensch künstlerisch betätigt, wirr und rätselhaft. Beflügelnd ist oft die Selbstverständlichkeit, mit der die Dinge Gestalt annehmen. Wenn sie erst einmal in Fluss kommen, laufen die Prozesse oft ganz ohne Angst und fast automatisch. Und mit der Zeit kommt auch wieder Ordnung in das Wirrwarr, fast immer ohne Plan, aber es bildet sich etwas heraus, was dem Einzelnen ganz spezifische ist, eben sein Eigenes. So entstehen Wege zu sich selbst. Für einen psychische erkrankten Menschen ermöglicht erst die Akzeptanz seiner Krankheit den Beginn einer Selbstfindung. Die künstlerische Arbeit ist für viele psychisch erkrankte Menschen ein wichtiger Weg zu sich selbst und sie kann einen entscheidenden Beitrag auf dem Weg zur Verbesserung des seelischen Gleichgewichts leisten.

Ich bin nicht der Meinung, dass Kunst und Wahnsinn Verwandte wären. Trotzdem gibt es Parallelen und Ähnlichkeiten, über die nachzudenken sich lohnt. Die volle Entfaltung der Persönlichkeit ist nur denkbar in der Überwindung von Angst und Anpassung; und natürlich in der Sichtbarmachung der emotionalen Welt. Nur wenn Gefühl und Verstand zusammenwirken, wird menschliche Entfaltung in all ihren Möglichkeiten wirksam. Sie stärkt das Selbstverständnis der eigenen Existenz und den Mut, sich voll und ganz zu zeigen.

Mein Text bleibt ein Fragment, wirft Fragen auf, sucht nach Erklärungen, teilt Erfahrungen mit. Er soll Bewegung erzeugen, den Status quo in Frage stellen, Lust auf Leben hervorrufen.

Zuletzt der Teil eines Beitrags, den ich für den Katalog einer Ausstellung mit Werken psychisch kranker Künstlerinnen und Künstler schrieb, die im vorigen Jahr mit großem Erfolg in 7 japanischen Städten gezeigt wurde:

Alle Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung suchen ihre Spuren, immer wieder. Und sie kommen ihren Spuren nahe. Mit Spuren meine ich die ureigenen Bewegungen, Rhythmen, Formen, Farbbilder, Geschwindigkeiten und alle Regungen, die uns ausmachen und in uns stecken und die wir immer besaßen oder die im Laufe des Lebens dazugekommen sind. Und solche Spuren können nur wirksam bildhaft werden, wenn Unmittelbarkeit entsteht, wenn sich der Mensch ganz öffnen kann, wenn sein Fluss nicht gestaut wird. Und der Fluss, der die reichen, individuellen und subjektiven Bildspuren und Ausdrucksgeflechte entstehen lässt, wird ganz sicher aus der Welt der Gefühle gespeist. Jede künstlerische Arbeit benötigt Emotionen, Unwägbarkeiten, Ahnungen, Entdeckungen, Annäherungen. Dazu gehört die Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, auf die Gefühle zu hören, ihre Kraft zu benutzen. Gefühle sind eine Triebfeder für jede Form von Kunst. Der Künstler verwandelt seine Emotionen und gibt ihnen Gestalt.

© Willi Kemper, Juli 2007

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Zum Autor

Willi Kemper. Foto: privat

Willi Kemper hat in den sechziger Jahren Malerei, Bildhauerei und Architektur studiert, Anfang der siebziger noch einige Semester Kunstgeschichte und Publizistik. Danach war er lange Jahre freiberuflicher Künstler und erfüllte Lehraufträge für bildnerische Darstellung und Gestaltungslehre an der FH Dortmund, Abtlg. Design. Seit 1992 leitet er das Künstlerhaus LYDDA in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld.
Bethel ist eine sehr große karitative Einrichtung mit vielen Aktivitäten und Standorten. Das Künstlerhaus LYDDA gehört zum ursprünglichen Bethel, einer großen Ortschaft am Rande der Innenstadt Bielefelds. Hier leben ca. 2000 Menschen mit Behinderungen vielfältiger Art.



2 Antworten zu “Kunst und Wahnsinn”

  1. Sehr geehrter Herr Kemper
    Die Kreativität des Menschen ist der WERT,der ihn zu dem macht,was er ist,sonst wäre er kein Mensch.Ich rate Ihnen dringend eine Therapie zu machen.

  2. Sehr geehrter Herr Kemper,
    ein wirklich sehr interessanter Ansatz.Alle Menschen sind Kreativ,sonst wären es keine Menschen.Mir scheint hier ein universelles Problem vorzuliegen.

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