5. Juli 2006 | Kunstpädagogik

Jeder Schüler ist ein Künstler

von Tom de Toys. Berlin


Rütli-Report – ein didaktischer Erfahrungsbericht von unten…

Lesezeit 4 Minuten

Wie lassen sich 14-jährige Hauptschüler zu ihrer eigenen Kreativität und nicht aufgezwungener Konzentration motivieren?
Oder anders gefragt: Wie kann man eine Horde von hyperaktiven Migranten-Teenies wenigstens einmal pro Woche soweit von ihren pubertären Sprüchen ablenken, dass sie eine gewisse Freude dabei empfinden, großformatige Buchstaben, Wörter und ganze Gedichtzeilen mit Buntstiften, Wasserfarben und Schablonen auf Tonpapier und Eierkartons zu malen und zu kleben?

Ulrike Baade, Kunstlehrerin in der Klasse 7.2 der Neuköllner Rütlischule, warnte mich glücklicherweise vor, unser Projekt ohne literarische, ästhetische oder gar philosophische Erwartungen durchzuführen, sondern den Schwerpunkt auf das handwerkliche Geschick der Schüler zu legen – und das war gut so!

Von Mitte März bis Mitte Juni 2006 konfrontierten wir fast jeden Mittwoch zwischen 5 und 15 Schüler in der wöchentlichen Kunstdoppelstunde (außer in den Osterferien und an jenem Mittwoch, als sie in der Arena mit der amerikanischen Tanztruppe eine eigene Show aufführten) mit möglichst abwechslungsreichen visuellen Sprachspielen und waren schon dankbar, wenn am Ende der Stunde tatsächlich kleine, farbenfrohe Werke mit Textauszügen von Omar Khajjam, Heinrich Heine, Joseph Beuys, einem Schüler selber sowie von mir auf den Tischen lagen bzw später museal eingerahmt an den Wänden der Schulflure hingen. Meistens waren wir nämlich die erste Stunde lang nur damit beschäftigt, ihnen die Aufgabe indirekt schmackhaft zu machen, indem wir unverarbeitete Erlebnisse aus den vorherigen Fächern interaktiv ausklingen und die allgemeine Unruhe abebben ließen, spontane Streitigkeiten schlichteten, immer wieder die Sitzordnung änderten und zwischendurch vorsichtig mit themenzentrierten Fragen lockten, um die Aufmerksamkeit langsam dahin zu lenken, dass ihre ureigene Inspiration und Fantasie nun gefragt sei. Dabei half uns eine PÄDAGOGISCHE DOPPELTAKTIK, die sich automatisch aus dem Zusammenspiel unserer unterschiedlichen Funktionen ergab, und die wir im Laufe der Wochen verfeinerten und variierten:

Ulrike Baade war in der permanenten Rolle der Lehrerin zunächst einmal nur die „Unbeliebte per se“, weil ihre Verantwortungsroutine ein gewisses Maß an autoritärer Strenge verlangte, während ich mir in der temporären Rolle als externer Künstler leisten konnte, mit größerer Lockerheit und kumpelhafter Geduld auf die teilweise nervtötenden und penetranten Pubertätsreflexe (die mir aus meiner eigenen Jugend als absolut menschlich normal vertraut sind) zu reagieren. Manchmal ergaben sich allerdings derart emotional

beladene Situationen, dass es sich als günstig erwies, unsere Rollen zu verwischen oder sogar zu vertauschen: Wenn dann die Kunstlehrerin in einem angespannten Moment größter Unaufmerksamkeit (besonders an den immer heißer werdenden Sommertagen) Scherze machte und die Schüler eine ungewöhnlich lange Zeit wohlwollend gewähren ließ, während ich einzelne mit ungewohnt strenger Stimme daran erinnerte, mich genauso respektvoll zu behandeln wie ich auch umgekehrt für sie „da bin“, traten manchmal geradezu hypnotische Effekte ein. Die brutale, typische „Coolness“ der unter Selbstverteidigungsstress stehenden Heranwachsenden wirkte dann plötzlich wie von Geisterhand weggeblasen, und der eben noch völlig chaotische, undisziplinierte Haufen verwandelte sich in eine seelenruhig in sich versunkene Gruppe malender „Kinder“.

Diesen Verwandlungsprozess galt es, jede Woche aufs Neue einzuleiten, um die oft unerwarteten „Dochnoch“-Ergebnisse zu ermöglichen, mit denen wir beide letztlich zufrieden waren. Jeder Schüler gestaltete mehrere Arbeiten in seiner eigenen künstlerischen Handschrift und übte im Laufe des Projektes immer wieder grundlegende Wahrnehmungs- und Umsetzungsstrategien: Korrekte Orthografie, realistisches Abschätzen der Bildkomposition, Verständnis des poetischen Textes sowie der Bedeutung einzelner Wörter und nicht zuletzt der soziale Respekt vor den Mitschülern und deren Werken. Die Abschlussrunden am Ende manch einer Doppelstunde mit gemeinsamer Betrachtung und Bewertung aller Werke erhöhte dabei die Sensibilität für das eigene Verhalten und die Akzeptanz der wertfreien Andersartigkeit der anderen Werke. Auffallend war leider trotzdem, wie schnell die Schüler insgesamt aus dem Unterricht flüchten wollten, ein subtiler Hang zum Überfordertsein und allgemeinem Desinteresse schien wie eine kollektive psychische Infrastruktur, gegen die man ständig anrennen musste, um die Schüler überhaupt zu „erreichen“, ganz gleich wie begeistert sie letztlich dann doch immer waren – typisch Jugend eben!
Am Ende der drei Monate waren Ulrike Baade und ich uns einig: Die Schüler verfügen über ein großes, überraschendes kreatives Potenzial, das allerdings wesentlich individueller und zeitintensiver gefördert und gepflegt werden müsste, als es der herkömmliche Unterrichtsplan erlaubt. Ich persönlich hatte das Gefühl, an der Spitze eines unsichtbaren Eisberges zu kratzen, der in den Fluten des hektischen Schulalltages treibt und dadurch leicht verborgen bleibt. Sobald sich die Schüler ernst genommen fühlen und genügend Muße vorhanden ist, um ihnen zuzuhören und sie in ihrer akuten Stimmung „abzuholen“, lässt sich ihre ungezügelte Power in kreative statt kriminelle Bahnen lenken.
Ich glaube darum wieder einmal stärker an die Sehnsucht junger Menschen, bei sich selbst „ankommen“ zu wollen, ein sinnstiftendes Selbstbewusstsein und soziales Verhalten zu entwickeln, wenn sie nur selber auch gemäß ihrer menschlichen Würde behandelt werden! Und ich bin mir nun noch sicherer, dass SCHULE AN SICH einen großartigen Beitrag dazu leisten kann, wenn sie nur genug Spaß macht, indem sie Themen anbietet und Methoden anwendet, die zur authentischen Förderung des Individuums dienen.

© Tom de Toys, 05.07.2006


wulle.de/GGN/TomDeToys/lebenswerk.html. Link veraltet. 4.4.24


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