18. Oktober 2004 | Stories aus der Hartz IV-Gesellschaft

Das Vorstellungsgespräch

von Davide Brocchi. Köln


In der heutigen Gesellschaft werden nicht nur die Profite ungleich „privatisiert“, sondern auch die Kosten und die Probleme. Eine Geschichte aus dem Alltag.

Lesezeit 20 Minuten

Meine x-te Bewerbung ging an ein so genanntes Call-Center. Vier Tage später bekam ich die Einladung zum Vorstellungsgespräch, das zweite Vorstellungsgespräch in einem einzigen Monat! Ich freute mich, hatte nämlich wieder eine Hoffnung, an der ich mich festhalten konnte, zumindest vorübergehend.

Zulange hatte ich mich mit dem planbar Nötigsten gerade über Wasser halten können. Das Ungeplante brachte mich immer wieder unter den Pegel der Überlebensfähigkeit: Das kaputtgegangene Fahrrad, mein einziges Transportmittel, die Jahresabrechnung der Stadtwerke, die Kleidung, die älter und älter wurde. An Urlaub oder Extras dachte ich schon lange nicht mehr und auch das Sozialleben musste unter dieser Situation leiden. Ich schaffte es gerade mal, ein paar schöne Momente mit meiner Freundin Julia zu verbringen, das Mindeste, um zusammen zu bleiben. Trotzdem häuften sich die Konflikte zwischen uns. Julia hatte einen Beruf und ein regelmäßiges Einkommen. Sie könnte sich viel mehr leisten, als ich und wahrscheinlich auch als mich. Manche Wünsche musste Julia verdrängen, nur der Beziehung zuliebe: Das fiel ihr nicht immer leicht. Auf jedem Fall wollte sie auf ihren nächsten Urlaub nicht verzichten. Ihn musste sie jedoch wieder allein planen.

Insbesondere das Thema „gemeinsame Perspektiven“ sorgte für ständigen Streit: Ich hatte ganz andere und dringendere Probleme zu lösen, als über die gemeinsame familiäre Zukunft zu reden! Wenn Julia vor Zorn explodierte, dann warf sie mir oft meine eigene Arbeitslosigkeit vor: „Vielleicht liegt es ein bisschen auch an dir selbst!“, „Vielleicht machst du etwas falsch!“, „Vielleicht machst du nicht genug!“, „Vielleicht weißt du nicht genau, was du in deinem Leben möchtest!“ Dabei fühlte ich mich wie ein Versager, das tat weh und machte mich gleichzeitig wütend: „Wenn du mich lieben würdest – antwortete ich – dann würdest du zu mir stehen, an mich glauben, auch in solchen Momenten, wo ich selbst schon verzweifelt bin! Was bist du denn für eine Freundin?! Glaubst Du, dass es mir Spaß macht, so zu leben? Meinst du nicht, dass ich schon alles versuche, um aus dieser Scheißsituation raus zu kommen? Für jeden Berufstätigen wie du ist es sehr einfach, einem Arbeitslose zu sagen, was er alles falsch macht. In meiner Situation muss ich mir von jedem sagen lassen, wie, wo und wofür ich leben soll, was ich Wert oder nicht Wert bin! Ich fühle mich wie ein Blatt in dem Wind! Ich werde dir es aber zeigen: sobald ich einen Job finde, verlasse ich dich! Du kannst mich mal!“

Meine Wut richtete sich nicht nur gegen Julia, sondern auch gegen diese ganze ungerechte Welt: Hätte ich mir eine Arbeitslose als Freundin suchen sollen? Jemand der für meine Situation mehr Verständnis hat? Mein eigenes privates Ghetto bilden? Wer sollte nach der Trennung den Umzug finanzieren? Welche Vermieter hätte einen Arbeitslosen als Mieter akzeptiert? In meiner Situation hätte ich mich nicht einmal trennen können, nicht einmal umziehen, wenn es so weit gekommen wäre. Noch schlimmer: Wenn ich in den nächsten Wochen keine Arbeit gefunden hätte, dann wäre der Schritt zum Sozialamt unvermeidbar gewesen. Neben meinem Einkommen hätte ich dort auch Julias Einkommen angeben müssen: Ich hätte weniger Sozialhilfe bekommen; Julia wäre dazu gezwungen worden, für mich finanziell zu sorgen. Und das wäre sehr unangenehm gewesen, für mich aber auch Julia gegenüber. Was für eine staatliche Idiotie: Wie kann man Menschen per Gesetz dazu zwingen, von einem anderen freien Mensch abzuhängen, ohne seine Einwilligung, nur weil zwei seit ein paar Jahren Liebe machen?

In der postmodernen Gesellschaft, wo Flexibilität und Mobilität in jeder Stellenanzeige und in jeder Arbeitsmarktreform ganz groß geschrieben werden, machte mich die Arbeitslosigkeit und die latente Armut immer unbeweglicher. Mir fehlte das Geld für jede Reise außerhalb Düsseldorf, für jedes Risiko, für jede Investition aufs Neue, für Weiterbildung, praktisch für jede Lebensveränderung. In dieser scheinbar freien Gesellschaft bekam ich keine Chance, mich von diesem sozialen Gefängnis zu befreien.

Allmählich machte sich bei mir das Gefühl breit, in einem ewigen Kreis eingeschlossen zu sein, einem Kreis von Bewerbungen und Absagen, von Kontaktversuchen und Ablehnungen. Meine psychische Energie gab zunehmend nach, ganz aufgeben wollte ich aber nicht. Eine leise innere Stimme versuchte mich immer wieder aufzuklären und aufzumuntern: „Jede Interpretation und Bewertung der Realität ist subjektiv, eine Privatsache, die keinen wirklich interessiert. Es lohnt sich positiv zu denken: Alles andere bringt gar nichts, du machst dich nur selbst fertig. Die Lösung des Problems liegt bei dir, du wirst es schaffen, so schwer kann es nicht sein: du hast studiert. Du bist erfahren. Du bist intelligent. Du bist engagiert. Du bist lernfähig…“

Solche positive Gedanken brachten mir einen instinktiven Schub an Existenzkampfenergie. Gleichzeitig deuteten solche inneren Schlagaustausche darauf, dass Schizophrenie oder Depression für mich keine Krankheiten mehr waren: Sie waren zum gewöhnlichen Teil meines Alltags geworden.

Den Termin hatten wir für 15 Uhr vereinbart. Ich hatte noch vier Stunden Zeit, um mich vorzubereiten. Was machte diese Firma, die den Namen ABC-System Europe trug?
Ich machte den Computer an, um mir deren Webseite anzuschauen.

Die ersten Informationen waren wenig motivierend. Die Weltzentrale von ABC-System International lag in Dallas, dort wo Kennedy 1963 umgebracht wurde. ABC-System Europe war also Teil eines amerikanischen Unternehmens, und zwar seit erst sechs Monaten. Vorher trug sie einen anderen Name und war eine Abteilung von Semmler, dem bekannten deutschen Kommunikationsunternehmen.

Über Amerika hatte ich schon in Italien wenig Gutes gelernt. Seit dem Zweiten Weltkrieg übte die amerikanische Regierung einen starken Einfluss auf die italienische Politik aus. Wenn dies nicht ausreichte, um das Land zu kontrollieren, dann kamen die Geheimeinsätze, die Spannungspolitik und die Bildung von unsichtbaren Machtnetzen wie die der so genannten P2-Loge, zu der Leute wie Silvio Berlusconi gehörten.
Dallas war die Hauptstadt von Texas, dem herzkonservativen US-Staat der Familie Bush. Dort wurden die meisten Todesstrafen der USA verhängt. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren der größte Waffenexporteur der Welt, kein anderes Land war seid dem zweiten Weltkrieg in so vielen Kriegen verwickelt wie sie. Mit dem Krieg in Irak rüttelten sie sehr stark an der ONU und dadurch an der internationalen Ordnung. Wichtige internationale Verträge wie der des Kyoto-Protokolls, gegen die Verbreitung von Minen oder von ABC-Waffen, internationale Institutionen wie der Gerichtshof in den Haag wurden von der amerikanischen Regierung einfach boykottiert. Wie könnte man für ein solches arrogantes Land arbeiten? Und zwar nicht für irgendwelches Land, sondern für das mächtigste Land der Welt überhaupt, ein Land das sich ständig als Modell für alle andere Staaten der Welt durchsetzen wollte?

Amerikanische Unternehmen galten als ziemlich unsozial. Für ein ausländisches Unternehmen zu arbeiten, das in Deutschland nur Profit machen wollte, ohne sich an dessen Menschen, Kultur und Umwelt gebunden zu fühlen, all dies sorgte bei mir für ein mulmiges Gefühl.

„Fromme Gedanken, mein lieber Roberto Mastroianni – meldete sich meine innere Stimme wieder – Ein Arbeitslose wird aber nie als Held oder als Christ sterben dürfen. Du bist und bleibst ein Niemand, keiner wird dich ernst nehmen, so lange du keine glaubwürdige Antwort zu der Frage ‚was machst du?‘ haben wirst. Bekannter weise werden die Menschen über ihr Haben be- und verurteilt, nicht über ihr Sein. Wenn du als Arbeitslose eine Arbeitsstelle ablehnst, dann entsprichst du sicher einem der verbreiteten Klischee: Arbeitslosen sind irgendwie Selbstschuld an ihrer Situation; Arbeitslosen sind faul; Arbeitslosen sind Lebenskünstler; Arbeitslosen sind arme und kranke Menschen, die sich selbst gefährden… Alles anderes interessiert keiner.“
Ah ja, du bist ein Idealist… Idealist ist derjenige, der sich mit der Realität nicht auseinandersetzen möchte oder kann. Idealismus ist in dieser Gesellschaft nur dann eine Tugend, wenn man sich es leisten kann.

Noch drei Stunden bis zum Termin. Ich sah noch so leimig aus, in Jogging-Hosen, unrasiert, halb verschlafen. Duschen und das Bestmöglichste anziehen, eine Maske, eine Rüstung, ein Habitus: Das war nun angesagt!
Es war so, als ob ich zu einem romantischen Blind-Date gehen würde. Jede „attraktive Arbeitsstelle“ möchte doch wie eine selbstbewusste Frau erobert werden, oder? Sie möchte sich begehrt fühlen, und gleichzeitig eine gewisse Willensstärke und Standhaftigkeit bei ihrem Verehrer spüren. Neben einem Beweis der ewigen Treue sollte den Eindruck vermittelt werden, dass es sich bei diesem Verehrer um einen Mitarbeiter handelt, den alle andere Arbeitsstellen gerne hätten, jemand der die Wahl hat und sich deshalb bewusst entscheiden kann. Bloß keine Wahrheit sagen, so etwas wie „Sie sind meine letzte Chance! Keine andere Arbeitsstelle möchte mich haben!“
Selbst wenn man froh wäre, überhaupt ein Gehalt zu bekommen, sollte man sich nicht unter Preis verkaufen, sondern möglichst hoch: „Käufer“ verwechseln nämlich gerne die Hohe des Preises mit der Hohe der Qualität, selbst wenn die letzte getäuscht wird. Wofür bräuchte man ansonsten Werbung?

Es gibt keine bessere Schauspielschule als die der Arbeitslosigkeit – fantasierte ich weiter. Jedes Vorstellungsgespräch erfordert die volle Identifikation mit einer neuen Rolle auf einer neuen Bühne. In wenigen Stunden hätte ich den geborenen Call-Center-Agenten gespielt. Morgen, beim nächsten Vorstellungsgespräch, vielleicht den Sozialforscher, der nichts anderes möchte, als Verbraucher befragen, auf der Straße, über den Geschmack der neuen Schokolade „Torrini“. Ich hätte die Prüfer eines Logistikunternehmens genauso gut davon überzeugen können, dass ich nur davon träume, jeden Tag Kartons und Päckchen zu tragen – und zwar tonnenweise und ohne Pause: „Es würde mir einen Riesenspaß bereiten!“ Und wenn ich auch da durchfalle, werde ich den Event-Manager spielen: „Mein Leben sieht wie ein Unternehmen aus, das ich bis zum Detail organisiere. Ich habe immer alles unter voller Kontrolle, dazu bin sportlich und schön, kann Deutsch, Italienisch und Englisch, bin kommunikativ und natürlich kreativ, belastbar, flexibel, ledig, verlässlich, verantwortlich, erfahren, ausgebildet, kann aber lernen, bin natürlich neugierig und voll kundenorientiert!“
Sobald ich ein Vorstellungsgespräch bestehe und die Stelle bekomme – dachte ich – habe ich die Prüfung als Schauspieler bestanden. Solange man aber diese Prüfung nicht besteht, bleibt man ein tragikomischer Clown, den keiner ernst nimmt, den jeder verarschen darf.

Der Düsseldorfer Sitz von ABC-System Europe glich allen postmodernen funktionalistischen Bürogebäuden, ein ästhetischer Ausdruck der grauen Seele des Wirtschaftens als rationalen Verhaltens: Kapitalistischer Plattenbau aus Beton und Glas, ziemlich kalt und künstlich, steril, effizient, auf geometrischer Weise dumm, gefühllos.
Im Foyer roch es nach neuen Möbeln, viele Räume standen noch leer. Die Empfangsdame bat mich, Platz auf dem schwarzen Ledersofa zu nehmen. „Frau Braunling kommt gleich zu ihnen“, sagte sie.
Frau Braunling erschien wenige Minuten später, eine pummlige Frau Ende vierzig. Sie hatte sich hart auf die Position der Personalsachbearbeiterin gearbeitet. Das sah man ihr an. Sie wirkte streng und konservativ. Sie kam nicht allein: „Guten Tag, Herr Mastroianni! Ich bin Herr Canata. Der Name hört sich italienisch an, jedoch bin ich, wie sie sehen, kein Italiener. Bitte folgen sie uns.“

Der Besprechungsraum war klein, weiß gestrichen, mit einem Fenster zum gepflegten Hof und einem runden Tisch in der Mitte. Herr Canata führte das Gespräch. Seine ironische Offenheit war typisch für erfahrene Menschen in Führungsposition, die sich mehr als andere erlauben dürfen: „Herr Mastroianni, ich werde bald in Rente gehen. Vielleicht verbringe ich ein paar Tage meines langen Urlaubes in Rimini. Sie kommen doch aus Rimini, oder?! In den sechziger Jahren war ich jedes Jahr dort, Cesenatico, Cattolica, Riccione…“
Das Lächeln von Frau Braunling verkrampfte mehr und mehr. Sie traute sich nicht, ihren Chef zu unterbrechen. Als er eine kurze Pause machte, ergriff sie prompt das Wort. „Herr Mastroianni, was wissen sie über unser Unternehmen?“
„Sie bieten Telematik für die Autoindustrie. ABC-System Europe gehörte mal zu dem großen deutschen Kommunikationskonzern Semmler, der letztes Jahr in die Schlagzeilen geriet, wegen der feindlichen Übernahme durch Defatel…“
„Nein, das ist nicht ganz richtig! – unterbrach mich Herr Canata – zu Semmler gehörten wir zwar,…“. „Ja, jetzt gehören Sie zu einem amerikanischen Unternehmen mit Sitz in Dallas“ – ergänzte ich schnell, bevor den Eindruck entstehen konnte, dass ich nicht ausreichend informiert war.

Herr Canata erzählte die Geschichte der feindlichen Übernahme in allen Details: „…Chaos ausgebrochen….Ungewissheit unter den Mitarbeitern…Defatel interessierte sich wenig für unsere kleine Abteilung sowie für die Dienstleistungen im Gebiet der Telematik. Das passte nicht in dessen Konzept und sie verkauften uns…“ Er schnappte nach Luft. „Wissen sie es, Herr Mastroianni? In unserem europäischen Vorstand sitzen drei Amerikaner und ein Deutscher. Die Amerikaner haben wenig Verständnis für Europa, für diese bürokratischen Sozialsysteme, die jedes freie wirtschaftliche Handeln verhindern. Sie fragen sich, wie es überhaupt möglich ist, dass ein Unternehmer nicht alles tun darf, so wie das in den USA der Fall ist. Gesetze wie hier, für den Schutz der Arbeitnehmer oder für die Begrenzung der Arbeitszeit, gibt’s da nicht. Am meisten schütteln sie den Kopf über Betriebsräte. Wir haben sehr lange gebraucht, um ihnen klar zu machen, dass es hier in Europa anders funktioniert. Sie wollten es nicht verstehen. „.

Der Ton von Herrn Canata bewegte sich zwischen kühler Monotonie und erfahrenem Stolz. Dabei kam keine moralische Bewertung rüber. Für ihn gab es eine einzige Realität ohne Alternativen – und zwar die gegebene Realität. Herr Canata war bestimmt ein guter Manager, der funktionieren und aus jeder neuen Situation Kapital schlagen konnte. Dafür erwartete er fast Anerkennung: „Nach der Übernahme mussten die Beschäftigen unserer Abteilung ihre Einstellung zur Arbeit stark ändern. In der neuen Situation war der volle Einsatz von jedem gefragt. Es hat sich gelohnt. Wir stellen immer noch ein! Welches Unternehmen kann das heute von sich behaupten? Wir erwarten von unseren neuen Mitarbeitern volle Einsatzbereitschaft und Flexibilität. Wir dürfen unsere Kunden nicht verlieren!“.
Frau Braunling sprang hastig in die entstandenen Pause: „Erzählen sie etwas über sich, Herr Mastroianni.“
„Ich lebe seit zwölf Jahren in Deutschland, habe in Bologna und Düsseldorf Politik- und Sozialwissenschaften studiert, ein paar Jahre Philosophie und Psychologie…“ Herr Canata blickte mich feindselig an. „Was macht man mit so einem Studium? Maschinenbau oder Medizin, darunter kann ich mir etwas vorstellen, ein klares Ziel, aber Soziologie, Philosophie? Bestimmt nur viel schwatzen, wie?“
Ich war irritiert. Ich war auf Provokationen dieser Art nicht vorbereitet. Bloß nicht emotional reagieren, hämmerte ich mir ein. Diplomatisch bleiben!
„Selbst Ingenieure, Manager oder Mechaniker – erwiderte ich – müssen miteinander kommunizieren. Sie müssen Bücher lesen, Worte verstehen, die Namen der Maschinenteile kennen, um sie wieder zu erkennen. Jede Anweisung besteht aus Worten, in der Soziologie wie in ihrem Unternehmen. Wenn Kommunikations– und Informationssysteme nicht funktionieren, funktioniert der ganze Betrieb nicht…. Diese Systeme sind aber keine Maschinen, sondern bestehen aus Menschen, sie werden von Menschen geschafft, bedient und kontrolliert. Deshalb braucht man auch Soziologen oder Philosophen, weil sie sich mit Menschen, Gruppen und Kommunikation beschäftigen – und nicht nur mit Zahlen und Chemikalien. Lieber Herr Canata – sagte ich mit einem Stück italienischer Ironie, unter erwachsenen Männern sozusagen – vielleicht haben sie eine Familie… dann wissen sie auch, dass die Welt nicht nur wie eine Maschine funktioniert – und das ist ihnen wie ihren Mitarbeitern Recht so, oder?“
„Sie haben ziemlich lange studiert. Sieben Jahre“, unterbrach mich Herr Canata. „Haben sie studiert, weil sie keine Lust zum Arbeiten hatten? Bei Studenten von solchen leichten Studiengängen ist es oft der Fall…“
„Ich lebe seit 1992 in einem Land, das damals für mich fremd war und mich deswegen interessiert hatte. Mit 22 habe ich meine Eltern und meine Freunde verlassen, sie leben alle in Italien. Es war freiwillig, aber alles andere als bequem. Ich habe studiert und gearbeitet. Weil ich immer gearbeitet habe, dauerte das Studium länger. Allein mit Büchern hätte ich nicht überleben können! Nein, ich habe studiert, weil mich diese Fächer interessiert haben, weil ich… Ich finde gut, dass es mutige Menschen gibt, die ihre Entscheidungen nicht nur nach Karriere und Geld richten“.
„Wieso haben sie sich bei uns als Call Center Agent beworben?“ schnitt Frau Braunling mir das Wort ab.

Ich schwitzte. Was wollten sie von mir hören? Welches tiefe Interesse sollte ich heucheln? Reichte es, einfach zu sagen, dass ich arbeiten möchte, endlich arbeiten? Warum wollten sie von mir immer und über alles überzeugt werden, bis zum Kern meiner Persönlichkeit bohren? Welches Recht hatten sie dazu, wenn es hier nur um einen Austausch von Geld und Arbeit ginge? Das Machtverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist so ungleich! Natürlich hatte ich auch andere Interessen als diese Arbeit: Durfte ich es nicht? Natürlich hatte ich auch studiert und alles hatte damit wenig zu tun, mit diesem Unternehmen und mit der Autoindustrie. Aber die Situation auf dem Arbeitsmarkt sollte allen bekannt sein. Sie wissen doch, wie das ist, wenn man plötzlich ganz unten hockt, sagen sie es nicht selbst immer wieder: anpassungsfähig, flexibel, bereit zu verzichten. Sagten nicht SIE das, Frau Braunling, Herr Canata? Ich bin doch flexibel!

Die Antwort, die Frau Braunling von mir hörte, klang aber anders: „In der Ausschreibung stand ‚Muttersprache italienisch’, deshalb….wissen sie, ich arbeite gern an der Grenze zwischen den Welten. Ihre internationale Ausrichtung…ich habe auch Erfahrung. Ich arbeitete schon einmal in einem Call Center, während meines Studiums, um es zu finanzieren…“
„Hier steht, dass sie zur Zeit als freier Event – und Kulturmanager arbeiten. Was macht ein Kulturmanager genau?“
Ich atmete auf. Das würde leichter gehen. Ich beschrieb einige meiner letzten Projekte.
„Was würden sie gerne tun, ich meine beruflich, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten?“ fragte Frau Braunling. „Wie würden sie sich gern entwickeln?“
Wenn ich jetzt sage, dass ich Call-Center-Agent werden möchte, wirkt das unglaubwürdig. Ich beschloss, ehrlich zu sein. „Zuerst muss ich wissen, wie ich mein Leben finanzieren soll. Das ist das Wichtigste. In meiner Freizeit würde ich gern promovieren, später…“
„Was?!“ Herr Canata lief rot an. „Eine Promotion! Dafür brauchen sie Freizeit. Wie passt das mit der Arbeit hier zusammen. Wir suchen Mitarbeiter, die sich engagieren. Wir werden in sie investieren.“
„Ich sagte doch, dass die Arbeit das Wichtigste für mich ist…“
„Noch eine Frage Herr Mastroianni“, meldete sich Frau Braunling von der Seite. „Sind sie verheiratet oder haben sie eine Freundin?“
„Ich lebe seit zwei Jahren mit meiner Freundin zusammen, aber ich bin flexibel.“
„Was würde ihre Freundin davon halten, dass sie am Wochenende arbeiten oder spät abends?“
„Meine Freundin muss auch viel arbeitet. Wir wissen, dass man das heutzutage tun muss. Sie ist froh, wenn ich arbeiten kann, egal, wann, egal, wie lange. Wir schenken uns übrigens viel Freiheit, gegenseitig“
„Herr Mastroianni, ich werde ihnen jetzt erklären, was wir hier machen.“ Herr Canata lehnte wieder gelassen in seinem Sessel, die Fingerspitzen aneinander gelegt.

„BMW Italien ist unser wichtigster Kunde in Italien. Der Call-Center-Agent sollte ans Telefon gehen und sich als Mitarbeiter von BMW-Italia vorstellen. Zirka 20.000 italienische BMW-Fahrer nutzen unser Navigationssystem. Die Aufgabe unseres Call-Centers ist es, eine ganze Reihe von Wünschen zu erfüllen… Die Autofahrer dürfen sich zum Beispiel über das Wetter informieren. Oder uns darum bitten, einen Tisch im besten Mailänder Restaurant zu reservieren. Jemand, der gerade auf der Autobahn fährt, könnte nach dem nächsten Golfplatz fragen. Bei Autounfällen wird das Call-Center automatisch allarmiert: Wir benachrichtigen die Rettungsdienste in Italien und teilen den Unfallort mit“
„Es gefällt mir sehr auf die Wünsche anderer einzugehen, sie zu erfüllen…“
„Es handelt sich um eine Zielgruppe, deren Einkommen über dem Durchschnitt liegt. Wir haben strenge Anweisungen, was die Selektion der Bewerber betrifft. Sie wissen, Herr Mastroianni, dass Norditaliener nicht gern mit Süditalienern arbeiten. Das heißt konkret: Wir dürfen keine Süditaliener einstellen. Der süditalienische Akzent lässt sich schwer mit dem professionellen Bild vermitteln, das wir hier repräsentieren…
Wir sind gezwungen, einen kleinen Test mit ihnen durchzuführen, um ihre Herkunft genau zu prüfen. Sie werden gleich mit Herrn Nobile, einem Verantwortlichen von BMW-Italia telefonieren. Er möchte die Kandidaten persönlich prüfen.“

Frau Braunling wählte bereits die Nummer. „Guten Tag, Herr Nobile! Hier ist ein neuer Kandidat, den wir ihnen gern vorstellen möchten, Herr Mastroianni…“
Sie reichte mir den Hörer.
„Buongiorno, Signor Nobile!“
„Buongiorno…“ Herr Nobile machte eine Pause.
„Il mio nome è Roberto Mastroianni, Lei vuole parlare con me, mi è stato detto….“ Der Sprung von Deutsch zu Italienisch fiel mir nicht leicht. Ich war zu aufgeregt. Ich erzählte, was ich gemacht hatte in Deutschland. Ich erzählte irgendwas. Ich lauschte meiner Stimme nach.
In welcher Straße in Rimini ich gewohnt hatte, empfand ich als merkwürdige Frage. Ich sagte, dass meine Eltern nicht direkt in Rimini leben. Ich sagte, dass sie 15 Kilometer entfernt wohnen, in Verucchio. Mein Gesprächspartner blieb an dieser Aussage hängen. Dann versuchte er einen lässigen Abschied: „Il suo italiano non lo ha dimenticato però, vero?“
„Ma no, chiaro! Il mio italiano è sempre buono. Visito i genitori ogni tre-quattro mesi…“
„Va bene, va bene, signor Mastroianni, basta, io mi sono già fatto un idea. Grazie e arrivederci…“

Ich reichte Frau Braunling den Hörer. Sie tauschte sich mit Herrn Nobile aus und legte auf. Ich hatte ein schreckliches Gefühl. Ich war nicht im bürgerlichen Stadtzentrum von Rimini geboren. Ich kam vom Land. Ich stammte aus einer Bauernfamilie. Und dann mein deutscher Akzent! Ich hatte schon länger nicht mehr Italienisch gesprochen!

„Lieber Herr Mastroianni,“ sagte Frau Braunling. „Leider war Herr Nobile nicht so ganz überzeugt von ihnen. Es war keine direkte Ablehnung, ich kann ihnen nicht sagen, woran es liegt. Herr Nobile konnte es auch nicht genau sagen“.

Die Uhr zeigte 16:30. Herr Canata bemühte sich, das richtige Schlusswort zu finden: „Lieber Herr Mastroianni, Frau Braunling und ich werden uns austauschen und zu einer Entscheidung kommen. Morgen werden wir mit Herrn Nobile telefonieren. Wir müssen auch andere Kandidaten prüfen. Sie selbst sollten sich überlegen, ob Sie noch Interesse an dieser Stelle haben. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir bis Freitag eine Entscheidung treffen und miteinander telefonieren. Dennoch vielen Dank für ihre Bewerbung. Es hat uns gefreut sie kennenzulernen.“ Sie standen auf und reichten mir die Hand.
Draußen las ich ihre Visitenkarten: Klaus Canata – Manager Human Ressource. Oda-Carina Braunling, Manager Purchasing & Facilities. Den Titel von Herrn Nobile hätte ich nie erfahren dürfen.

Zu Hause musste ich mich erst einmal abregen. Ich fand alles ziemlich irritierend, zum Teil abstoßend: Die amerikanische unsoziale Einstellung der Vorstände; die Arroganz von Herrn Nobile; die Vorurteile von Herrn Canata gegenüber der Geisteswissenschaften; die Ablehnung für mein Interesse an Weiterbildung…. Nein, dort wollte ich nicht und nie arbeiten! Lieber Müllwerker, es wäre für die Gemeinschaft viel nützlicher gewesen. Nicht aber die eigene Seele und die eigenen Werte so über Bord werfen, das wollte ich nicht!
Doch gab es auch Gegenargumente. Auf meinem Konto hatte ich fast kein Geld mehr und nach drei Monaten war ich immer noch arbeitslos. Diese ständige Ungewissheit machte mich zu schaffen, seit Monaten. Ich brauchte dringend einen Job! ABC-System Europe zahlte 2.300 Euro pro Monat, viel besser als andere Arbeitgeber. Mit diesem Geld hätte ich alle meine finanziellen Probleme gelöst und mich endlich bewegen und befreien können.
Also, ein Gefängnis mit einem anderen ersetzen? Sich verkaufen, um sich zu befreien?

Um 20:30 kam Julia von ihrer Arbeit nach Hause, endlich: Auch heute hatte sie Überstunden machen müssen. Ich ließ ihr ein bisschen Zeit um „runter zu kommen.“ Ihr erzählte ich dann von meinem Vorstellungsgespräch, von meinen Zweifeln und von meiner Wut. Dafür zeigte sie leider wenig Verständnis: „Lieber Roberto, sag mal, wie lange soll es noch so laufen?! Möchtest du weiter wegen deines Idealismus arbeitslos bleiben? So leben? Wir sind seit drei Jahren zusammen und du kannst mir noch nicht sagen, wie es mit uns weitergeht, besser, das konntest du bisher nie! Ich habe keine Lust mehr, ständig, jeden Tag darüber zu reden, mit diesen Sorgen und diesem Druck zu leben! Aber es geht auch um dich: Du bist 35 und kannst dich nicht einmal finanzieren, deine nächsten Rechnungen zahlen! Trotzdem möchtest du eine Arbeitsstelle ablehnen: Bist du echt so realitätsfremd? Auch ich bin mit meinem Arbeitgeber nicht immer zufrieden; auch ich stehe morgens früh aus und arbeite zwölf Stunden pro Tag – trotzdem beschwere mich nicht immer wie du und arbeite weiter: Es gehört einfach dazu! Du solltest deine eigene Realität mit offeneren Augen wahrnehmen, wenn du deine massiven Probleme ernsthaft lösen möchtest! In deiner Situation ist dein radikaler Idealismus entweder eine Ausrede oder ein Luxus. Eigentlich geht es bei dieser Stelle als Call-Center-Agent nur um einen Anfang, um eine erste Arbeit. Keiner verbietet dir es dann, nach anderen besseren Stellen zu suchen. Also, wie kann es so schwer sein!? Wie kann man da noch solche Zweifel haben!?“

Wieder schafften Julia und ich es, soziale Konflikte zu privaten Konflikten zu machen: „Ja, meine liebe Julia – entbrannte ich vor Wut – immer deine unbegründeten Ängste… Sicherheit über alles: Für dich zählt nichts anderes! Diese ständigen Lebensängste, die dich und dein Volk so anpassungsfähig machen, besser, so gehorsam! Die Frage, was richtig und nicht richtig sei, welches Leben sinnvoll sei, spielt keine Rolle mehr, wenn die Sicherheit in Frage steht, oder?! Nur Arbeiten und Geld verdienen, nur das zählt, egal welche Welt und welche Zukunft man damit produziert, nur funktionieren!
Welche tolle Vorstellung von Beziehung: Die eigenen Kindern ernähren, gemeinsam Urlaub machen und beim Fernsehen fett werden, während dabei die ganze Gesellschaft zerstört wird, mit unserer Komplizenschaft!
Was hat das für einen Sinn? Nur dem Strom folgen, Hauptsache nicht anders sein und nicht mit dem eigenen Kopf denken: Forderst du das von deinem Partner?!“
Der Streit ging weiter: für Julia blieb ich ein Idealist, der sich selbst gefährdet. Für mich war Julia die bürgerlich denkende Frau aus Krefeld, die alles in sehr engen Horizonten betrachtet.

Ich konnte nicht einschlafen und grübelte im Dunkel weiter. Das Call-Center, die Autoindustrie: eine komische Welt, eine komische Kultur, sicher nicht meine. Doch machte sich in meinem Kopf ein pragmatisches Denken breit: Wenn dieser Arbeitgeber so unsozial ist, dann hat er sich verdient, dass ich von ihm profitiere, dass ich sein Geld nehme und ihn später in Stich lasse, um eine bessere Arbeitsstelle anzunehmen. Von diesem Gedanke war ich immer überzeugter: Ich hatte die Lösung für meinen Konflikt gefunden. Julia hätte sich gefreut, in der Beziehung wäre Ruhe eingekehrt, mit dem Geld hätte ich meine Probleme gelöst und mir noch etwas gönnen können… Ich schlief endlich ein.

Ein Tag später, am Donnerstag an dem frühen Morgen, rief ich Herr Canata an: „Guten Morgen Herr Canata! Ich habe meine Entscheidung schon getroffen: Ich würde gerne für Sie arbeiten!“ Ziemlich kühl antwortete er: „Es ist in Ordnung, Herr Brocchi, danke für Ihren Anruf. Wir haben aber unsere Entscheidung noch nicht getroffen. Wie gesagt, wir werden uns bis morgen Abend bei Ihnen melden.“
Ich war erst einmal über meinen Schritt froh: Die Last der Entscheidung lag nicht mehr bei mir. Das Schicksal sollte nun entscheiden, was für mich das Beste war. Ich schrieb Julia, die schon in ihrem Büro saß, eine kurze ironische Email: „Ich habe es getan, natürlich nur für Dich, natürlich nur für unsere gemeinsame Zukunft :-)“

Am Freitag bereitete ich weitere Bewerbungen vor und begann ein Buch zu lesen, für meine eventuelle Promotion. Eigentlich wartete ich aber auf den wichtigen Anruf, auf die Antwort von ABC-System Europe – und versuchte mich dabei zu beschäftigen, so gut es ginge. Ich war angespannt.
Um 17 Uhr hatte noch keiner angerufen, ich hatte noch keine Antwort bekommen. Um 17 Uhr am einem Freitagnachmittag, komisch. Mit dieser Ungewissheit ins Wochenende wollte ich nicht gehen. Ich rief Frau Braunling an.

Im Büro ging keiner mehr ans Telefon, wahrscheinlich waren schon alle nach Hause. Ich versuchte es mit der Mobiltelefonnummer, die auf der Visitenkarte von Frau Braunling stand. Endlich erreichte ich sie: „Frau Braunling, sie und Herr Canata wolltet mir heute ihre Entscheidung mitteilen, deshalb rufe ich an!“ Frau Braunling war ziemlich irritiert, sie hatte bereits Wochenende: „Herr Mastroianni, hat sie Herr Canata nicht angerufen? Er wollte das tun! Egal… Ich muss ihnen leider mitteilen, dass wir uns gegen sie entschieden haben. Es tut mir leid.“ „Darf ich fragen, warum?“ „Aus verschiedenen Gründen“ Antwortete Frau Braunling, und blieb dann still. Sie hätte gerne aufgelegt, doch ich hackte nach: „Welche Gründe?“ „Die Tatsache, dass ihr Italienisch nicht sauber genug ist, spielte bei der Entscheidung eine zweisträngige Rolle. Viel wichtiger war etwas anderes. Sagen wir so: Wir hatten das Gefühl, dass wir ihnen nicht das anbieten können, was sie gerne hätten. Sie hatten einfach andere Interessen…“ „Aber Frau Braunling! Ich habe mich bewusst für die Stelle beworben. Ich habe gestern Herr Canata angerufen und ihm mein Interesse bekräftigt…“
Frau Braunling antwortete nicht mehr, sie war genervt, sie wollte sich ihre Freizeit nicht von einem durchgefallenen Kandidat verderben lassen, von irgendwelchem Bewerber…
„Ok. Frau Grünewald, ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!“ Ich legte auf.

Diese Absage war nichts unerwartetes, an Absagen musste man sich wohl gewöhnen, um nicht ständig enttäuscht zu werden. Es war trotzdem ein Schlag ins Gesicht. Für die Bewerbung und das Vorstellungsgespräch hatte ich mir soviel Zeit genommen, für diese Leute! Und sie?! Nicht einmal die Mühe, mir ihre Entscheidung mitzuteilen! So professionell waren sie, so sehr war ich ihnen Wert!

Ich stand wieder da, wo ich am Anfang war. In einem Land, das wirtschaftlich immer reicher und sozial immer ungleicher wird, musste ich den Gürtel wieder enger schnallen und, noch schlimmer, es war wieder nur meine eigene Schuld, fatti miei, mein eigenes Geschäft.

© Davide Brocchi, 18.10.2004



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