24. November 2010 | Deutschland im Krieg

Interview mit einem deutschen Soldaten

von Davide Brocchi. Köln


Hans-Dieter Hoffmann wurde im Kalten Krieg Berufssoldat und später Oberstleutnant. Er nahm an den ersten Militäreinsätzen Deutschlands im Ausland teil und gehört heute zu denjenigen, die den Krieg in Afghanistan für falsch halten. Warum, erzählt er in diesem Interview mit Davide Brocchi, Köln.

Lesezeit 25 Minuten

DB: Was haben Sie gemacht, bevor Sie Soldat wurden?
HH: Eine Ausbildung als Maschinenbautechniker.

Mit welcher Motivation gingen Sie zur Bundeswehr?
Ich interessierte mich schon früh für Politik und las einmal folgenden Satz: „Jeder Staat hat eine Armee, entweder eine eigene oder eine fremde.“ Mir war die Eigene lieber. Jeder Staat hat die Aufgabe, seine Grenzen zu schützen und damit auch seine Bürger. Ich wollte ein Teil dieser Aufgabe sein. Insgesamt hat mir der Wehrdienst sehr gut gefallen. Dort fand ich eine gute Kameradschaft.

Sie wurden Soldat im Kalten Krieg. Wer war der Feind damals?
Der Osten, völlig klar. Die NVA und die Sowjetunion. Die Szenarien, die wir immer wieder durchgespielt haben, waren an der Elbe: Wenn der Russe kommt, dann…

Können Sie Ihre Bundeswehrkarriere beschreiben?
Nach dem Wehrdienst habe ich mich erst für vier Jahre und dann für acht Jahre verpflichtet. So kam ich in die Offizierslaufbahn. Nachdem ich alle Offiziersprüfungen bestanden hatte, wurde ich gefragt, ob ich nicht Berufssoldat werden wolle – und ich sagte Ja.
Dann studierte ich als Ingenieur bei der Bundeswehrhochschule in Darmstadt und wurde erst technischer Chef in einem Raketen- und Artilleriebataillon in Flensburg, dann Dezernent für Entwicklung und Beschaffung von Wehrmaterial im Heeresamt und schließlich Dezernent des Heeres und des Stützpunktkommandos in Mönchengladbach und in Koblenz. 1997 wurde ich pensioniert. Zwei Monate später war ich auf einer UN-Ausbildung und nahm an zwei Auslandseinsätzen teil: In Bosnien und in Afghanistan. Als Offizier habe ich insgesamt drei Jahre im Ausland verbracht.

Ist die Teilnahme an Auslandseinsätzen freiwillig?
Für die Masse der Soldaten ist die Teilnahme freiwillig. Für das Schlüsselpersonal – zum Beispiel Piloten und Fachleute – nicht. Ich selbst tat es freiwillig, denn ich war schon Reservist: Oberstleutnant a.D.d.r., das heißt „außer Dienst der Reserve“.

Wie kamen Sie nach Bosnien?
Ein Freund von mir war Regimentskommandeur bei einem Hubschrauberregiment in Rheine. Mit ihm hatte ich vorher zusammengearbeitet. Nach meiner Pensionierung telefonierten wir einmal. Er sagte: „Ich habe hier wieder Probleme, die Kontingente nach Bosnien voll zu bekommen.“ Ich sagte: „Axel, das wäre was für mich!“ „Ist das dein Ernst?“ sagte er. „Sicher, es ist genau das, wofür ich 20 Jahre lang ausgebildet wurde. Das könnte ich endlich in die Praxis umsetzen.“ Eine Stunde später hatte ich einen Anruf aus seinem Stab. Axel hatte mit Oberst Brand gesprochen und dieser fragte mich, ob ich noch Interesse hätte. „Ja, sicher!“ „Dann stellen Sie sich bitte darauf ein: In zwei Wochen geht der Lehrgang los.“
Der Lehrgang hat mir so extrem gut gefallen, dass ich direkt mit nach Bosnien gegangen bin. Ich hatte eine ganz große Erfahrung, kannte die Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium, mit dem Materialamt des Heeres… Ich kannte diese Leute, deshalb fiel mir die Arbeit sehr leicht. Alle meine Staffelkapitäne haben unglaublich von mir profitiert. Ich kam auch mit den Soldaten ganz gut zurecht: Sie hätten auch meine Söhne sein können. Manchmal musste ich aber ein bisschen streng zu ihnen sein.

Der Einsatz in Afghanistan

Was wussten Sie von Afghanistan, bevor Sie dorthin eingeflogen wurden?
Eigentlich wenig. Wir wurden zwar vorbereitet und über ganz bestimmte Gefahren informiert, aber über das Land und die Leute haben wir ganz wenig erfahren.
Was man uns bei der Ausbildung sagte, war vor allem was wir nicht durften; dass wir bei den wilden Tieren sehr vorsichtig sein sollten. Über die Tiere in Afghanistan – Spinnen, Gifttiere, usw. – hat man uns ganz viele Geschichten erzählt.

War diese Vorbereitung hilfreich?
Wilden Tiere sind wir ganz selten begegnet, an diesem Punkt waren wir sehr vorsichtig.

Wie muss man sich die Vorbereitung vorstellen?
Es gibt einen Workshop und eine Vorbereitungszeit. Es wird erklärt, wie man sich vor einer Straßensperre verhalten sollte; wie man ein Minenfeld überquert; wie man Kameradenhilfe leisten kann, wenn jemand verletzt wird.

Es hört sich so an, als ob in der Ausbildung der Selbstschutz eine sehr große Rolle spielen würde.
Ja, der Selbstschutz spielt eine sehr große Rolle.

Haben sie bei einer Ausbildung erfahren, wie man das Vertrauen der Einheimischen in einem fremden Land erwirbt?
Wir haben wenig darüber gesprochen.

Welche Rolle spielte hingegen die Kampfbereitschaft?
Sie spielte keine wichtige Rolle in meiner Gruppe von Soldaten. Die meisten von uns wären sowieso fast nur im Lager gewesen und hätten es während des ganzen Einsatzes nie verlassen.

Was hat Ihnen bei der Ausbildung gefehlt?
Die Vorbereitung für den bosnischen Einsatz war viel intensiver als jene für Afghanistan. In Afghanistan mussten die Ausbildungen teilweise im Lager nachgeholt werden, zum Beispiel weil Soldaten im Umgang mit bestimmten Waffen gar nicht ausgebildet waren. Die Fahrer der Tanklastwagen mussten erstmal ihren Führerschein dort machen. Außerdem erfordern die gepanzerten Fahrzeuge ein anderes Fahrverhalten: Auch diese Fahrer mussten erst einmal im Lager nachgeschult werden.
Vielleicht lag es am Zeitdruck, vielleicht an einer Überschätzung des Wissens und der Erfahrung der Kontingente. Erst vor Kurzem hat man eingesehen, dass man die Leute intensiver ausbilden und vorbereiten muss.

Wie war die Stimmung auf dem Flug von Deutschland nach Afghanistan?
Wir waren angespannt, obwohl die meisten von uns freiwillig dort waren. Einige waren sehr still, ruhig und nachdenklich. Ein paar Soldaten waren ängstlich.

Können Sie die Reise nach Afghanistan beschreiben?
Wir sind von Köln mit der Airbus-Militärmaschine nach Termes in Usbekistan geflogen. Die Maschine war nicht sehr bequem: Drinnen war ein Lärm ohne Ende. In Termes haben wir eine Nacht verbracht, in einem Zelt ohne Heizung. Es war keine wahnsinnig tolle Umgebung: In Usbekistan gibt es genau soviel Korruption wie in Afghanistan. Weil der Airbus keine elektronischen Abwehrmaßnahmen hat, flogen wir am nächsten Tag mit einer Transal über den Hindukusch weiter. In Kunduz waren wir im Gästehaus der usbekischen Regierung. Ein riesiges Schlafzimmer mit breiten Teppichen, die Ausstattung ließ aber sonst sehr zu wünschen übrig: Es gab nur ein Bett und einen kleinen Tisch. Aus dem Wasserhahn kam eine braune Brühe heraus. Wenn man sich auf der Toilette hinsetzte, brach alles zusammen, so wackelig war die. Das Abenteuer begann schon vor dem eigentlichen Einsatz.

Wie war die Ankunft in Afghanistan?
Als wir ankamen, waren wir natürlich voller Hoffnungen. Der erste Eindruck, der mich stark berührte, waren die Zustände in einem Krankenhaus: So ein Schmutz, so ein Elend… Die Mütter waren dort Tag und Nacht bei ihren Kindern. Die Krankenzimmer waren komplett überfüllt. Ganze Familien lebten praktisch dort und kochten Tee zwischen den Betten.
Irgendwann wollten wir neue Fenster in dem Krankenhaus einbauen, aber der Direktor wollte dies nur unter einer Bedingung zulassen: Erst sollte sein eigenes Haus neue Scheiben bekommen.
Das war die erste Enttäuschung.

Welche Aufgaben hatten Sie im Lager?
Die Heeresflieger arbeiten in Staffeln – und ich war bei einer Staffel stationiert. Die Komponente S4 war für die allgemeine Logistik zuständig und ich war der S4-Stabsoffizier und Versorgungsführer. Der Versorgungszugführer leitet die Versorgungseinrichtungen wie zum Beispiel die sogenannte Materialgruppe, die Soldaten mit Kleidung, Fahrzeugen und Waffen versorgt. Dazu gehört auch die Feuerwehr und die Tankbereitschaft. Alle diese Bereiche habe ich geführt, insgesamt 30 Personen.

Welchen Auftrag hat die Bundeswehr in Afghanistan?
Wir haben keinen Kampfauftrag gehabt, sondern sollten den Wiederaufbau begleiten und schützen. Es gibt in Afghanistan nur wenige kleine Regionen, die sicher sind; in denen Brücken, Wasserwerke oder Straßen gebaut werden können.

Heißt das, es gibt in Afghanistan konkrete Projekte, die durch die Bundeswehr gesichert werden?
Es handelt sich um die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit, die ZMZ. Diese Gruppe läuft unter deutschem Hoheitsrecht. Es sind entweder Verwaltungsbeamte, die in deutscher Uniform herumlaufen oder Soldaten, die in der Verwaltung arbeiten.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit Organisationen, die Entwicklungshilfe leisten?
Ja, zum Beispiel mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die sehr viele Mitarbeiter in Afghanistan hat. Diese Organisation hat nicht immer den allerbesten Ruf. Ich kenne sie aus Bosnien und sie hat dort keinen guten Job gemacht.

Warum nicht?

Weil sie nicht zielstrebig genug im Sinne des Auftrages gearbeitet hat. Die Mitarbeiter sind manchmal schlecht. Wir hatten immer wieder den Eindruck, dass dort auch Gelder abgezweigt werden, bzw. dass die Preise für die Leistungen künstlich überteuert werden. Es gibt sehr viele Hilfsorganisationen in solchen Regionen und manche von ihnen verdienen sich eine goldene Nase.

Die Motivation der Soldaten

Was ist die Motivation der Soldaten, an diesem Einsatz teilzunehmen?
Das Geld ist die Hauptmotivation der meisten Soldaten. Ein Teil will sich nach drei, vier, sechs Monaten ein neues Auto oder eine neue Wohnungseinrichtung leisten: „Dann ziehe ich mit meiner Freundin zusammen“, lautet eine typische Aussage.
Ein Teil der Soldaten ist verschuldet oder lebt auf großem Fuß – und braucht deshalb dringend Geld. Ich habe einen Stabsbefreiten (die höchste Position in der Mannschaftsgruppe) kennengelernt. Er war schon etwas älter und bei einigen Auslandseinsätzen dabei gewesen. Nun war er in Kabul – und zwar nur um seine Schulden zu bezahlen. Sie müssen sich vorstellen, wie geknickt dieser Mann war: „Jetzt mache ich diesen Scheißeinsatz hier mit, komme nach Hause und habe trotzdem nichts.“ Für ihn war es äußerst bitter.

Solche Soldaten wollen wahrscheinlich nur, dass die Zeit so schnell wie möglich vergeht, bevor etwas Gefährliches passiert?
Ja. Jeder Soldat in Afghanistan hat eine Tagestabelle. Sagen wir mal, sie sind 100 Tage bei einem Auslandeinsatz und verdienen im Moment 100 Dollar pro Tag. Auf der Tabelle stehen alle Tage von 1 bis 100. Unter jedem Tag steht dann der Betrag, den ich summiert bisher verdient habe: Das heißt von 100 bis 10.000 Dollar. Diese Tabelle wird von den Soldaten jeden Tag abgestrichen. Das ist die Motivation der meisten Soldaten: diese Tabelle.

Gibt es andere Motivationen unter den Soldaten, außer dem Geld?
Ja, eine kleinere Gruppe von Soldaten ist in Afghanistan aus Abenteuerlust. Es sind Soldaten, die gerne dabei sind – und vielleicht zähle ich mich auch dazu.

Spielt die ethische oder politische Motivation bei den Soldaten eine Rolle?
Ich denke, weniger als 10 Prozent beschäftigen sich ernsthaft damit.

Der Einsatz

Wie viel Zeit verbringen die Soldaten in dem Lager und wie viel draußen?
In Mazar-i-Sharif sind fast 3.000 Soldaten stationiert. Maximal 20 Prozent von ihnen fahren raus mit einer Patrouille. Circa 80 Prozent bleiben nur im Lager und kommen erst raus, wenn sie nach Deutschland zurückgeflogen werden. Von Afghanistan sehen sie praktisch nichts.

Wie kann man so diesen Auftrag erfüllen?
Es sind die 20 Prozent, die raus kommen. Der Rest sind eben nur Unterstützer: Logistiker, Sanitäter, Kfz-Mechaniker…

Haben die 20 Prozent eine besondere Ausbildung?
Ja, sie stellen die Kampftruppen dar und fahren mit gepanzerten Fahrzeugen raus. Das sind MG-Schützen, häufig Fallschirmjäger oder Grenadiere.

Kennen sie die Motivation dieser Leute?
Auch die meisten von denen machen es fürs Geld, obwohl die Gefahren hier wesentlich höher sind. Es gibt dann eine Reihe exaltierter Typen – mit Sonnenbrillen, einer besonderen Frisur und Tätowierungen – die das „Rambo“-Image genießt.

Wie gehen diese Soldaten mit den höheren Risiken um?
Unter den Kämpfern gibt es eine sehr starke Gruppendynamik. Sie schützen sich gegenseitig. Dem einen oder anderen machen die Risiken schon zu schaffen, aber sie wussten alles schon vorher und sind alle freiwillig dort. Ein Kompaniechef sagte mir einmal: „Wenn ich merke, dass einer es nicht packt, dann kommt er nicht mit und wird versetzt.“ Wer die Teilnahme an einem Militäreinsatz ablehnt, muss natürlich damit rechnen, dass er nicht weiter in der Hierarchie aufsteigen wird. Wenn jemand Berufssoldat ist, dann hat er wenig Chancen sich davor zu drücken.

Berufssoldaten sind also in der Hierarchie oder bei Kampfeinsätze verlässlicher.
Das kann man so sagen. Ich habe es zu meinen Soldaten immer gesagt: „Leute, ihr verdient hier gutes Geld. Und ich erwarte von euch, dass ihr dafür gute Arbeit macht.“

Was ist für Sie „gute Arbeit“?
Dass sie nicht herum murmeln. Die Soldaten sollen ordentlich arbeiten, pünktlich sein und vor allem das tun, was man von ihnen verlangt. Das ist nichts Kriminelles, sondern im Rahmen der Gesetze und der Vorschriften.

Mit welchen Problemen wird die psychologische Betreuung der Soldaten in Afghanistan konfrontiert?
Wenn Probleme mit der Familie, mit der Freundin oder mit den Kindern zu Hause in Deutschland auftauchen, dann drehen einige Soldaten regelrecht durch. Man kann nicht eben nach Hause fliegen, wenn es solche Probleme gibt.

Nicht nur die Taliban bereiteten also Sorgen, sondern auch die Heimat.
Klar. Ich habe Soldaten ausflippen sehen, weil die Freundin Schluss gemacht hatte. Die Frauen sind manchmal so blöd. Einige schrieben zum Beispiel „Ich halte das nicht durch, ich halte es nicht aus: Ich habe jetzt einen anderen. Ich war in der Disco und traf ihn.“ Die Partnerin eines Soldaten räumte sein Konto leer. Mit solchen Problemen waren die Soldaten immer wieder konfrontiert. Wir hatten Militärseelsorger und Psychologen für solche Fälle, aber eigentlich waren das zu wenig.

Bei diesem Krieg ist der Feind keine Armee,
Genau, das ist ein so genannter asymmetrischer Krieg.

aber trotzdem ein Feind.
Die Taliban sind in diesem Volk und in diesem Land so infiltriert, dass sie jederzeit zuschlagen können.

Aber es gibt doch nur einige Tausend Taliban.
Ja, aber ihre Strategie der Nadelstiche macht es aus. Die Afghanen, die mit der Bundeswehr im Lager zusammenarbeiten, können gleichzeitig den Taliban Informationen weitergeben. Sie bekommen zum Beispiel mit, wann eine Patrouille zusammengestellt wird und haben ihre Ohren überall. Diese Mitarbeiter sind sicherheitsgeprüft, aber nach welchen Kriterien wird die Sicherheit überprüft?

Wie viele afghanische Mitarbeiter gab es in Ihrem Lager?
In unserem Lager in Masar-e Sharif waren es Hunderte. Ohne deren Hilfe würde die Toilettenreinigung oder die Küche nicht funktionieren. Wir können uns nicht leisten, dass wir diese ganze Arbeit mit eigenen Leuten machen. Die afghanischen Mitarbeiter bekommen um die 200 Dollar im Monat: Das ist ein unglaublich guter Lohn für die Verhältnisse dort.

Und diese Leute bekommen auch Geld von den Taliban, die Informationen wollen.
Sie geben Informationen unter Druck weiter. Sie werden bedroht: „Wenn Du mir das nicht sagst, denk daran: Du hast auch eine Frau und Kinder.“
Die Anschläge hätten so nicht passieren können, wenn die Taliban interne Informationen nicht bekommen hätten. Es ist sehr wichtig, dass sich die deutschen Soldaten nicht mit den afghanischen Mitarbeitern verbrüdern. Man muss aufpassen.

Wie wird das Lager geschützt?
Das Lager wird erst einmal im engen Umkreis von der Bundeswehr überwacht. Daneben gibt es einen weiteren Sicherheitsgürtel von der afghanischen Nationalarmee. Wenn die Zivilbediensteten morgens kommen, dann werden sie erst von den afghanischen Soldaten kontrolliert – und dann von unseren. Die Zivilbediensteten müssen durch eine Schleuse gehen und dann kommen sie ins Lager rein. Wenn sie rausgehen, werden sie nur von unseren Leuten kontrolliert: Sie dürfen zum Beispiel nichts gestohlen haben. Teilweise werden sie schon bestraft, wenn sie eine Dose Fisch dabei haben.

War die deutsche Bundeswehr ausreichend ausgerüstet?
Am Beginn des Einsatzes in Afghanistan hatten wir keine gepanzerten Fahrzeuge, sondern eine Art VW-Bus. Wir sind den Weg vom Kabuler Flughafen zum Hauptquartier mit ganz normalen VW-Bussen gefahren.

Wie verhält sich eine Patrouille, die das Lager verlässt?
Wir sind immer in einer Kolonne gefahren: Vorne fährt das Führungsfahrzeug, das ist meistens ein Fünf-Tonnen-LKW, dann kam ich mit dem kleinen Fahrzeug und hinter mir kam ein größeres Fahrzeug mit einem Bord-MG. Wenn wir in einen Kreisverkehr reingefahren sind, musste der LKW zwei Zufahrtstraßen blockieren. Kein fremdes Fahrzeug durfte dazwischen kommen und die Kolonne durchtrennen. Wer zu nah kam, bekam zuerst Warnschüsse zu hören: So sollten die Menschen merken, dass wir es ernst meinen.

Und wenn die Leute trotzdem weiter gefahren sind?
Dann wird natürlich scharf und gezielt geschossen.

Ist das passiert, in der Zeit wo sie dort waren?
Das ist passiert, ich selber war aber nicht dabei.

Waren Sie schon mal bei Kämpfen dabei?
Kämpfe waren es nicht, aber es wurden halt Warnschüsse abgegeben. Danach mussten wir eine Vernehmung machen und eine Meldung über verschossene Munition abgeben. Die Munition musste ja abgebucht werden.

Auch der Krieg will minutiös verwaltet werden.
Das ist in der Tat furchtbar! Teilweise kommen Inspekteure aus Deutschland, vom Verteidigungsministerium oder aus dem Heeresführungskommando, die eine Prüfung dort machen und die Munition zählen. Wenn ein bisschen Munition fehlt, dann ist der Teufel los.

Sie haben mir ein Bild gezeigt, wo Sie mit einem Militärhubschrauber fliegen. Wie hoch ist die Gefahr, abgeschossen zu werden?
Es passiert oft, dass jemand vom Boden auf einen selbst zielt. Die Taliban verwenden vor allem Ein-Mann-Waffen. Auf dem Bild sieht man mich im Bauch eines fliegenden Hubschraubers. Ich beobachtete den Boden unter uns, trug einen Stahlhelm und sprach über das Mikro mit unserem Piloten. Wenn ich eine Rakete sah, die gegen uns flog, musste ich dem Piloten sagen „Rakete, 12 Uhr; Rakete, 3 Uhr“. Er reagierte sofort und bog ab. Die Hubschrauber haben eine elektronische Abwehrwaffe, die sie vor solchen Raketenangriffen schützt. Das System nennt sich „Flairs“ und besteht aus Magnesiumstäben, die ausgestoßen werden und sich dann bis auf 3.000 Grad erhitzen. Auf diese heiße Wolke gehen dann die Raketen drauf. Solche Angriffe habe ich selbst erlebt, auch die Boden-Luft-Angriffe.
Nach so einem Flug musste ich mich erst einmal eine Stunde hinlegen und beruhigen.

Was ist, wenn afghanische Zivilisten umkommen? Wie wirkt sich so etwas auf die Soldaten aus?
Der Soldat nimmt das zur Kenntnis. Er bedauert es zwar, aber dass Menschen im Krieg umkommen, kommt leider vor. Die Berichterstattung darüber ist manchmal tendenziös: „Oh, ihr bösen Deutschen, ihr habt schon wieder getötet!“ Es gibt Opferanwälte, die uns ein schlechtes Gewissen einjagen wollen. Soldaten töten aber nicht absichtlich.
Nach dem Tankwagen-Luftangriff bei Kunduz sollen die Familien von 91 Toten und von 11 Schwerverletzten je 5000 US-Dollar als Entschädigung bekommen: Das ist eine Menge Geld! Die Wiedergutmachung sollte lieber durch ein gemeinnütziges Projekt stattfinden.

Was denken Sie über den Umgang mit Oberst Klein, der für den Luftangriff bei Kunduz verantwortlich war?
Es ist ein unwürdiges Schauspiel, wie man mit ihm umgegangen ist. Der Mann ist für seine Soldaten eingetreten und hat in einer Situation gehandelt, die gar keiner beurteilen kann. Aber alle Sesselpupser mussten ihren Kommentar dazu abgeben.

Wie kann man in einem solchen Krieg zwischen Zivilisten und Taliban unterscheiden?
Das ist in der Tat äußerst schwierig. Sie können nicht erkennen, was hinter der Stirn der Menschen vorgeht – und das ist das Gefährliche. Die Soldaten werden bei den Anschlägen überrascht, weil sie damit nicht rechnen.

Das heißt, Sie gehen auf die Straße und jeder könnte ein potenzieller Terrorist sein?
Ganz korrekt.

Sind Frauen genauso gefährlich wie Männer?
Bis vor einem, zwei Jahren waren Männer gefährlicher. Für uns waren sie die eigentlichen Bösewichte. Seit dem Krieg in Tschetschenien und den „Schwarzen Witwen“ weiß man, dass Frauen genauso gefährlich sein können. Zumal Sie nicht erkennen können, was sie unter der Burka tragen. Unter einer solchen Kleidung können Sie nicht einmal erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist.

Gibt es äußerliche Merkmale, die Soldaten besonders vorsichtig machen?
Überhaupt nicht. Es gibt aber Gerüchte, dass die Taliban im Süden des Landes eine schwarze Kopfbedeckung tragen und oft leichte Motorräder fahren.

Wie ist das Verhältnis der deutschen Soldaten zu den amerikanischen Kollegen?
Wir haben ein gutes Verhältnis zu den Amerikanern. Die deutschen Soldaten schauen eher bewundernd auf die Amerikaner, weil die Amerikaner so viele Möglichkeiten haben.

Welche sind das zum Beispiel?
Vor allem was das Kämpfen, Ressourcen und Ausrüstung angeht. Bei der internationalen Afghanistan-Schutztruppe sind alle froh, dass auch die Amerikaner dabei sind: Unter ihrem Schutz fühlt man sich einfach sicherer. Die Amerikaner können zu jeder Zeit an jedem Ort mit irgendwelchen Kräften präsent sein. Das können wir nicht. Wir haben keine Kampfhubschrauber. Wir haben C A350 mit zwei MG-Bordschützen, links und rechts. Das ist alles, was wir an Bewaffnung aus der Luft haben. Die Tornados sind als Aufklärungsfluge dort und unbewaffnet. Wenn die deutschen Soldaten im Dreck sitzen, dann würden nur die Amerikaner sie rausholen können: Die haben die Power und die nötigen Waffen.

Was denken Sie selbst über die Amerikaner?
Für mich haben die Amerikaner eine gewisse Vorbild-Funktion gehabt. Ich hatte sie sehr gerne. Sie sind alle professioneller. Auch die Franzosen und die Engländer sind professioneller, während wir Deutschen noch einen Amateurstatus haben. Wir sind immer sehr vorsichtig und stellen uns erst einmal viele Fragen, während die Feinde schon lange ihre Entscheidung gefällt haben. Wir sind ganz einfach zu wenig professionell, auch aufgrund unserer Geschichte. Ganz langsam könnten wir etwas selbstbewusster auftreten, denn so schlecht sind wir nicht.

Das Leben in Afghanistan

Wie ist Kabul?
In Kabul findet man Dinge, die im Rest des Landes nicht gibt, zum Beispiel Schulen, Radio- und Fernsehstationen. Kabul ist eine versunkene Schönheit: Vor 30 Jahren muss es dort wunderschön gewesen sein. Eine ganze Hippie-Kultur war ja dort. Dann kamen die Russen und eine ganze Generation wurde im Krieg ausgelöscht. Der Bruder meines Dolmetschers Marek wurde von einer russischen Rakete getötet. In Kabul erinnern heute die Plattenbauten an jene Zeit.

Was hat Sie von dem Leben in Afghanistan besonders beeindruckt?
Die unglaubliche Armut. Im Dezember kamen 6-bis 8-jährige mit ihren kleinen Geschwistern im Arm: Sie hatten nicht einmal Schuhe. Sogar die Soldaten der afghanischen Nationalarmee sind heruntergekommen. An der Dschalalabad-Route entlang, von Pakistan bis Kabul, leben die Menschen in unendlichen Zeltlagern. Eine ganze Familie lebt dort in winzigen Räumen und hat nichts: kein Wasser, kein Strom, keine Heizung! Meistens besitzen sie ein Teppich und eine kleine Schlafecke. Sie sitzen abends vor ihrer kleinen Hutte und haben ein kleines Feuer. Zwischen November und Januar gibt es über Kabul eine riesige Smogglocke, weil alles verbrannt wird, was nur brennbar ist.

Was haben Sie gegen diese Armut unternommen?
Vor allem haben wir uns um die Kinder bemüht. Vor Weihnachten ließen wir Süßigkeiten in Deutschland sammeln. Ich bat meine Soldaten, mir alles zu geben, was sie nicht brauchten. Dann wurde alles unter den afghanischen Kindern verteilt. Mit Weihnachten wussten sie zwar nichts anzufangen, aber Schokolade kannten sie sehr gut. Sie riefen nur: „Kakao, Kakao, Kakao!“

Mit welchen Träumen oder Albträumen wachsen die afghanischen Kinder auf?
Sie haben sich irgendwie ihrem Schicksal ergeben und leben in den Tag hinein. Sie sind froh, wenn sie an einem Tag etwas zu trinken und zu essen bekommen.

Woher kommt die Ware, die in Afghanistan konsumiert wird?
Ich habe hier eine Liste von Medikamenten, die von dem Apotheker unseres Lagerkrankenhauses erstellt wurde. Er hatte aufgeschrieben, was er brauchte und wo man es bekommt: aus dem Iran, aus Korea oder aus Pakistan. Die meisten Medikamente kamen aus dem Iran. Zwischen Afghanistan und dem Iran funktioniert der Handel relativ gut.

Welches Bild haben die Afghanen von den Deutschen?
Ein sehr gutes Bild. Die Deutschen sind dort angesehen, weil die Afghanen meinen, ein bisschen arische Abstammung zu haben. Der deutsche Kaiser war auch mal da gewesen.

Unterscheidet sich das Bild der Deutschen von jenem der Amerikaner?
Ja, die Amerikaner haben kein gutes Ansehen bei den Afghanen.

Können sie das nachvollziehen?
Die Amerikaner haben ein anderes Auftreten als die Deutschen. Sie werden nicht so gut gelitten, weil sie nicht so zuvorkommend sind. Sie gehen energischer an die Sache ran, nicht so zimperlich.

Was denken Sie über die Afghanen?
Es ist ein friedfertiges Volk. Die Afghanen sind ein sehr angenehmes fast liebenswertes Volk. Sie vertrauen auf alle.

Welches Leben wünschen sich die Afghanen?
Die Afghanen wünschen sich, dass sie ihr eigenes Leben leben können – ohne von der Repression der Taliban davon abgehalten zu werden. Sie wollen einfach nur leben und sind mit ganz wenig zufrieden. Es sind sehr bescheidene Menschen. Ein großes Geschenk wäre für sie ein Blechofen, der ist aber für die meisten unerschwinglich: Ein Ofen kostet ungefähr 30-40 Dollar.
Was wir uns nicht einbilden dürfen, ist dass wir den Afghanen die Demokratie beibringen können. Davon sollten wir uns ganz schnell verabschieden. Die Afghanen brauchen keine Demokratie.

Wenn sie keine Demokratie brauchen, was brauchen sie dann?
Das wie es jetzt ist. So leben sie seit Jahrhunderten. Sie wollen auf dem Basar ihren Markt in Ruhe machen können. Die Frau soll weiter ihre Burka tragen und den Haushalt versorgen.
Die Afghanen wollen nur ein bisschen Sicherheit und eine relativ gute Versorgung. Mehr wollen sie nicht.

Was denken die Afghanen über die Taliban?
Die meisten Afghanen wollen mit den Taliban nichts zu tun haben. Aber auch bei den Taliban gibt es Unterschiede: Mit den Radikalen kann man nicht reden, mit den gemäßigten durchaus. Aber auch diese Gruppe vertritt die Vorstellung, dass Frauen nicht zur Schule gehen dürfen.

Trotzdem haben auch die Taliban ihre Anhänger.
Eine Erklärung dafür ist der fundamentalistische Glaube und der Kampf gegen den Westen.
Die Taliban können aber auch besser zahlen: 100 oder 200 Dollar im Monat, während Soldaten der afghanischen Nationalarmee ungefähr 50 Dollar im Monat bekommen.

Die Korruption

Woher bekommen die Taliban das ganze Geld?
Vor allem finanzieren sie sich aus dem Drogenanbau. Natürlich rechnet man damit, dass die Taliban auch Schutzgeld erpressen und viel Geld aus Saudi-Arabien bekommen.

Was macht das Drogengeschäft in Afghanistan so rentabel?
Mit Mohn verdient man zehn Mal mehr als mit irgendwas anderem. Mit Drogen ist es viel leichter, Geld zu verdienen. Wenn wir den Mohnanbau konsequent einschränken würden, hätten wir einen Kleinkrieg im Krieg.

Wie findet der Drogenhandel statt?
Die Drogen werden auf dem Weltmarkt verkauft. Sie gehen über die Seidenstraße, über Usbekistan zum Beispiel. Pakistan ist am Meer, wo wir auch unsere Versorgungsschiffe haben. Am Drogenhandel sind aber nicht nur die Taliban beteiligt. Die Provinzfürsten finanzieren ihre eigenen Armeen mit Drogen. Der Halbbruder des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai steckt tief im Drogengeschäft.

Es ist eigentlich erstaunlich, dass er immer noch Präsident ist.
Ich halte Karsai für einen Verbrecher. Karsai ist an der Spitze einer korrupten Großfamilie, die sich auch durch Hilfsgelder aus den USA und Deutschland finanziert. Keiner überprüft genau, wohin das Geld fließt. Karsai verteilt es an seine Schützlinge, damit sie ihm wohlgesonnen bleiben; damit sie ihm bei der neuen Jerga, der Nationalversammlung, ihre Stimme geben.
Karsai ist aber ein Mann der Bush-Administration und ein Statthalter der Amerikaner in Afghanistan. Er wird von den Amerikanern beschützt, fliegt nur mit amerikanischen Maschinen und hat nur amerikanische Leibwächter. Karsai hat kein Vertrauen zu seinen eigenen Leuten.

Es gab den Plan eines amerikanischen Offiziers, alle Drogenbarone zu töten. Nun meinen Sie, die Drogenbarone wären Teil eines Systems, das die Alliierten schützen.
Die Drogenbarone sind auch daran interessiert, ihren Bereich von den Taliban sauber zu halten. Sie haben eine Absprache mit den Alliierten: „Wir halten diesen Bereich frei von den Taliban und dafür genießen wir euren Schutz“. Das Ergebnis ist, dass unter dem Dach der internationalen Afghanistan-Schutztruppe die Drogenbarone ihr Schlafmohngeschäft machen. In Bosnien habe ich Ähnliches erlebt. Unter dem Dach der SFOR (Stabilisation Force) machte die Mafia ihre besten Geschäfte.

Wer garantiert diesen Schutz?
Das ist die schmutzige Seite der Politik.

Afghanistan gilt nach Somalia als das korrupteste Land der Welt. Woran liegt das?
Die Armut spielt sicher eine wichtige Rolle. Ein Kinderarzt bekam damals 30-50 Dollar im Monat. Er ist dann bereit, sich um die Patienten zu kümmern, nur wenn diese ein Extra zahlen. Diese Art von Korruption ist in Afghanistan sehr verbreitet. Dort ist jeder korrupt: der Verkehrspolizist, die Stammesältesten….

Wie funktioniert die Korruption?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie eine Brücke in Afghanistan aufbauen wollen, dann müssen Sie zuerst den Dorfältesten Geld zahlen, damit sie gestatten, dass Sie dort Ihr Geld für eine Brücke ausgeben, die ihnen nutzt. Dann müssen aber auch die Taliban geschmiert werden, damit sie währenddessen nicht angreifen. Ja, auch die Taliban bekommen Geld, damit sie sich ruhig verhalten. Die Taliban bekommen Geld für die Straßenbenutzung im Süden, so dass sie die Bundeswehrkonvois, die Alliiertenkonvois oder die Versorgungskonvois nicht angreifen. Die Alliierten schmieren, damit sie nicht angegriffen werden.

Wer führt diese Verhandlungen durch?
Das wird vor Ort gemacht. Es sind wahrscheinlich die Kommandeure vor Ort.

Muss auch die Bundeswehr irgendwelche Schmiergelder zahlen?
Konkrete Fälle sind mir nicht bekannt, es ist aber anzunehmen. Die Verwaltung der Bundeswehr könnte mit irgendwelchen Leuten Abkommen haben: „Wir geben euch 100 Dollar pro Monat und ihr garantiert für die Sicherheit auf der Straße, die wir am Tag X für einen Konvoi nutzen werden.“
Ein dokumentierter Fall in unserer Staffel ist die Zahlung von Schmiergeldern an den Direktor des Kabuler International Airport (KIA). In einer Flughafenhalle befanden sich unsere Hubschrauber C A350.
Der Flughafen-Direktor, der selbst immer eine Waffe mit sich trug, sagte uns irgendwann, dass er für unsere Sicherheit in dieser Halle nicht mehr garantieren könne. Dafür hätte er Wachpersonal einstellen müssen, aber da er kein Geld hätte, müssten wir bezahlen. Dann bekam Uwe, unser Staffel-Kapitän, jeden Monat von der Verwaltung Gelder – den genauen Betrag kann ich Ihnen nicht mehr nennen, es müssen aber ein paar Hundert Dollar gewesen sein.
Der Offizier hat für diese Summe unterschrieben und ist dann zum Leiter des Flughafens gegangen. Er nahm mich ein paar Mal mit. Der Direktor ließ uns ein bisschen warten, bis wir irgendwann in sein Büro hinein durften. Es gab ein bisschen Small-Talk, die Atmosphäre war immer sehr freundlich. Dann holte Uwe aus seiner Tasche den Umschlag raus, legte ihn auf den Tisch, der Direktor machte ihn kurz auf, legte ihn bei sich zur Seite und dann haben wir weiter gesprochen. Dabei handelte es sich um monatliche Bestechungsgelder für die Sicherheit im Flughafen.

Weiß das Verteidigungsministerium davon, wie es dort läuft?
Ja, das wissen sie. Sie müssen davon wissen, auf jeden Fall. Das Geld muss ja von der Abteilung Verwaltung bereitgestellt werden.

Gibt es eine interne „Sprache“ für solche Fälle, mit besonderen Bezeichnungen für etwas, was nicht an die Öffentlichkeit gelangen darf?
Ja. Da darf nicht „Bestechungsgeld“ geschrieben werden. Für jede Ausgabe gibt es ein bestimmtes Kapitel, wie zum Beispiel Sicherheitsgebühren. Es waren aber Bestechungsgelder.

Wie beurteilen Sie die Informationspolitik innerhalb der Bundeswehr?
Die Hierarchieebenen filtern unangenehme Informationen selbst aus. Der Staffelkapitän macht am Ende eines Kontingents immer einen Erfahrungsbericht. Dieser Erfahrungsbericht setzt sich aus den Teilberichten seiner Abteilungen zusammen. Sie schreiben positives und negatives auf. Der Staffelkapitän fasst das zusammen und bringt die Ergebnisse seinen Vorgesetzten. Er kontrolliert und schönt den Bericht, weil er sich nicht traut, Negatives weiterzugeben. Der geschönte Bericht geht dann an das Führungskommando – und die sagen: „Hm, es sieht gar nicht so schlecht aus.“ Jetzt hat man über die Presse erfahren, dass wir gepanzerte Fahrzeuge dort brauchen. Ja, es gibt viele Dinge, die der Bundeswehr in Afghanistan fehlen, zum Beispiel gepanzerte Fahrzeuge und Luftunterstützung.

Mit welchem Gefühl haben Sie Afghanistan verlassen?
Das erste Gefühl war: Gut, dass ich es lebend überstanden habe.
So eine Erfahrung bleibt in den Kleidern hängen. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Ich habe manche Lebenseinstellungen geändert. In jenen Monaten sah ich zum Beispiel mit wie wenig Menschen auskommen können und mit wie wenig Menschen zufrieden sein können. Seitdem ich dort war, in Bosnien und in Afghanistan, habe ich mir nur wenige persönliche Sachen gekauft.
Das zweite, was ich gedacht habe. Wir haben vielleicht ein wenig dazu beigetragen, dass afghanische Kinder wieder zur Schule gehen. Während meines Einsatzes ist das wirklich passiert. Mit Spendergeldern aus Deutschland haben wir eine ganze Menge Gutes getan. Wir haben ein Krankenhaus verglast, Radiatoren und Medikamente gekauft. Das war zwar nicht so viel – vielleicht 1.000 Dollar. Aber es hat ihnen geholfen. Wir haben diese Menschen zumindest zeitweise ein bisschen glücklicher machen können.

Was ist ihre Erklärung für diesen Krieg?
Wie Herr Struck gesagt hat, wird die Freiheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt. Da scheint etwas Wahres dran zu sein, obwohl der Spruch ein bisschen an den Haaren herbei gezogen ist. Die Taliban sind radikal. Das sieht man an den Attentaten, die sie weltweit verüben. Sie versuchen auch spaltbares Atommaterial in die Hände zu bekommen und sie haben bestimmt auch wenig Skrupel, eine Atombombe gegen irgendjemanden einzusetzen oder damit zu drohen. Der Nachbarstaat von Afghanistan ist Pakistan. Wenn wir Afghanistan aufgeben, dann ist Pakistan gefährdet. Und Pakistan hat Atomwaffen.

Das haben die Amerikaner auch zugelassen…
Das sind die Geister des Krieges und sie kommen irgendwann zurück.

Sehen Sie andere Gründe für den Krieg?
Es soll dort sehr viele Bodenschätze geben. Das Land kann deshalb sehr interessant für die USA, aber auch für Russland und Westeuropa werden. Man rechnet damit, dass irgendwann dort Rohstoffabbau im großen Stil betrieben wird.

Die meisten Deutschen sind gegen diesen Krieg: Was halten Sie davon?
Jetzt finde ich es richtig, dagegen zu sein. Ich habe meine Meinung verändert und kann nun die Position der Mehrheit verstehen, weil in Afghanistan nichts passiert. Man sieht ein, dass wir dort sehr viel Geld ausgeben – und zwar für Nichts! Es ist einfach verbratenes Geld. Es ist nichts besser geworden dort. Unsere sogenannte Wiederaufbauteams können nichts tun.

Wie beurteilen Sie die Berichterstattung der Medien über Afghanistan?
In den Medien vermisse ich oft, dass ehrlich und schonungslos berichtet wird: Über das Leben, über den Wiederaufbau, über die politische Situation, über den Verbleib der Gelder, über Karsais Regierung und die ganzen Hintermänner.
Zum Glück gibt es auch Journalisten, die sich trauen, mal den Finger in die Wunde zu legen.

Was halten Sie von der politischen Diskussion in Deutschland, zum Beispiel über die Frage ob es ein Krieg oder kein Krieg sei?
Wenn man nach den völkerrechtlichen Gesetzen geht, dann ist es vermutlich kein Krieg. In diesem Fall kämpfen keine zwei Staaten gegeneinander. Aber für die Soldaten ist es Krieg. Es gibt Gefallene und Gefechte. Wir haben dort Sicherungsfahrzeuge, Sicherungsstellungen und gepanzerte Fahrzeuge. Wir schießen aus der Luft und vom Boden. Das sind auf jedem Fall Kriegszustände.

Und über die politische Debatte allgemein, was denken Sie darüber?
Ich finde sie unehrlich, zum Teil verlogen. Beim Angriff auf die Tanklastwagen haben wir gemerkt, dass die Soldaten nicht die 100prozentige Unterstützung aller politischen Parteien hatten. Ganz zu schweigen von den Linken: Sie unterminieren die Einsatzbereitschaft der Soldaten und rufen nur „Raus aus Afghanistan!“

Kann man diesen Krieg gewinnen? Was gibt es zu gewinnen in diesem Krieg?
Nein, es gibt nichts zu gewinnen. Da wird es nur unterschiedlich starke Verlierer geben, aber einen Gewinner wird es nicht geben. Das ist sicher: Wir müssen uns irgendwann von Afghanistan verabschieden, wir können nicht für immer dort bleiben.

Was wäre das richtige oder falsche, was die Deutsche Politik in Bezug auf Afghanistan machen könnte?
Das falsche wäre auf jeden Fall der sofortige Abzug, denn dann würde dort alles zusammenbrechen. Man sollte auf jeden Fall eine realistische Planung für den Abzug anfertigen. Realistisch wären vier bis sechs Jahre.
Gleichzeitig müssen wir für ein Umdenken in Afghanistan sorgen. Die Afghanen müssen mehr gegen die Taliban tun, aber das erreicht man nur dann, wenn man ihnen eine Perspektive gibt. Wenn afghanische Soldaten bei der Nationalarmee 50 Dollar im Monat verdienen, und ihnen die Taliban 100 bis 200 Dollar im Monat bieten, dann haben wir verloren.
Afghanistan braucht kluge Leute an der Spitze, und keinen Karsai. Man braucht dann internationale Beobachter. Man sollte die Afghanen stärken, damit sie merken, dass es auch etwas anderes als diesen Krieg gibt.

Wie kann man die Afghanen stärken?
In Afghanistan gibt es eine Nationalversammlung, die sogenannte Loya Jirga. Da kommen die Stammesfürsten hin, die Stammesgebiete kontrollieren. Es sind wirklich archaische Verhältnisse, die dort herrschen. Diese Stammesfürsten bestimmen, was in ihrer Region passiert. Man muss sich also diese Stammesfürsten zu Freunden machen. Zum Beispiel indem man sie fragt, was sie in ihrem Stammesgebiet brauchen. Einen Brunnen? Eine Straße? Eine kleine Schule?
Im Gegenzug müssen sie dafür sorgen, dass sich in ihrer Region keine Taliban einnisten.
Das Geld, das an Karsai geht, ist verloren. Es sollte direkt in Projekte investiert werden.

Was ist ihre Meinung über die jetzigen Pläne, die Truppen in Afghanistan weiter zu stärken?
Es verdienen ganz viele Leute an diesem Krieg, das darf man auch nicht vergessen. Nicht nur die NGOs, sondern auch die ganze Rüstungs- und Ausrüstungsindustrie. Bei einer Stärkung der Truppen wird man dort nur zeitweise Erfolge haben.

Afghanistan grenzt an den Iran. Man hat ein bisschen das Gefühl, dass es irgendwann dort losgeht…
Miteinander zu reden ist auf jedem Fall besser als aufeinander zu schießen. Vielleicht sollte man keine Bedingungen stellen und zuerst Emissäre und Unterhändler in den Iran schicken, die das Gespräch mit Ahmadinedschad und seiner Umgebung suchen. Wir haben im Iran wirtschaftliche Interessen. Es gibt wirtschaftliche Verflechtungen zwischen unseren Ländern: Davon können wir profitieren, um den Frieden zu sichern.

Würden Sie auch mit den Taliban das Gespräch suchen?
Auf jedem Fall mit dem gemäßigten Teil.

Der Ruhestand

Was bedeutet es, ein Leben lang für die Bundeswehr zu arbeiten? Ist es wie ein Feuermann zu sein, obwohl es nie Feuer und Brände gibt?
Man kann es so sagen: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Als Soldat ausgebildet zu werden, ist der Preis der Freiheit.
Es gehört zu einer guten Erziehung, die Menschen auf den Ernstfall vorzubereiten, der natürlich nie eintreten sollte, aber leider eintreten kann. Die Behauptung, dass uns sowieso nichts passieren kann, gefährdet uns selbst.

Gibt es in der Bundeswehr immer noch ein Feindbild?
Um uns herum haben wir keine Feinde mehr. Nur das soll uns auch nicht unbedingt zur Nachlässigkeit erziehen. Wir müssen immer noch darauf achten. Die Russen haben immer noch ihre Atombomben.

Was können die Militärs in dieser Welt erreichen und was nicht?
Sie können schon für Ruhe und Stabilität beitragen. Das Militär ist ein Ordnungsfaktor.

Das heißt, das Militär wird immer noch gebraucht?
Ja, wenn eine Gesellschaft nicht abwehrbereit ist, wenn sie keine Armee hat, dann läuft sie Gefahr, dass irgendjemand anders ihr den eigenen Willen aufdrückt.

© Davide Brocchi, 12.11.2010

Profil: www.davidebrocchi.eu

Weitere Infos: www.darmstaedter-signal.de

Dokument: Interview als PDF

Featured Image: Gemen64 / PIXELIO


Foto im Artikel gelöscht wegen fehlender Copyright-Angabe. 4.4.24


3 Antworten zu “Interview mit einem deutschen Soldaten”

  1. Ein authentischer Bericht eines Offiziers, der weiß von was er spricht und seine Augen vor der Realität nicht verschließt.

  2. Die Reichen und Mächtigen haben es gut und werden immer mächtiger,die Übrigen müssen Leiden!!!Für was für ein Preis???Es wird nicht mehr nach der wahren Gleichberechtigung gestrebt.

  3. Ich denke keine Frage bleibt mehr übrig die nicht gesagt wurde!
    Alles ist gesagt wurden was wirklich gesagt worden musste.
    Was sich herausstellt:<>

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert