1. Mai 2007 | Parteidemokratie

Der Frust, der zu meinem Wahlsieg führte

von Christoph Meineke. Wennigsen am Deister


Wie ein Doktorand 2006 gegen alle Parteien kandidierte – und zum jüngsten hauptamtlichen Bürgermeister Niedersachsens wurde.

Lesezeit 7 Minuten
Christoph Meineke
Christoph Meineke. Foto: privat

Als mir von einem Journalisten die Frage gestellt wurde, ob ich mich denn als Politiker fühle, schwieg ich eine Weile. Ich nippte an einer Tasse schwarzem Tee, schüttete noch Milch hinein und antwortete beiläufig. Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich kramte nach Definitionen, was einen Politiker heutzutage ausmacht, doch ich konnte sie beim besten Willen nicht beantworten. Zwar hatte ich die Direktwahl für ein politisches Amt gewonnen, aber mit meiner künftigen Berufsbezeichnung haderte ich. Inzwischen bin ich seit einigen Monaten im Amt, doch mit dem Begriff bin ich noch immer nicht warm geworden.

Politiker. Mehr Gattungsbegriff denn Berufsbezeichnung, hört es sich mehr nach Problem denn nach Lösung an. Politiker und Politik – das klingt nach jenem Teil unseres gesellschaftlichen Systems, dem regelmäßig ein Großteil der Wahlberechtigten aus Frust und Enttäuschung den Rücken kehrt. Politiker kann man als junger Mensch gar nicht sein wollen. Ich halte es also schlicht und treffend mit der Bezeichnung „Bürgermeister“.

Mein Interesse hatte ein bundesweites Zeitungsinserat des SPD-Gemeindeverbandes geweckt, dass dieser einen Kandidaten für die Kommunalwahl am 10. September vergangenen Jahres suche. In Wennigsen am Deister, einem idyllischen Kleinstädtchen zwischen Weserbergland und norddeutscher Tiefebene mit insgesamt acht Ortschaften, sollte der bisherige CDU-Gemeindedirektor abgelöst werden und – zugleich mit der Umstellung vom zweigleisigen auf das eingleisige Modell von ehrenamtlichem Bürgermeister und hauptamtlichem Verwaltungsleiter – von einem Sozialdemokraten ersetzt werden. Zumindest wenn es nach den Genossen ginge.

Vor allem verwaltungserfahren sollte er sein und sattelfest in der Kommunalpolitik. Ich war weder das eine noch das andere, auch mangelte es mir an Parteibuch. Ich hatte studiert und viele Praktika absolviert, ich schrieb an der Doktorarbeit, hatte ein halbes Jahr in Osteuropa verbracht – nur weckte mir der Gedanke, mich in den Dienst eines Unternehmens zu stellen Unbehagen. Das öffentliche Management hingegen zog mich an, es reizte mich, zu gestalten und gesellschaftlich Verantwortung zu tragen. Ich hörte mich um und das Aufgabenbündel des Bürgermeisters klang wie für mich geschaffen: von Fragen des Bauressorts und der Infrastruktur bis hin zu öffentlicher Sicherheit und sozialen Fragen, Schulen und Kindergärten fließen zusammen. Die Kommune ist in vielen Angelegenheiten, die das örtliche Gemeinwesen angehen, erste Anlaufstelle. Der Bürgermeister ist als Wahlbeamter Leiter der Verwaltung, Mitglied im Gemeinderat und Repräsentant seiner Kommune.

Der Entschluss war schnell gefasst und schon bald der Wahlkampf geplant. Ich trat als Parteiloser gegen die Kandidaten aus SPD, CDU und FDP an. Eine inhaltliche Marschrichtung und deren Verpackung musste ausgearbeitet werden. Inhaltlich ging es neben lokalen Themen vor allem um die Frage, wie mehr Bürgerbeteiligung erreicht werden könne und eine bessere Einbindung der Einwohner ins örtliche Leben. Zum Rundherum gehörten Plakate, Handzettel, ein Programm in professionellem Layout, ein kleines Team und vor allem acht Wochen Zeit, um auf Straßen, Fußballplätzen und Festen Wählerstimmen zu gewinnen. Der Kreis der Wissenden wurde schnell größer, doch eine Erfolgsaussicht rechnete mir nicht einer ein: Mein Vater erklärte, dass ich mich gegen die gestandenen Kandidaten aller Parteien lächerlich machen würde. Mein Nachbar – Ehrenpräsident des örtlichen Sportvereines – eröffnete mir, ich hätte gegen seinen Parteifreund aus der CDU keine Chance und der Ortsbürgermeister, ein gestandener Sozialdemokrat mit Gewerkschaftsnadel, fand auf einem Hoffest ähnliche Worte. Kurzum, mein Bemühen sei ja recht nett, aber ich meine Zeit auch besser nutzen könne, als sie in einem chancenlosen Wahlkampf zu investieren. Ich gehöre ja nicht mal einer Partei an und das funktioniere in diesem Land nicht.

Parteilosigkeit, das habe ich im Wahlkampf in zahllosen Gesprächen erfahren, ist in Deutschland Chance und Makel zugleich. Die Chance liegt in der allgemeinen Verdrossenheit über Politik, die sich in einer Abwendung von den Parteien zeigt. Meine Strategie lag vor allem im Klinkenputzen. An vielen Türen und Pforten habe ich ähnliche Reaktion erlebt: Ich klingle, stelle mich vor, erkläre dass ich in der Wahl im September gern Bürgermeister werden möchte und um die Stimme bitte. Sofort werden die Arme verschränkt oder die Tür in Richtung Schloss gedrückt. Stellt der Umworbene seine erste Frage, welcher Partei man denn angehöre, drehen sich die Gespräche schnell. „Gar keiner“, wirkt magisch. Die Stimmung wird freundlich, man diskutiert, nicht selten endet die Unterhaltung mit Sätzen wie: „Also meine Stimme haben Sie.“ Gern wird vom Bürger betont, dass Parteilosigkeit ein Pfund zum Wuchern sei. Und gut, dass sich ein Junger endlich mal was gegen die Etablierten traue. Meist folgt noch irgendein Zusatz in Richtung Berlin.

Ich vermag nicht zu sagen, welchen Anteil der Frust gegenüber Parteien zu meinem Wahlsieg beigetragen hat, aber er war deutlich – die perfekte Welle, die zum Wahltag trägt. In der Kommunalpolitik zählen zwar vor allem örtliche Themen, doch hätte ein parteiloser Kandidat ohne den kollektiven Schwächeanfall des Systems wohl kaum eine Chance. Vor allem ist es die Visionslosigkeit, die das politische Geschäft prägt, und die der Bürger nicht mehr erträgt. Früher entstanden Meinungen aus Prinzipien, so wie die Taktik der Strategie folgt. Heute sind Meinungen Schlussfolgerungen aus Meinungsumfragen. Versatzstücke aus aktueller Stimmung und Schubladenthemen, gekittet mit Wählerpotenzial-Anaylsen bilden ein Patchwork namens Politik. Parteien haben sich zu Knechten ihrer Marketingexperten gemacht. Erst die Flicken, dann der Teppich – nur fliegen will er nicht.  

Das Problem liegt vor allem darin, dass es ihnen nicht mehr gelingt, die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten in ihren Programmen zu fassen. Nicht mehr ein Leitbild von Gesellschaft und Wege zur Umsetzung, das eigentliche Geschäft der Parteien, soll Kreuze einwerben, sondern nur deren Hülle: Image, Pappmache und Pomade. Das mag kurzfristig wirken, aber langfristig nervt es. Und wie es nervt, erfährt man, wenn man als Wahlkämpfer nicht hunderte, sondern weit über tausend Hausbesuche macht. Beim Reparieren von Rasenmähern, beim Fegen der Gosse, beim Grillen, immer wieder treffe ich Bürger, die ihren tief sitzenden Groll gegenüber den politischen Würdenträgern zum Ausdruck bringen.  Opportunität und der unbändige Wunsch zur Popularität, das Strahlen einzelner, verdeckt längst nicht mehr die ständig sinkende Wahlbeteiligung, den Frust und das Abwenden. Die politischen Gruppierungen erschlaffen, die Parteien sinken um die Wette. Sie überholen sich derzeit gegenseitig auf dem Weg zum Boden der Bedeutungslosigkeit.

Die Seelenlehre eines von Parteien geprägten Staates macht den Wahlkampf des Parteilosen dennoch zur Herausforderung. Die politischen Psychologen bezeichnen das Problem als „Bandwagon-Effekt“. Der Mensch marschiert gern dort mit, wo die Kapelle spielt. Kaum jemand möchte sein Kreuz bei einem Kandidaten machen, den er – da parteilos – für chancenlos hält. „Verschenke ich meine Stimme nicht?“, fragen mich viele Wähler. Ich behalf mir mit einer halben Wahrheit. Fast ein Drittel aller hauptamtlichen Bürgermeister in Norddeutschland sind parteilos. Das lässt sich klar belegen und es stimmt, aber es stimmt nur zum Teil. Eine Vielzahl von ihnen ist unter Duldung einer der großen Volksparteien, teils sogar beider, zum Kandidaten gekürt worden. Andere haben Wählergemeinschaften hinter sich, die auf lokale Ebene beschränkt sind und örtlich eigentlich eine Partei darstellen, auch wenn sie sich gegen den Terminus verwehren. Nichts desto trotz steigt die Zahl der wirklich parteilosen Politiker an. Kürzlich hat es in Crimmitschau einen Bundeskongress parteiloser Bürgermeister und Landräte gegeben, im Niedersächsischen Städtetag haben erstmals die parteilosen „Hauptverwaltungsbeamten“ ihre Quotensitze im Präsidium erhalten. Viele ihrer Biographien ähneln sich. Es sind politische Waghalsige, die sich für den Reiz der Aufgabe dem Wahlkampf stellen. Für sie zählt alles oder nichts, sie gehen von Haus zu Haus und führen Wahlkampf, um in ihrer Kommune etwas zu ändern, zu gestalten und Verantwortung zu tragen. Mal stammen sie aus der Wirtschaft, mal aus der Verwaltung, manchmal direkt von der Uni.

Morgens und nachmittags machte ich Hausbesuche, nachts beantwortete ich Emails oder bastelte an Flyern und Aktionen; ich opferte meine Semesterferien, um einen 120-prozentigen Wahlkampf zu führen. Nach der ersten Wahl, die ich – für viele überraschend – gegen den CDU- und den FDP-Kandidaten gewann, gestanden mir einige Schulfreunde, sie hätten mich nicht gewählt, weil sie davon überzeugt waren, dass ich keine Chance hätte. In der Stichwahl fiel das psychologische Manko der Parteilosigkeit weg, eine reine Personenwahl stand bevor. Ich hatte die acht Wochen genutzt, die Kapelle auf dem „Bandwagon“ zum Spielen zu bringen und sie spielte laut und deutlich: 68,68 Prozent lautete das Ergebnis. „Weg von den Parteien“, lautete ein Satz in einem Zeitungskommentar zu dem Wahlsieg. Den Wählern wird Mut attestiert und es heißt: „Gerade in der Politik vor Ort ist es wichtig, Ziele voranzustellen, und nicht eine Parteimeinung.“  

Viele ihrer Probleme sind hausgemacht, der Führungsnachwuchs fehlt ihnen, sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt als mit dem Wähler… Die Argumente, mit denen momentan gegen die Parteien zu Felde gezogen wird, sind vielfältig – doch zu ihrer Ehrenrettung: Der Frust geht nicht nur von oben nach unten, sondern von unten nach oben. In der Kommunalpolitik wird ein Dilemma besonders deutlich. Bei einer Vielzahl von Sachentscheidungen herrscht von Gelb bis Grün Konsens. In Anbetracht künftiger Wahlen müssen künstlich Differenzen aufgebaut werden, um den Wählern einen Standpunkt vorzugaukeln. Geschieht dies nicht, so wird gute Zusammenarbeit schnell mit Begriffen wie „Klüngel“ abgestempelt. Die Folge ist nicht, dass der Wähler lobend in die Hände klatscht, sondern sich bei Wahlen verweigert – und nicht nur die Parteien sondern das System als solches unattraktiver wird. Und damit haben alle Politiker zu kämpfen: Die aus den Parteien und die Quereinsteiger ohne Mitgliedschaft.

© Christoph Meineke, 01.05.2007

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Hintergrund 

Wennigsen am Deister zählt mehr als 14.000 Einwohner. Am 24. September 2006 wurde der 1979 geborene Christoph Meineke (parteilos) zum künftigen hauptamtlichen Bürgermeister gewählt. Er hat sein Amt am 1. Januar 2007 von Renate Borrmann (SPD) und Gemeindedirektor Kunibert Ewert (CDU)übernommen und ist der jüngste hauptamtliche Bürgermeister Niedersachsens.


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Eine Antwort zu “Der Frust, der zu meinem Wahlsieg führte”

  1. Die Freie Demokratische Partei ging wie ein ambitionierter Anfänger in die Bundesregierung. Das darf man machen, aber dann muss man sich auch besser machen und exakt das ist nicht passiert. Ich hoffen nur, die halten nicht noch zwei Jahre durch.

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