„Mit wem treibst du dich herum? Wer ist dein fidanzato, eh?!“ fragte Pater Aldo mit einem Blick zwischen Verurteilung und Lust. Diesen Druck konnte Meris nicht standhalten: Sie war nur elf Jahre alt und begann zu weinen. Unbegreiflich war es für sie: Warum wollte der Priester ihr Geheimnis unbedingt erfahren? Warum sollte sie ihm den Namen ihres Liebhabers verraten?
Weitere sechs Jugendlichen saßen am selben Tisch: Ihnen stand die Firmung bevor. Sie waren sprachlos und verwirrt, denn das intime Verhör durch den Priester wurde für sie selbst langsam unangenehm: Was hatte dies denn mit Catechismo zu tun?!
In der italienischen Mittelschule war Religion Pflichtfach. Die Kinder der Zeugen Jehovas verweigerten die Teilnahme, denn bei dieser Veranstaltung wurden Religione und römisch-katolische Kirche als Synonyme betrachtet.
Für den Religionsunterricht war Pater Aldo zuständig. Unsere Hauptlektüre war das Evangelium, aber der fünfzigjährige Priester nutzte jede freie Minute, um uns mit seinem Lieblingsthema vertraut zu machen: Sex. Dieses Wort nahm er nur selten in den Mund – und trotzdem wusste jedes Kind, was er meinte.
Einmal machte Pater Aldo es ganz offiziell. Er erklärte uns, wie wichtig es sei, dass Jugendliche in der Pubertät über Sexualität aufgeklärt werden: „Da sich die meisten Lehrer weigern, diese Aufgabe wahrzunehmen, werde ich euch für mehrere Wochen Sexualunterricht anbieten,“ schlug Pater Aldo vor. „Bevor dies aber für Unruhe in euren Familien sorgt, solltet ihr bitte mit euren Eltern klären, ob sie damit einverstanden sind.“
Nichts war Pater Aldo ferner als die Idealen der 68er. Er war ein überzeugter Antikommunist, reaktionär und konservativ. Sein Verhalten schwankte ständig zwischen Opferwahn und autoritärem Stil. Nur mit dem strengen Gebot des Vatikans zur sexuellen Enthaltsamkeit kam er irgendwie nicht zurecht. Unsere Eltern konnten es nur ahnen, denn Pater Aldo ließ nur Kinder an seiner Perversion teilhaben. Er war der Priester des Dorfes und wurde schon deshalb von allen respektiert. Die Linken ließen den Sexualunterricht zu, um nicht als bigott zu erscheinen. Den Christkonservativen war hingegen das Thema schon unangenehm genug, und sie wollten es durch eine öffentliche Diskussion nicht noch wichtiger machen.
Beim ersten Sexualreligionsunterricht erzählte uns der Priester eine Geschichte aus seiner Kindheit: „Meine Eltern waren Bauer, wir lebten auf dem Land. Einmal beobachtete ich, versteckt hinter dem Hof, wie mein Vater einem Schaf half, sein Baby zu gebären. Ich war außer mir. Völlig begeistert lief ich zu meiner Mutter und erzählte ihr, dass ich nun wusste, wie Kinder auf die Welt kommen. Mein Vater erfuhr es kurzer Zeit später…. Er schlug mich mehrmals fest, sogar mit seinem Gürtel. Ich durfte zwei Tage lang mein Zimmer nicht verlassen.“ Paradoxerweise hatten genau solche Erlebnisse dazu geführt, dass Moral und Sexualität bei Pater Aldo als untrennbar erlebt wurden. Die Erwachsenen hatten ihm verboten, einen Teil seiner Menschlichkeit zu entwickeln. Eine Sexualität konnte er nur mit anderen Kindern teilen. Sein Leben lang.
Die Aufklärung in der Schulklasse setzte er mit Diapositiven fort. Auf den gelblichen Illustrationen, die auf die Wand projiziert wurden, waren Penis und Vulven, Spermien und Eier erkennbar: „So meine lieben Kinder, wie kommen die zwei Elemente zusammen?“
Pater Aldo schien nicht zu ahnen, wie ausgeprägt unsere Fachkenntnisse schon waren. Auf den Pornozeitschriften, die mein Großvater und mein Onkel hier und da versteckt hielten, hatte ich schon eine ganze Menge erfahren. Ebenso wusste ich, wie angenehm sich die Träume mit den Schönen Stefania oder Federica anfühlten. Nur das Wachsen der schwarzen Behaarung an ungewöhnlichen Stellen meines Körpers hatte mich am Anfang ziemlich erschreckt. Ein paar Freunde hatten mich aber schnell beruhigt: Zum Glück war ich nicht der einzige, der gerade dabei war, sich in einen Menschenaffen zu verwandeln.
Trotzdem warnte uns Pater Aldo: „Ihr dürft das Schlafzimmer eurer Eltern nicht einfach so betreten: Ihr solltet zuerst klopfen, dann warten und erst wenn die Antwort kommt, das Zimmer betreten!“ Warum es unbedingt so sein sollte, ob man es einfach glauben sollte, wollte er uns nicht sagen. Aber auch damit hatte ich schon meine unangenehme Erfahrung gemacht – und daraus gelernt.
Nach zwei Wochen Sexualunterricht war es mit der Geduld bei den Eltern vorbei. Beim Mittag- und Abendessen berichteten ihnen die Kinder immer wieder, was sie in der Schule gelernt hatten. Viele Eltern fanden es nicht mehr lustig, und der Schuldirektor bekam diesen Unmut irgendwann zu spüren: Er bat Pater Aldo, mit dem speziellen Unterricht aufzuhören.
Als Kind fühlte ich mich der Kirche sehr verbunden. Jahrelang war ich als Messdiener tätig; ich wollte einfach ein guter Mensch werden. Abends vor dem Schlaf kniete ich mich neben das Bett und betete: Mit 10 Paternostern untermauerte ich meinen Glaube an Gott; mit den nächsten 10 Ave Maria bat ich ihn, bei meiner pubertären Körperumwandlung weniger mit Schönheit zu sparen, denn mit Federica funktionierte es einfach nicht.
Mein Verhältnis zur Kirche änderte sich mit 15 dramatisch – und dies lag gewiss nicht an meinen Misserfolgen in der Liebe. Vor allem störte mich der Begriff von Glaube. Die linke Fraktion meiner Familie hatte mir beigebracht, kritisch zu denken, jede scheinbare Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Das tat ich bei jeder Sitzung des Catechismo – und damit überforderte ich nicht selten die junge Catechista. Immer wieder klang ihre Antwort so: „Es gibt keine Erklärung dafür. Der Glaube ist immer für die Dinge da, die man nicht verstehen kann. Entweder glaubt man oder man glaubt nicht.“
Der Glaube war eben das Ende der Suche nach Wahrheit, das Ende des Dialogs. Nicht zufällig basiert die Struktur der katholischen Kirche auf einer starken Hierarchie: Sie predigt die Verheerung des Leidens (Selbst-Unterwerfung) und die Verurteilung der Lust (Selbst-Befreiung).
Ich fragte mich: Warum müssen solche fehlbaren Menschen wie Pater Aldo zwischen Gott und mir vermitteln – oder gar eingreifen? Warum sind manche Katholiken, sogar Priester und Päpste, noch fehlbarer als andere Menschen? Und warum muss ich trotzdem glauben, dass, was sie sagen, besser sei?
Meine Zweifel wurden immer tiefer. Irgendwann traf ich die Entscheidung, keinen Sonntagsgottesdienst mehr zu besuchen. Dies war in meiner Familie eine Art Pflicht: „Du musst zum Gottesdienst gehen, weil alle es tun!“ Ich wäre das erste Kind in der ganzen Verwandtschaft gewesen, das einen solchen radikalen Schritt wagt. Für das Scheitern ihrer Erziehung wollten sich meine Eltern nicht rechtfertigen müssen. Sie drohten mir mit der Exkomunikation aus der Familie: „Wenn du deine Entscheidung nicht revidierst, dann bekommst du bei uns, hier zu Hause, kein Essen mehr!“
Plötzlich fühlte ich mich mit meiner Entscheidung ganz einsam, musste weinen – und doch bestätigte mich die harte Reaktion noch mehr. Zum ersten Mal merkte ich, wie verschlossen und starr solche Glaubensstrukturen sind. Zurück zur Kirche kam ich nie wieder.
Meine Familie orientiert sich an der sozialen Tradition des Katholizismus: Im Zweifelsfall ist ihnen das Vorbild von Jesus, der seine Kräften den Schwächeren widmeten, wichtiger als die Launen des Klerus im Vatikan. Sie gehört zu jenen Reformkräften, die seit fast 30 Jahren aus den Spitzerämtern der Kirche ausgeschlossen werden.
Das Jahr 1978 ist ein Schicksaljahr der italienischen und vatikanischen Geschichte: Es sollte das Jahr der politischen Wende werden, es wurde das Jahr der politischen Reaktion. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ausländische Kräfte dazu massiv beitrugen. In Italien war der Christdemokrat Aldo Moro dabei, Ministerpräsident der ersten Regierung mit kommunistischer Beteiligung zu werden. Im Vatikan vertrat der neue Papst Albino Luciani eine soziale Wende in der katholischen Kirche, im Sog von Papst Johannes XXIII.. Beides durfte nicht sein: Aldo Moro wurde im Mai ermordet, angeblich von den Roten Brigaden. Albino Luciani (alias Past Johannes Paul I.) starb nach nur 33 Tagen Pontifikat, am 28. September 1978. Interessanterweise vertrat sein Nachfolger eine entgegengesetzte Reform der Kirche. Eine Autopsie der Leiche des so früh verstorbenen Amtsvorgängers ließ Karol Wojtyla nie zu.
Papst Johannes Paul II. machte den Vatikan zum strategischen Partner der US-Reagan-Administration im Kampf gegen den Kommunismus. Während der Vatikan der Widerstand gegen die kommunistische Diktatur In Polen unterstützte, pflegte er freundschaftliche Beziehungen mit dem chilenischen Diktator Augusto Pinochet. Am 6. Oktober 2002 sprach Papst Wojtyla Josemaría Escrivá (1902-1975), einen der wichtigsten Verbündeten des spanischen Diktators Francisco Franco, heilig. Escrivà war auch der Gründer des mächtigen Opus Dei, die Robert Hutchison 1996 auf dem Titel seines Buches „die heilige Mafia des Papstes“ nennt (Untertitel: Der wachsende Einfluss des Opus Dei).
In der Tradition des Amtsvorgängers veranstaltete Josef Ratzinger am 28. Oktober 2007 die größte Massenseligsprechung der Geschichte des Vatikans. Dabei handelte es sich um 498 „Märtyrer“, die im Spanischen Bürgerkrieg von linken Milizen getötet wurden. Die Opfer der Franco-Diktatur waren empört.
Die reaktionäre politische Ausrichtung des Vatikans schlägt sich auch auf die Sexualmoral nieder. Kaum einem anderen Thema schenkt die katholische Kirche soviel Aufmerksamkeit, wie Sexualität. Einerseits heißt es: keine Geburtenkontrolle, keine Aids-Prävention, keine Abtreibung, keine alternativen Familienformen. Andererseits wurde die katholische Kirche selten von Sexualskandalen so erschüttert, wie in den letzten Jahren. Zwei Beispiele:
- Der Erzdiözese in Boston wurde 2002 vorgeworfen, über Jahre hinweg Fälle von Kindesmissbrauch vertuscht zu haben. Der Kardinal Bernard Law musste unter massivem Druck zurücktreten. Im September 2003 erklärte sich die Erzdiözese bereit, 542 Opfern insgesamt 85 Millionen Dollar Entschädigung zu zahlen.
- Auf Computern des Priesterseminar von St. Pölten in Österreich fand die Polizei 2003 tausende Pornobilder, darunter auch zahlreiche pädophile Darstellungen und Fotos von sexuellen Kontakten zwischen Seminarmitgliedern und Lehrenden. Der St. Pöltener Bischof Kurt Krenn versuchte bis zuletzt, die Affäre herunterzuspielen.
Anstatt den Zusammenhang zwischen Sexualmoral und Perversion zu erkennen, nahm der Vatikan diese Skandale als Vorwand, um die Homosexuellen in den eigenen Reihen zu verfolgen. Im November 2005 gab der Vatikan der sogenannten Schwulen-Erlass heraus, wonach Homosexuelle nicht Priester werden dürfen.
Leider konnte Pater Aldo diese Entwicklung nicht erleben: Es wäre seine Zeit gewesen. In seiner Gemeinde stieß er hingegen immer mehr auf Unverständnis und Widerstand. Der Bischof von Rimini bekam den Druck von unten zu spuren und setzte ihn irgendwann ab. In einer noch kleineren Gemeinde der Apenninen starb Pater Aldo zwei Jahre später an Krebs: Der lebenslange Konflikt zwischen Moral und Trieb, Schuld und Perversion, Opferrolle und Autorität hatte sich in seinen Körper hineingefressen.
Der neue Priester von Villa Verucchio hieß Pater Pier Giorgio und hatte bis zu diesem Zeitpunkt das Priesterseminar von Rimini geleitet. Die Absetzung nach Villa Verucchio bedeutete für ihn einen krassen Karrierenrückschritt. Im Gegensatz zu Pater Aldo kam diese Bestrafung aber von oben – und nicht von unten. Pater Pier Giorgio war das Gegenteil von seinem Amtsvorgänger: Jung, frisch, kritisch, intellektuell, volksnah, linksorientiert – ein Rebell gegen die Kirchenhierarchie. Genau deswegen hatte er sich beim Bischof so unbeliebt gemacht. In einer Gemeinde wie Villa Verucchio konnte Pater Pier Giorgio mit seinen Ideen viel weniger Schaden anrichten – so dachte der Bischof.
In diesem Jahr eröffnet der Pater Pier Giorgio seine neue Kirche in Villa Verucchio. Die alte gefiel ihm nicht, die neue entwarf er selbst, kreisformig, „denn auch die Architektur soll die Demokratie in der Kirche fördern“ – so sein Credo. Seine weiteren Ziele kennen nur die wenigsten – denn es geht um die Förderung einer radikalen Reform der Kirche von unten, und dies würde ihn das Priesteramt kosten. Pater Pier Giorgio gehört einem Netzwerk an, bei dem Priester mit Laien eng zusammenarbeiten. Ihre zentralen Forderungen sind die Aufhebung des Zölibats, die Beteiligung von Frauen an dem Priesteramt, die demokratische Wahl von Bischöfen und Kardinälen sowie die Möglichkeit, Priestergemeinschaften in den Kirchen zu bilden, denn „diese lebenslange Einsamkeit ist kaum zu ertragen“ – so Pater Pier Giorgio.
© Davide Brocchi, 03.12.2008