Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der Medienkritik. Kaum hatte der Rundfunk das Licht der Welt erblickt, musste er mit dem Vorwurf leben, statt Kultur nur noch Massenware zu produzieren. „Warum nimmt man sich für die Abendunterhaltungen die dürftigsten Bockbierfeste zum Vorbild? Warum verwendet man für die Konzerte eine Bums-Musik, die selbst abgehärtete Sterndampfer zum Kentern brächte? Warum lässt man neckische Rezitatorinnen ihren Altweibersommer austoben? Weil das dem Publikum gefällt?“, ereiferte sich ein Medienkritiker in Carl von Ossietzkys „Weltbühne“. Das war 1932, und dennoch klingt es, als hätte der Autor gestern Abend die schwere Dosis von zwei Karnevalsübertragungen samt Musikantenstadl und Florian Silbereisen zu sich genommen. Mehr als ein Dreivierteljahrhundert ist vergangen, aber die Fragen, die an Radio und Fernsehen gestellt werden, sind immer noch die gleichen.
Heute sind es nicht nur Fragen des um das Gute, Wahre und Schöne besorgten Feuilletons, es sind Fragen nach der Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner Abgrenzung gegenüber den kommerziellen Mitbewerbern. Die Gebührenfinanzierung ist kein Automatismus mehr, sie muss vor dem Gesetzgeber und der Öffentlichkeit immer von Neuem gerechtfertigt werden. So waren der Wunsch nach einer unabhängigen Bewertung ihrer kulturellen Leistungen und damit eine entsprechende Absicherung für die öffentliche Argumentation das Motiv für die finanzstärkste Landesrundfunkanstalt, beim Deutschen Kulturrat eine Analyse über die Leistungen des „WDR als Kulturakteur“ in Auftrag zu geben. Die dabei entstandene Arbeit ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Sie belegt, in welch starkem Maße der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegen alle umlaufenden Vorurteile Kultur produziert und Kultur über das eigene Programmangebot hinaus fördert und finanziert. Und die Studie macht deutlich, dass die gute Tat allein keine hinreichende Absicherung auf dem medienpolitischen- und medienökonomischen Schlachtfeld ist.
Die Enquete-Kommission Kultur des Deutschen Bundestages, hatte bereits vor drei Jahren eine regelmäßige Evaluation zur Erfüllung des Kulturauftrags durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk angeregt. Diese Evaluation sollte „wirkungsvoll durch eine externe Institution durchgeführt werden“ (Kulturenquete 2007, Drucksache 16/7000). Zudem sehen die Rundfunkstaatsverträge seit 2004 im Zweijahres-Rhythmus die Abgabe und Überprüfung programmlicher Selbstverpflichtungen der Rundfunkanstalten vor. Empfänger dieser durch die Aufsichtsgremien zu beschließenden Dokumente sind Staatskanzleien und Parlamente. Auch für die Erarbeitung dieser Selbstverpflichtungen und ihrer Evaluation wurde den Anstalten die Heranziehung externer Gutachter empfohlen. (Elitz/Stammler: Programmliche Selbstverpflichtungen und Medienqualität. Institut für Rundfunkökonomie an der Universität zu Köln, 2006). Mit der Beauftragung des Deutschen Kulturrates ist der WDR als erste Rundfunkanstalt solchen Empfehlungen gefolgt. Das Ergebnis der vorliegenden auf den Kulturbereich konzentrierten Studie spricht dafür, dass auch andere Rundfunkanstalten diesem Beispiel folgen, denn eine kritische Analyse, verfasst von unabhängigen Gutachtern, hat einen höheren Glaubwürdigkeitswert als eine von den eigenen Gremien zertifizierte Selbstbeweihräucherung
Ein Lob also für den WDR und für die Autoren der Studie. Der WDR, der über ca. 1,4 Milliarden € Gebühreneinnahmen verfügt und als Einländeranstalt keine Doppel- oder Dreifach-Strukturen unterhalten muss, kann neben den in NRW zu empfangenden Informations- und Kulturprogrammen des Deutschlandradios zwei eigene regionale Hörfunk-Kulturprogramme finanzieren (WDR 3 stärker musik-, WDR 5 stärker wortorientiert); er setzt in 1live programmliche Akzente der Jugendkultur und Jugendmusik und veranstaltet mit dem Funkhaus Europa ein spezifisches Multikultur-Programm. Der Radiohörer in Nordrhein-Westfalen kommt also in den Genuss eines luxuriösen Rundum-Kulturpakets.
Nach penibler Durchsicht der Wirtschaftspläne über einen 15-Jahreszeitraum können die Gutachter belegen, dass beim WDR die häufig beklagte Umschichtung von Etat-Mitteln aus den Kultur- zu Massen- und Trivial-Angeboten nicht stattgefunden hat.
Angesichts der auch von der Politik (nicht in NRW) angezettelten Debatten über eine Reduktion der Rundfunk-Klangkörper unterhält der WDR nach wie vor zwei Orchester, einen Chor und eine Big Band. Er hat sich mit 1live ein Format geschaffen, das jungen Musikgruppen jenseits des Mainstreams und ohne Plattenvertrag Auftrittsmöglichkeiten bietet, und er ist nach wie vor der stärkste Hörspielproduzent im ARD-Verbund.
So beeindruckend diese Leistungen sind und so sehr man sie anderen Landesrundfunkanstalten als Vorbild ans Herz legen möchte, so deutlich werden bei dieser Betrachtung die Nachteile des Systems ARD. Was die eine Landesrundfunkanstalt aufgrund ihres Bevölkerungsschnitts und der damit verbundenen hohen Gebühreneinnahmen für ihre Hörer und für die Kulturwirtschaft des Landes leisten kann, bleibt anderen Sendern aufgrund eines unzulänglichen Gebührenausgleichs verwehrt. Damit wirft die Leistung des WDR zugleich ein Schlaglicht auf strategisch notwendige Reformen innerhalb des ARD-Verbunds. Für einen gleich hohen Gebührenanteil darf der Bürger unabhängig vom Bundesland ein gleichwertiges Programmangebot erwarten. Er bekommt es nicht. Das spricht für eine neues internes Finanzsystem zwischen den Sendern. Solchen strategischen Überlegungen widmet sich die vorliegende Studie nicht. Sie hätten jenseits des klar umrissenen Auftrages zweifellos auch den Unmut des Auftraggebers geweckt, denn ein Grossteil einer solchen Umverteilungssolidarität müsste vom WDR aufgebracht werden.
Was ist Kultur? Was ist Qualität?
Über den aktuellen Untersuchungszweck hinaus dürfte der von der Medienforschung des WDR für die Programmanalyse verwandte „dreistufige Kulturbegriff“ auch für künftige Arbeiten von Bedeutung sein. Dass die streng bildungsbürgerlich gesteuerte Scheidung in E- und U-Kultur angesichts der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen immer schwerer abzugrenzenden Äußerungsformen obsolet ist, gilt inzwischen ebenso als Gemeinplatz wie das Lamento über die Hochstapelei bei der wahllosen Aneignung des Kulturbegriffs – von der Gewalt- bis zur Sadomaso-Kultur. Der hier für die Programmanalyse genutzte Kulturbegriff kennt drei Kategorien:
- Ein „enger“ Kulturbegriff, der sich an der traditionellen E-Kultur orientiert, etwa Theater, Literatur, Film, Konzerthaus-Musik, Jazz, Kabarett;
- ein „mittlerer“ Kulturbegriff, der neben der Alltags- und Regionalkultur Themen der Wissenschaft, der Weltanschauung und der Geschichte umfasst. Und
- ein „weiterer“ Kulturbegriff, der diverse fiktionale Formen, Pop, Karneval und Comedy in seine Obhut nimmt.
Das provoziert die Frage: „Und was ist dann nicht Kultur?“ Die Demokratisierung des Kulturbegriffs lässt wenig Ausschlusskriterien zu. Folgerichtig lässt sich das Alleinstellungsmerkmal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überzeugend nur durch eine über die vorliegende Kategorisierung hinausgehende Qualitätsbewertung belegen.. So wie sich eine gute Pointe von einem abgedroschenen Witz abhebt, lässt sich eine schludrig produzierte Serie von einer handwerklich gelungenen Produktion unterscheiden, und diese wiederum von einer künstlerischen Höchstleistung mit überraschend neuen dramaturgischen Annäherungsformen an ein Thema.
Unbenommen von diesen in der Studie nicht zu leistenden Qualitätsbewertungen werden beim WDR-Hörfunk 21 Prozent der Programmzeit dem engen, 12 Prozent dem mittleren und 39 Prozent einem weiteren Kulturbegriff zugerechnet. Beim WDR-Fernsehen (Drittes Programm) werden 9 Prozent der Sendezeit unter dem „engen“, 15 unter dem „mittleren“ und 16 Prozent unter dem „weiteren“ Kulturbegriff rubrifiziert. Dass sich unter den restlichen 60-Prozent vornehmlich Informationssendungen unterschiedlicher Thematik und Machart befinden, macht das Programm insgesamt nicht schlechter, legt aber nahe, als Grundlage für Qualitätsuntersuchungen im nonfiktionalen Bereich vergleichbare Raster wie in der Kultur zu entwickeln. Sie sind nutzbringend für jede weitere Arbeit.
Dass Qualitätskriterien nicht – wie gern ins Feld geführt wird – allein subjektiven Bewertungen unterliegen, wird beim WDR durch seine Fernseh- und seine Beteiligung an Filmproduktionen eindrucksvoll belegt. Die Studie des Kulturrats verweist auf herausragende und vielfach ausgezeichnete Stücke wie das „Todesspiel“ (Schleyer-Entführung), „Die Manns“, „Die Buddenbrooks“, „Contergan“ und auf Kinokoproduktionen wie „Das Leben der Anderen“ oder „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Solche Höchstleistungen können nur in einem System entstehen, dass neben finanzieller Leistungskraft auch in der Lage ist, kreative Energie freizusetzen und zu fördern. Insoweit dürften auch Einschätzungen wie die des Regisseurs und Drehbuchautors Michael Meert, dass es beim WDR einen Mangel an gesellschaftlich engagierten Filmen mit künstlerischem Anspruch gebe, zu relativieren sein.
Es spricht für die Verfasser der Studie, dass sie den eigenen Erkenntnissen und Bewertungen ausführliche Gespräche mit Künstlern und Kulturvermittlern zur Seite stellen. Als langjährige Partner der Landesrundfunkanstalt können sie das Bild vom „Kulturakteur“ WDR ergänzen und auf Probleme hinweisen, die von grundsätzlicher kulturpolitischer Bedeutung sind. Während die Studie unterstützt vom Vertreter der IHK Köln auf die enorme kulturwirtschaftliche Bedeutung des Senders (4.500 festangestellte, nahezu 2.000 arbeitnehmerähnliche Mitarbeiter, 18.000 freie) hinweist, der im ganzen Land als Auftraggeber sowohl im technischen wie im künstlerischen Bereich auftritt, führen Autoren Klage, dass die Ungewissheit über die Auftragsvergabe und die erwarteten Vorleistungen ihre ökonomische Situation weiter verschlechtern. Auch ein öffentlich-rechtlicher Sender kann keine Abnahmegarantie bieten. Über eine ökonomische Ausstattung, um dauerhaft langfristige Projekte und Piloten zu entwickeln, verfügen nur noch besonders erfolgreiche und in allen Genres tätige kommerzielle Unternehmen, etwa im Umfeld der Ufa. Diesen Spielraum kann selbst eine so finanzstarke Rundfunkanstalt wie der WDR nicht schaffen.
Dankeswert ist, dass der Kulturrat sich bei der Bewertung der freien Mitarbeit klar von der Forderung der Bundestags-Enquete-Kommission absetzt, anstelle einer freien Tätigkeit die Zahl der Festanstellungen zu erhöhen. Eine solche Empfehlung ist bei der Finanzlage der Rundfunkanstalten vollkommen unrealistisch, aber mehr noch sprechen inhaltliche Argumente dagegen. In der Studie wird die flexible kreative Leistung der freien Mitarbeiter gewürdigt. Die Honorierung beim WDR wird als finanziell angemessen beurteilt.
Besonderes Augenmerk richtet die Studie auf das Modell der „Kulturpartnerschaft“, die der Sender mit Kulturinstitutionen des Landes eingeht. Der ursprünglichen Befürchtung, der WDR wolle sich durch Zusicherung einer Berichterstattung, lediglich eine dominierende Stellung für seine PR-Auftritte in der Region verschaffen, tritt der Sender durch ergänzende Initiativen wie Netzwerktreffen zum Informationsaustausch und durch die Gründung eines Vereins zur Sponsoren-Ansprache entgegen. Eine Berichterstattung über kulturelle Ereignisse kann nur aufgrund redaktioneller journalistischer Erwägungen erfolgen; sie darf nicht von einer vertraglich verabredeten Kulturpartnerschaft abhängig sein. Da die Studie die Übernahme dieses Netzwerk-Modells auch den anderen Rundfunkanstalten empfiehlt, sollte nachdrücklich auf die damit verbundenen Versuchungen hingewiesen werden. Ein Geschäftszweig „Berichterstattung gegen vertragliche Bindung und PR-Auftritt des Senders vor Ort“ widerspräche dem Gebot der beidseitigen Unabhängigkeit von Kultur und Journalismus.
„Medienkoloss WDR überempfindlich?“, „Besser als sein Ruf“ – so überschreiben die Autoren zwei Absätze ihres Schlusskapitels. Damit sprechen sie Mentalitätsfragen an, die über den untersuchten Sender hinaus exemplarisch für die ARD sind. Es fehlt häufig an einem entspannten Verhältnis zur eigenen Leistung. Die öffentlich erhobenen Vorwürfe über eine Verletzung des Grundversorgungsauftrags und eine Anpassung an die kommerziellen Anbieter, haben weniger zu einer Öffnung gegenüber den Kritikern, sondern oft zu einer Abkapselung geführt, die letztlich Ausdruck von Unsicherheit ist. In dieser Abwehrhaltung verfangen sich die besten Argumente. „Erstaunlicherweise erweist sich der Sender der Superlative, der Medienkoloss WDR, immer wieder als äußerst empfindlich. Auf Kritik wird teilweise scharf reagiert. Es kann nicht sein, dass der WDR nicht der Beste ist.“ So beschreiben die Autoren der Studie eine Stimmungslage, die es dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht leicht macht, seine Position offensiv und argumentativ zu vertreten. Sein Ingroup-Denken führt zwangsläufig zu taktischen Missgeschicken, wie die Ankündigung von Tagesschau-Apps genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Verleger entsprechende Bezahlmodelle entwickeln. Unternehmen, die sich abschotten, verlieren die Sensibilität gegenüber dem Wettbewerber. Insoweit empfiehlt die Studie entspanntes Selbstbewusstsein anstatt verspannter Selbstgerechtigkeit.
Die auf den WDR gemünzten Schlusssätze haben Geltung für den gesamten Senderverbund: „Der WDR muss ein normales Verhältnis zu seiner Stärke entwickeln, dann braucht er keine Überheblichkeit und kann als Sender der Superlative selbstbewusst seine kulturellen Leistungen zeigen.“ Dass er Anlass dazu hat, beweist diese Studie. Aber dass die Autoren als Auftragnehmer in so ungewohnter Deutlichkeit sprechen, weist auf einige schmerzhafte Erfahrungen hin, vor denen sie andere bewahren möchten. Ihr guter Rat an den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk lautet: Kritikern souverän zu begegnen und nicht abwehrend und kleinkariert, selbstbewusst, aber nicht selbstgerecht.
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Der Autor
Ernst Elitz war von 1994 bis 2009 Gründungsintendant des Deutschlandradios. Er lehrt an der Freien Universität Berlin Kultur- und Medienmanagement.