Am Samstag, den 30. Januar 2010, kürte die von Peter Ludes gegründete „Initiative Nachrichtenaufklärung“ (INA) an der Universität zu Bremen die Top 10 der 2009 von der Medienberichterstattung vernachlässigten Themen. Seit 1997 wählt eine mit Journalisten und Wissenschaftlern besetzte Jury jährlich zehn Themen, die trotz Brisanz oder hoher Bedeutung für die Öffentlichkeit ihren Weg in die Medien nicht gefunden haben. Diese Themen sollen dank der Auszeichnung stärker in die öffentliche Diskussion gelangen.
Für das Jahr 2009 gab es 120 Themenvorschläge, die bei der an der Technischen Universität Dortmund beheimateten Initiative Nachrichtenaufklärung INA als von deutschsprachigen Medien vernachlässigt gemeldet wurden. Vor dem Ranking der INA-Jury hinsichtlich gesellschaftlicher Brisanz wurden die vorgeschlagenen Themen eingehend auf faktische Korrektheit, Überprüfbarkeit der Quellen sowie nachweisbare Unterrepräsentanz in den Medien geprüft.
Die zehn wichtigsten Themen, die nach Ansicht der INA im vergangenen Jahr zu unrecht ein Schattendasein in der Medienberichterstattung führten, sind:
1. Notstand im Krankenhaus: Pflegebedürftige allein gelassen
Eine halbe Million Menschen in Deutschland braucht im Alltag eine Pflegekraft. Kommen diese Menschen ins Krankenhaus, müssen fast alle von ihnen auf diese Hilfe verzichten. Denn die Pflegeversicherung zahlt dann keine Betreuung mehr, weil in der Klinik angeblich eine ausreichende Versorgung gewährleistet sei. Tatsächlich haben die Pflegekräfte in den Krankenhäusern bereits zu wenig Zeit für ihre normalen Aufgaben, besonderen Bedürfnissen können sie noch weniger gerecht werden. Häufige Folgen sind: Mahlzeiten werden zu schnell abgeräumt, Patienten mit auffälligem Verhalten werden durch Medikamente ruhig gestellt. Ein Gesetz, das 2009 erlassen wurde, sollte das Problem lösen – es hilft aber nur etwa 500 Betroffenen in ganz Deutschland. Über die Missstände und über das unzureichende Gesetz wurde kaum berichtet.
2. Psychiatrie: Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht
In Deutschland dürfen Menschen zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen werden, wenn Fachleute annehmen, dass sie eine Gefahr für sich oder Andere darstellen. Die UN-Behindertenrechtskonvention hingegen schreibt vor, dass Zwangseinweisungen nur bei strafrechtlich relevantem Verhalten erlaubt sind. Sie gilt seit 2009 auch in der Bundesrepublik, doch bei ihrer Umsetzung in nationales Recht wurde die Vorgabe durch Einfügen eines Wortes ausgehebelt: Statt „Eine Freiheitsentziehung aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt“ heißt es nun: „Eine Freiheitsentziehung allein aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt.“ Eine Änderung der umstrittenen Praxis wird so umgangen. Von Menschenrechtsanwälten und Patientenorganisationen ist dieses Vorgehen kritisiert worden; die Medien aber haben das Thema weitgehend ignoriert.
3. Kriegsberichterstattung lenkt von zivilen Friedensstrategien ab
Zivile Konfliktbearbeitung als Alternative zu militärischer Intervention wird öffentlich kaum diskutiert, obwohl sie Krisenregionen befrieden kann. Erfolgreiche Beispiele hierfür sind der Nepal-Konflikt oder die Loslösung der baltischen Staaten von der Sowjetunion. Doch Medien berichten selten über kontinuierliche Verhandlungen und konstruktive Prozesse wie Runde Tische oder präventive Diplomatie, da Journalisten häufig auf Gewalt und spektakuläre Ereignisse achten. Gerade weil sich Deutschland weltweit militärisch in Konflikten engagiert, sollten zivile Alternativen öffentlich gemacht werden.
4. Rechtswidrige Anwendung von Polizeigewalt
Auch in einem Rechtsstaat wie Deutschland kommen gewaltsame Übergriffe der Polizei vor. Diese Fälle werden selten aufgeklärt, denn gegen die Verdächtigen ermittelt die Staatsanwaltschaft, deren wichtigste Helfer die Polizisten sind. Kommt es dennoch zu Gerichtsverfahren, werden diese meistens eingestellt. Polizisten, die häufig neben den Opfern die einzigen Zeugen sind, sagen selten gegeneinander aus. Die Medien berichten nur über spektakuläre Einzelfälle. Es mangelt jedoch an Informationen über das alltägliche Problem und darüber, dass es keine unabhängige Ermittlungsinstanz gibt.
5. Lücken der Finanzaufsicht bei Kirchen
Kirchliche Einrichtungen öffentlichen Rechts – beispielsweise katholische Klöster ohne angeschlossenen Betrieb – sind steuerbefreit und werden deshalb von den Finanzbehörden nicht kontrolliert. Sie gelten per se als vertrauenswürdig. Das bietet die Möglichkeit, durch überhöhte Spendenquittungen an Steuerhinterziehungen mitzuwirken. Über diese Lücken der Finanzaufsicht und die potentiellen Steuerschlupflöcher wird in den Medien kaum berichtet. Deshalb wird in der Öffentlichkeit nicht darüber diskutiert, ob das Vertrauen in die kirchlichen Einrichtungen berechtigt ist.
6. Mangelhafte Deklarierung von Jodzusatz in Lebensmitteln
Eine starke Lobby propagiert – unterstützt von der Pharmaindustrie – den Zusatz von Jod in Lebensmitteln. Dabei leiden etwa zehn Prozent der Deutschen an Jod-Unverträglichkeiten, während gleichzeitig auf Jodmangel beruhende Erkrankungen in der Bevölkerung abnehmen. Zudem belegen Studien, dass zu viel Jod Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse verstärken kann. Seine Zugabe muss aber oft nicht auf Lebensmittel-Verpackungen deklariert werden. Dies macht es Betroffenen schwer, jodhaltige Nahrungsmittel zu meiden. Über die fehlende Wahlfreiheit der Verbraucher wird in den Medien kaum berichtet.
7. Patente auf menschliche Gene und Gensequenzen
Entschlüsselte menschliche Gene und Gensequenzen können patentiert werden. Das betrifft zum Beispiel Gene, die zu Bluthochdruck oder Brustkrebs beitragen. Die Monopolstellung der Patentinhaber wie Forschungseinrichtungen und Unternehmen hindert konkurrenzfähige Firmen an der Entwicklung alternativer Medikamente und macht unabhängige Forschung teuer. Auch für Patienten können Nachteile entstehen, weil lizenzfreie Behandlungswege von den Krankenkassen aus Kostengründen bevorzugt werden. Über Chancen, Risiken und Konsequenzen der Gen-Patentierung wird nicht themenübergreifend berichtet.
8. Schulen für Gehörlose unterrichten keine Gebärdensprache
In den meisten deutschen Gehörlosenschulen wird den Schülern keine Gebärdensprache beigebracht. In Deutschland leben rund 80.000 Gehörlose. Wissenschaftler streiten seit Jahrzehnten darüber, ob sie die Gebärdensprache erlernen sollten. Häufigstes Gegenargument: Dadurch würden die Betroffenen aus der Gesellschaft ausgegrenzt.
Stattdessen sollten die Schüler die Lautsprache lernen. Kritiker wenden ein, dass nur 30 Prozent der gesprochenen Sprache von den Lippen abgelesen werden kann. In den Medien wird das Thema bestenfalls als fachpädagogische Debatte behandelt.
9. Mangelnde Kontrolle deutscher Rüstungsexporte
Seit Jahren gehört Deutschland zu den weltweit größten Rüstungs- Exporteuren, auch von so genannten „Dual Use“- Gütern, die sich sowohl zivil als auch militärisch nutzen lassen. Eines der Kontrollinstrumente, der jährliche Rüstungsexport-Bericht der Bundesregierung, wird dem Bundestag mit großer Verspätung vorgelegt und auch kaum debattiert. Aufgrund mangelnder Kontrolle landen deutsche Waffen regelmäßig auch in Krisenregionen wie Darfur, Georgien oder Afghanistan. Die sehr aufwändige Recherche des heiklen und komplexen Themas leisten Medien nur in Ausnahmefällen.
10. Sondermüll beim Bauen und Sanieren
Auch nach dem Verbot von Baustoffen wie dem krebserregenden Asbest werden in Deutschland noch Materialien verwendet, die für Mensch und Umwelt problematisch sind. Dazu gehören Chemikalien in Wand- und Bodenbeschichtungen, die Allergien auslösen können. Dabei gibt es für so gut wie alle Materialien eine ökologische Alternative, künstliche Dämmstoffe wie Styropor ließen sich durch Naturstoffe wie Flachs, Hanf oder Wolle ersetzen. Dass die breit thematisierte Wärmedämmung mit der Entsorgung dieser Materialien belastet ist, wird allenfalls in Fachmedien und Sonderbeilagen aufgegriffen.
Die ausführliche Top-10 aus 2009 sowie die Top-Themen der vergangenen Jahre sind auch online einzusehen.
Eine Antwort zu “Top 10 der vernachlässigten Themen”
Bei der Auswahl spielt die gesellschaftliche Relevanz der Themen eine wichtige Rolle. Kritisch könnte man einwenden, dass man dadurch eine Fülle von Themen vor sich hat, die medial völlig unterschiedlich behandelt werden. Auch die Gründe für eine mögliche Vernachlässigung sind unterschiedlich. So kommt der als Top 1 auf der Liste genannte Pflege-Notstand durchaus in den Medien vor. Allerdings wird er oft als ein individuelles Problem abgehandelt. Die Verbindung zu einer Sozialpolitik, die den Pflegekräften ihre Arbeit immer schwerer macht, wird dagegen seltener gezogen.
Dagegen wird in den wenigsten Medien thematisiert, dass die seit einem Jahr auch für Deutschland verbindliche UN-Behindertenkonvention in Widerspruch zur weiterhin praktizierten zwangsweisen Einweisung von Menschen in psychiatrische Kliniken steht. Die Gründe liegen weniger in einer direkten Zensur, sondern in gesellschaftlichen Konventionen, denen auch Medienvertreter ausgesetzt sind. Eine Aneinanderreihung von angeblich vernachlässigten Themen bleibt unbefriedigend, wenn nicht die Zusammenhänge in jedem einzelnen Fall aufgezeigt werden. Zudem stellt sich die Frage, wie weit auch das Internet in die Medienanalyse einbezogen worden ist.