22. Februar 2006 | Bildung und soziale Ungleichheit

Wie sieht es um die Bildungschancen in Deutschland, Herr Muñoz?

von Christian Füller (taz). Berlin


Das Außenministerium hatte den UNO-Sondergesandten für Bildung, Vernor Mu?oz, nach Deutschland eingeladen. Im ganzen Land besuchte er im Februar Schulen. Sein Fazit: Kinder aus Einwandererfamilien haben erhebliche Probleme, ihr Recht auf Bildung zu verwirklichen.

Lesezeit 3 Minuten

Christian Füller: Herr Muñoz, Sie haben viele Schulen besucht. In welcher würden Sie am liebsten lernen?
Vernor Muñoz Villalobos: Am besten hat mir die Gesamtschule Bonn-Beuel gefallen.

Weil Sie Gesamtschulen gut finden?
Nein, nicht wegen des Schultyps. Mir hat die offene und herzliche Stimmung in dieser Schule gefallen, die Migranten integriert, in die Behinderte wie Nichtbehinderte gehen.

Was hat Sie bei bei Ihrer Deutschlandreise am meisten beeindruckt?
Ich bin in ein Land gekommen mit einer reichen Bildungskultur und einer großen Tradition. Aber die Positionen darüber, wie Lernen und Schule auszusehen haben, sind sehr verhärtet. Ich habe mich mit klaren Fronten konfrontiert gesehen – etwa über die Vielzahl von Schulformen .

Wir sind gespannt. Sind Sie diplomatisch? Oder sagen Sie klar, was Sie denken?
Ich will mich nicht in die Diskussion einmischen. Aber ich finde, alle am Schulleben Beteiligten, Lehrer, Eltern, Schüler, Parlamentarier und Regierungen, sollten eine Debatte beginnen im Bezug auf die Struktur des Bildungswesens.

Sie meinen, dass das dreigliedrige Schulsystem überwunden werden muss.
Die Schulformen in den Bundesländern sind sehr unterschiedlich. In manchen Ländern im Osten der Republik gibt es nur noch zwei Schulformen. In anderen Bundesländern drei, manche haben sogar vier Schularten. Das hat Auswirkungen auf die Mobilität. Aber es geht nicht nur darum, sondern um guten Unterricht und die Rolle der Lehrer.

Ist es von Vorteil, die Schüler im Alter von zehn Jahren auf verschiedene Schulzweige zu verteilen?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die frühe Verteilung der Schüler Probleme löst. Diese Auslese ignoriert oft die tatsächlichen Leistungen der Schüler. Die Iglu-Studie hat gezeigt, dass 44 Prozent der Viertklässler in Schultypen sortiert werden, die nicht ihrem Potenzial entsprechen. Das bedeutet: Das Schulsystem zwingt den Schülern diese schlechten Resultate auf.

Was kann man da tun?
Das Prinzip heißt: Schule muss sich am Potenzial jedes einzelnen Schülers orientieren, nicht der Schüler am Schulsystem.

Es gibt viele Sonderschulen hierzulande. Forscher haben vor wenigen Tagen beklagt, dass die Lernfortschritte von Kindern dort nach mehreren Jahren minimal sind. Untersuchungen zeigen, dass sogar ihr IQ zurückbleibt. Wie denken Sie über diese Schulen?
Natürlich gibt es manchmal Behinderungen, bei denen Kinder einer besonderen medizinischen Pflege bedürfen. Grundsätzlich aber sollte Schule die Vielfalt der Welt widerspiegeln – und nicht Trennungen verstärken. Wir leben in einer Welt, in der alle zusammengehören und miteinander leben müssen, Deutsche, Costaricaner, Schwarze und Weiße.

Die Lernerfolge von Einwandererkindern sind schlechter als die von Kindern deutscher Muttersprache. Wie kann man diese Situation verbessern?
Es ist wichtig, diese benachteiligten Gruppen zu integrieren. Bereits die Pisa-Studien hatten gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lernergebnissen in Deutschland besonders eng ist.

Werden die Migranten genug gefördert?
Kinder mit Migrationshintergrund sind in den Gymnasien stark unterrepräsentiert, in der Hauptschule sind sie deutlich überrepräsentiert – jeder kann das sehen. Es geht jetzt wirklich darum, Strategien umzusetzen.

Die Kultusminister haben bereits mit besserer Sprachförderung begonnen.
Es geht nicht nur um Sprachförderung. Es handelt sich um eine soziale Diskriminierung. Die Aufstiegschancen der Bevölkerungsgruppen sind sehr unterschiedlich verteilt. Darum geht es, man muss jetzt entschieden dagegen vorgehen.

Wie?
Das wichtigste Thema ist die Chancengleichheit. Der Staat muss wirklich alles unternehmen, um die Schüler aller Schichten optimal zu fördern. Das ist übrigens schon eine demografische Herausforderung. In wenigen Jahren wird es ja nicht nur viel weniger junge Menschen geben, es werden vor allem auch viel mehr Kinder mit Migrationshintergrund hier leben. Man muss sich entscheiden, was man will: Kindern aller Begabungen eine Chance geben – oder sie als Last empfinden. Und dann sollte Deutschland unbedingt die Vorbehalte zurückziehen, die es immer noch gegen die UN-Kinderrechtskonvention hat.

Sie haben das Schulsystem jetzt zehn Tage kennen gelernt. Was kann man in dieser kurzen Zeit erfahren?
Ich habe mich diesem faszinierenden Bildungswesen angenähert. Aber wissen Sie, manchmal habe ich das Gefühl, dass nicht alle Deutschen ihr kompliziertes Schulsystem wirklich verstehen.

Ist das Recht auf Bildung hier für alle Kinder garantiert?
Nein, natürlich nicht. Das finden Sie fast nirgendwo auf der Welt.

© Das Interview wurde in der TAZ vom 22. Februar 2006 veröffentlicht

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Hintergrund

Vernor Muñoz, der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Bildung, reiste eine Woche durch Deutschland, um zu untersuchen, ob und wie hierzulande das Recht auf Bildung verwirklicht ist. Er besuchte Schulen und Kindergärten in Bonn, München, Potsdam und Berlin, redete mit Politikern und Menschenrechtlern – insgesamt 36 Termine in einer Woche.
Die Reiseroute wurde von deutschen Behörden und Ministerien minutiös geplant. Doch Muñoz hat sie immer wieder spontan abgeändert.



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