27. März 2006 | Interkulturpolitik

Für ein gleichberechtigtes Miteinander der Kulturen

von Christina Weiss, Staatsministerin a.D..


Die kulturelle Dimension von Migrationsbewegungen wird in der öffentlichen Debatte, in den Wissenschaften und in der Praxis des Kulturbetriebs immer noch unterschätzt.

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Es wird zunehmend deutlich, dass der Umgang mit kultureller Pluralität zu einem der Grundpfeiler der Zivilgesellschaft wird. Dies gilt für einzelne Gemeinwesen ebenso wie für die globalisierte Welt. Kultur beschreibt die Lebensweise in einer Gesellschaft, sie leitet die Verständigung über Werte, Ziele, Konflikte und Visionen. Im Zusammenleben der Menschen mit verschiedener Nationalität und Herkunft wird der Aspekt des Interkulturellen immer wichtiger. Multiethnische Gesellschaften eröffnen und verlangen zugleich neue Optionen der Wahrnehmung, des Denkens und der Kommunikation.

Eine sich zunehmend ausformende Weltgesellschaft verlangt uns allen eine enorme, noch nie eingeübte Orientierungsleistung ab. Die pluralistische Gesellschaft kann nicht mehr darauf angelegt sein, allein einer spezifisch westlichen Kultur des Individualismus den Vorrang zu geben und andere Kulturen mehr oder weniger tolerant zu behandeln, letztlich aber doch zu vereinnahmen. Aus dem Nebeneinander muss ein gleichberechtigtes Miteinander werden.

Die Kunst lehrt uns, mit der immer komplexer werdenden Welt umzugehen. Sie ist die Erfahrung einer positiven Pluralität par excellence. In den Künsten gibt es eine vollkommen gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlichster Gestaltungsmöglichkeiten und Weltsichten. Die historischen Formen bleiben uneingeschränkt neben den neuen gültig, auch dann, wenn Schulen einer Epoche miteinander im Streit liegen. Kunstdebatte meint auch einen Streit verschiedener Ansichten, der zu spannungsvoll widerstreitenden Produktionen führt.

Kunsterfahrung und ästhetisches Denken sind besonders dazu geeignet, die Wirklichkeit zu erfassen. Sie verdeutlichen die Variabilität heutiger Weltbezüge und werden so zum Labor interkultureller Verständigung. Das Training im ästhetischen Prozess entwickelt eine Reihe wichtiger Fähigkeiten, die im Alltag unabdingbar sind ? ich nenne hier nur die Aspekte Subjektivitätsbildung, Sinnesschärfung und Wahrnehmungsvermögen. Um sie auszuprägen, gibt es keine Alternative zu den Künsten ? die rein intellektuell erworbene Einsicht wird den Anteil der sinnlichen Wahrnehmung und des Spielerischen niemals aufwiegen können. Die politische Dimension dieser Überlegungen liegt auf der Hand: Es geht in der heutigen Gesellschaft insgesamt darum, Differenzen auszuhalten, die eigene Lebensform nicht zum Maß der Dinge zu machen. Dies geht nur, wenn wir kulturelle, vor allem auch interkulturelle Lern? und Kommunikationsprozesse ermöglichen und fördern. Aus der Auseinandersetzung mit der Kunst lassen sich Energien und geistige Offenheit gewinnen. Und geistige Offenheit ist die elementare Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens in multikulturellen, von Migration geprägten Gemeinwesen.

Deutschland versteht sich ? im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, aber auch einer Reihe unserer europäischen Nachbarn ? nur bedingt als Einwanderungsland. Diese Selbsteinschätzung wird allerdings durch die demografischen Fakten nicht bestätigt. Um nur eine Zahl zu nennen: 12 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind im Ausland geboren, in den Vereinigten Staaten dagegen beträgt der entsprechende Anteil nur 9 Prozent. Die Bundesrepublik Deutschland hat lange gebraucht, um eine unverstelltere, realitätsorientierte Sicht auf Migrantinnen und Migranten zu entwickeln, und dieser Prozess kann keineswegs als abgeschlossen bewertet werden. Das über Jahrzehnte gebrauchte Wort vom »Gastarbeiter« ist in diesem Zusammenhang durchaus aufschlussreich: Es verweist auf die Vorstellung einer kulturell homogenen Nation, in der Zuwanderer den Status von vorübergehend Anwesenden haben und nicht als genuiner Teil der eigenen Gesellschaft begriffen werden.

Die Wahrnehmung von Migrantinnen und Migranten in Deutschland hat sich mangels klarer Integration allzu häufig auf ihren rechtlichen und sozialen Status verengt. Dies kann keine gute Voraussetzung für das Aufbrechen von kulturellen Stereotypen sein. Wesentliche Aspekte des kulturellen Lebens von Migrantinnen und Migranten bleiben verborgen, sie entfalten sich nur subkutan. Die kulturelle Dimension von Migrationsbewegungen wird in der öffentlichen Debatte, in den Wissenschaften und in der Praxis des Kulturbetriebs immer noch unterschätzt.

© Dr. Cristina Weiss, 2004; Kulturpolitische Gesellschaft, 2004.

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Der Text erschien 2004 in: Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.). inter. kultur. politik. – Kulturpolitik in der multiethnischen Gesellschaft. Essen: Klartext Verlag, 2004. Herzlichsten Dank an Frau Dr. Christina Weiss und an die Kulturpolitische Gesellschaft für die freundliche Gewährung der Rechte.



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