26. Juli 2006 | Nahostkonflikt

Wenn die Selbstverteidigung zum Verbrechen wird…

von Davide Brocchi. Köln


Die Öffentlichkeit kann zwischen Tätern und Opfern des Nahostkonflikts nicht mehr unterscheiden – denn der Rache einer Kriegspartei folgt hier eine noch härtere Rache der anderen Kriegspartei.

Lesezeit 4 Minuten
Der Spiegel, 15.10.1973
Der Spiegel, 15.10.1973. Foto: Der Spiegel

Trotz der dramatischen Bilder aus dem Libanon – oder vielleicht gerade deshalb – veröffentlichte Spiegel-Online am 23. Juli einen Artikel des Publizisten Matthias Küntzel mit dem Titel: „Warum Israel richtig reagiert.“ Darin war zu lesen: „Israel führt einen gerechten Krieg: Deutschland und die EU sollten sich unzweideutig auf Israels Seite positionieren […] Die Forderung nach Waffenstillstand ist gleichbedeutend mit der Fürbitte, die Hisbollah zu verschonen und zu retten […] Israels Waffeneinsatz hat schon jetzt unerwartet positive Entwicklungen ausgelöst.“

Auch Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier haben in den letzten Wochen wiederholt ermahnt, Ursachen und Wirkungen der neuen Eskalation nicht durcheinander zu bringen. Dabei meinten sie nicht den völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak, sondern die unakzeptable Provokation der Hisbollah-Militien gegen Israel: „Für alle Konsequenzen dieser Tat sind nun die Terroristen allein verantwortlich!“

Angesichts der sinnlosen Zerstörung und der hohen Zahl der zivilen Opfer in Libanon erscheint eine solche einseitige Einstellung von Tag zu Tag unangebrachter. Sie darf so nicht mehr stehen bleiben. Die israelische Regierung und insbesondere ihre High-Tech-Armee haben es wieder geschafft, Recht in Unrecht umzuwandeln. 

Nicht die Möglichkeit der Verteidigung oder gar die Existenz Israels steht hier zur Diskussion. Die gezielte Bekämpfung von verbrecherischen Gruppierungen und des faschistoiden Denkens ist richtig. Was hingegen kritisch hinterfragt werden muss, ist die Art, die Reichweite und das Ziel der israelischen Reaktion in Libanon. Sie sieht bisher so aus: eine intensive Bombardierung des ganzen libanesischen Staatsgebiets, die seit mehr als zwei Wochen andauert; Zerstörung von Infrastrukturen, bewohnten Straßenzügen und sogar einem UN-Stützpunkt; Hunderttausende Menschen auf der Flucht.

Die israelische Armee hat die Bevölkerung im Südlibanon aufgefordert, die Region zu verlassen. Gleichzeitig hat sie aber die Fluchtwege bombardiert. Die US-Menschenrechtsgruppe „Human Rights Watch“ hat Israel den Einsatz von Streugranaten bei einem Angriff auf ein libanesisches Dorf vorgeworfen. Studien im Irak und im Kosovo haben gezeigt, dass der Einsatz von Streumunition stets mit zahlreichen zivilen Opfern einhergehe.

Am 21. Juli sah die Bilanz der Opfer so aus: 35 Tote in Israel, 340 in Libanon. Leider sind diese Zahlen in den letzten Tagen weiter angestiegen, sowohl in Israel als auch in Libanon. Das Opfer- und Zerstörungsverhältnis hat sich aber kaum geändert. In Libanon spricht man inzwischen von mehr als 1.000 Toten. Diese krasse Asymmetrie ist kein Zufall. Die Bilanz vergangener Konflikte in dieser Region sah ähnlich aus.

Es ist nicht das erste Mal, das Israel so „reagiert“. Und ohne die politische Deckung der USA wären solche Reaktionen undenkbar. Das Militär hat sowohl in Israel als auch in den USA einen besonders hohen Stellenwert. Eine entsprechende militärische Kultur ist in beiden Regierungen und Parlamenten stark vertreten, wobei die Begriffe „Verteidigung“ und „Angriffskrieg“ immer wieder miteinander ausgetauscht werden.

Die US-Regierung nutzt seit einigen Jahren den 11. September oder die Gefahr neuer terroristischer Attacken als Vorwand für die Umsetzung umfangreicher militärischer Pläne aus, die schon in der Schublade lagen (s. geostrategische US-Interessen in der Golf-Region). Welche Rolle Israel, Libanon, Syrien und Iran in diesen Plänen spielen, konnte bisher nur erahnt werden.

Terroristische Attacken werden immer wieder mit einem Blanko Check für die Generäle gleichgestellt. Die Soldaten dürfen dann ihrem destruktiven Spieltrieb freien Lauf lassen und genießen dabei beinah Straffreiheit (die USA sind der stärkste Opponent des Internationalen Strafgerichtshofs). Dass ein solcher Kontext Menschenrechtsverletzungen beinah fördert und sichert nicht hindert, kann nicht wirklich überraschen. 

Sowohl die amerikanische als auch die israelische Armee sind technologisch so entwickelt und gerüstet, dass sie enorme Schäden anrichten können, ohne je dem Feind vom Angesicht zu Angesicht begegnet zu sein. Der Krieg ist für sie wie ein Computerspiel, das irgendwo aus einem sicheren Raum geführt und verfolgt wird. Der Unterschied zwischen Simulation und Wirklichkeit kann in einer solchen Situation kaum wahrgenommen werden. Dabei sollte man sich ernsthaft fragen, (a) wie man mit dem Leben realer Menschen in solchen Räumen umgeht; (b) ob sich die Kommandozentralen wirklich dessen bewusst sind, welche gewaltigen Zerstörungen ihre Befehle verursachen.  

Spätestens die freie Berichterstattung der Journalisten vor Ort sollte ihnen diese Möglichkeit bieten. Problematisch wird es, wenn die Generäle diese Berichterstattung als tendenziös betrachten, nur weil sie ihnen Gewissenskonflikte bereitet. Immer wieder versucht das Militär, die Berichterstattung der Medien zu beeinflussen oder gar zu manipulieren (s. Irak-Krieg).

Es wird immer wieder betont, dass Israel eine Bastion der Demokratie im Nahen Osten ist. Doch jede echte Demokratie braucht eine strikte Trennung zwischen Politik und Militär, die in Israel (noch) nicht gegeben ist: Viele israelische Premierminister kamen bisher aus der Armee. Die demokratischen Strukturen sind oft den militärischen untergeordnet – und nicht umgekehrt.

Matthias Küntzel, der Autor des oben genannten Spiegel-Artikels, vergisst, dass „faschistoide Gruppierungen“ nicht nur außerhalb Israels wüten – sondern auch innerhalb. Die Ermordung Jitzhak Rabins hatte gravierende Konsequenzen, sowohl für den Friedensprozess als auch für die israelische Gesellschaft gehabt. Sie werden immer noch unterschätzt. Der Faschismus innerhalb Israels sollte mit der gleichen Vehemenz bekämpft werden, wie jener außerhalb.



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