Es ist ja nicht so, dass niemand mehr etwas sagt. Von allen Seiten erschallen laute Stimmen, die vor den Folgen des Neoliberalismus warnen, die Risiken der Biowissenschaften anprangern oder die Aushöhlung des Völkerrechts diagnostizieren. Und das Feuilleton ist nach wie vor der Ort, an dem soziale und politische Fragen mit Tiefgang debattiert werden und sich, im Gegensatz zu den allwöchentlichen Talkshowrunden, eine Art kritische Öffentlichkeit artikuliert, die profunde Vorschläge zur Lösung drängender Probleme macht.
Aber seit längerem schon sieht es so aus, als habe es denjenigen, die Nietzsche einmal die „freien Geister“ nannte, die Sprache verschlagen. Der Intellektuelle, zumal der kritische, scheint verstummt zu sein. Die jüngsten Reformprozesse zeigen erneut, wie wenig den etablierten Sozialkritikern zu den aktuellen Gesellschaftsfragen einfällt. Wo bleibt der intellektuelle Protest gegen den so genannten Sozialabbau? Warum äußert sich niemand aus den Reihen der professionellen Denker zur Privatisierung der Rentenvorsorge, zur Kopfpauschale oder zu Hartz IV? Wieso klagt niemand den Umstand an, dass Managergehälter das durchschnittliche Einkommen um das Zwei- bis Dreihundertfache übersteigen?
Der Umstand, dass für die Beurteilung dieser Entwicklungen ökonomischer Sachverstand und Expertenkenntnisse erforderlich sind, kann nicht der Grund für das Schweigen sein. Bisher hat sich noch kein Intellektueller davon abhalten lassen, Dinge zu kritisieren, von denen er nichts versteht. Kritik hieß bisher ja nicht unbedingt, etwas zu begreifen, sondern den Verhältnissen etwas anderes entgegenzusetzen. Weder Sartre noch Adorno waren volkswirtschaftliche Fachleute, gleichwohl bliesen sie zum Sturm auf die Bastionen des Kolonialismus und Spätkapitalismus. Sollten die heutigen Intellektuellen etwa klüger geworden sein? Studieren sie möglicherweise erst das Sozialgesetzbuch, bevor sie sich in der Öffentlichkeit äußern?
Der Punkt ist ein anderer. Den engagierten Geistern ist das Vertrauen in hilfreiche Rezepturen und aussichtsreiche Reparaturen restlos abhanden gekommen. Verloren gegangen ist die Zuversicht, eine Antwort auf die Fragen der Zeit zu finden, die auch nur die nächsten Tage überdauern wird. Im Inneren der Dinge hat sich eine abgründige Ungewissheit eingenistet, die sich durch keine noch so klare Analyse austreiben lässt. Schon der Streit um die Verlängerung der Arbeitszeit offenbart, mit welchen Unsicherheiten man konfrontiert wird, wenn es um die Schaffung neuer Arbeitsplätze geht, die ohne staatliche Interventionen oder andere Eingriffe in bestehende Verhältnisse realisiert werden sollen. Wie sieht es erst aus, wenn das gesamte Steuersystem geändert oder soziale Unterstützungen völlig gestrichen werden?
Heinz Bude hat kürzlich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, wie sinnlos all das Gerede von Reformen ist, wenn man nicht weiß, wohin diese führen sollen. In der Tat setzt der Umbau einer Gesellschaft voraus, dass eine gewisse Einigkeit über Ziele und Zwecke besteht, die Beteiligten eine Vorstellung haben, in welche Richtung die Reise geht. Momentan scheint dies niemand zu ahnen. Eine Umfrage des BAT-Instituts hat zutage gefördert, dass die Deutschen den Übergang vom Vorsorgestaat zur Leistungsgesellschaft, wo jeder für sich selbst sorgen muss, eingesehen haben. Zugleich wünscht sich fast die Hälfte mehr Zeit für Muße und Hobbys, aber auch für Familie und Freunde.
Die Einsicht in das Leistungsprinzip und der Wunsch nach Lebensqualität stehen gegenwärtig schroff nebeneinander. Die Stärkung der Eigenverantwortung wird akzeptiert, während man mehr Freizeit, Urlaub und Vergnügen will. Für diese Widersprüche gibt es zahlreiche Beispiele. Unternehmen wird ihre rücksichtslose Betriebsführung vorgehalten, derweil sich das Land in eine Nation der Schnäppchenjäger verwandelt. Der ökologisch aufgeklärte Konsument prangert die USA für ihre Umweltpolitik an, bevor er für eine Hand voll Euro in den Süden fliegt.
Solange der Bürger nicht sagen kann, was letztlich für ihn wichtig ist – das schöne Leben oder die Sorge um die Natur, der eigene Arbeitsplatz oder das Wohl der Gemeinschaft -, hat es der Gesellschaftskritiker schwer. Woher soll er die Reformziele nehmen, wenn die Betroffenen selbst nicht wissen, was sie wollen? Die Zeiten, in denen der Intellektuelle sich zum Vormund der unbedarften Masse erklären konnte, sind, Gott sei Dank, vorbei. Soziale Zielsetzungen lassen sich nur kooperativ, durch kommunikative Prozesse festlegen. Aber auch das funktioniert nicht mehr. Denn der soziale Rahmen, der ehemals die kollektiven Interessen bündelte, ist längst zerbrochen.
Die Gesellschaft, darin liegt das Hauptproblem, ist zu einem System ohne Eigenschaften geworden, an dem jede Kritik abprallt. Der französische Politologe Jean-Christophe Rufin hat in seinem Buch „Die Diktatur des Liberalismus“ schon vor zehn Jahren die „ungewöhnliche Kraft der demokratischen Gesellschaften“ beschrieben, „sich zunutze zu machen, was sich ihnen entgegenstellt“. Die liberale Kultur, so Rufins Diagnose, hat durch ihre „Nachgiebigkeit triumphiert“. Ihr Vermögen besteht darin, auch noch das zu absorbieren, was sie im Kern bedroht. Durch Neutralität und Toleranz verwandelt der Liberalismus jeden Widerstand in kinetische Energie, die in die Selbstorganisation der sozialen Systeme einfließt, ohne sie mit der Kompetenz zur Wahrnehmung eigener Ziele auszustatten.
Die Gesellschaft ohne Eigenschaften lebt nicht von Unterscheidungen, sondern von Vermengungen. Sie verschlingt die Programme und Projekte, die sie hervorbringt. Es hat deshalb wenig Sinn, die Gesellschaft weiter zum Bezugsrahmen von Kritik zu machen. So gesehen war Niklas Luhmann einer der letzten Gesellschaftskritiker, als er forderte, „die mit ,Kritik‘ bezeichnete Unterscheidung durch die Unterscheidung von Beobachtern zu ersetzen“, die „zur Anwendung des Begriffs der Beobachtung auf sich selber“ führt. Denn die Beobachtung zweiter Ordnung bleibt auf Unterscheidungen angewiesen, die in der Gesellschaft vollzogen werden, die sie beschreiben soll. Wenn die Gesellschaft als Umwelt der Systeme nicht mehr existiert, lassen sich auch keine triftigen Unterscheidungen mehr vollziehen.
Luhmann hat in seiner Fixierung auf die operative Geschlossenheit den Umstand vernachlässigt, dass soziale Systeme mit fortschreitender Komplexitätssteigerung ineinander übergreifen und sich bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermengen. Wo hört die Wirtschaft auf und fängt die Politik an? Was genau unterscheidet das Recht vom Staat? Wie können Religion und Moral voneinander abgegrenzt werden? Diese Fragen lassen sich immer schwerer beantworten, zumal mit den herkömmlichen Mitteln der Gesellschaftskritik, die auch noch in Gestalt der Systemtheorie und ihren Konzepten der reflexiven Beobachtung fortlebt.
Was also tun? Axel Honneth hat von einem „Dilemma“ gesprochen, in dem sich die Gesellschaftskritik befindet: „Einerseits scheint kein rationaler Weg mehr offen zu stehen, um normative Urteile öffentlich zu rechtfertigen, die sich auf mögliche Pathologien in einer Gesellschaft beziehen; andererseits aber scheint gleichzeitig auch weiterhin Bedarf an solchen kritischen Diagnosen zu bestehen, weil nur durch sie die Chance einer therapeutischen Selbstkritik offen gehalten wird“.
Angesichts dieser Situation liegt es nahe, die Einübung in die Ungewissheit, mit der die Gesellschaftsdiagnostiker konfrontiert werden, zum letzten Ausweg zu machen. Wir brauchen, so lauten die Forderungen, eine Art experimentelle Vernunft, die provisorische Maßnahmen ergreift und hypothetische Gesetze erlässt. Der Ruf nach Kontingenzmanagement und Ambivalenzbewältigung bleibt jedoch höchst unbefriedigend. Dass die Verhältnisse unsicher und die Dinge mehrdeutig sind, wissen wir längst. Da hilft die Beschwörung von praktischer Klugheit, intelligenten Lösungen und mehr Pragmatismus kaum weiter.
Die Erkenntnis, dass die sozialen Entwicklungen hochgradig paradox sind, muss nicht immer wieder neu betont werden. Jeder sieht, dass einzelne Freiräume geschaffen werden, die andere Freiheiten zersetzen. Das Austragen von Widersprüchen ist die Minimalbedingung des Lebens in der Moderne. Die Frage ist vielmehr, wo die Kritik anzusetzen hat, wenn es keine stabilen Koordinaten mehr gibt, die normativen Referenzpunkte ins Trudeln geraten sind und die Gesellschaft zu einem diffusen Raum eigenschaftsloser Prozesse geworden ist.
Bevor so etwas wie Gesellschaftskritik wieder möglich wird, muss die Spürbarkeit der sozialen Ereignisse zurückgewonnen werden. Die aktuellen Reformen sind ein Weg in diese Richtung. Sie lassen den Einzelnen spüren, dass die Umverteilungsmaschinerie nicht ohne Reibungsverluste läuft, Transferzahlungen aus Geld bestehen und Einkommensunterschiede kein Fatum sind. Wenn das Bewusstsein für natürliche Ungleichheit wächst, steigt auch die Bereitschaft, für Gleichheit zu sorgen. Die Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme rufen Schmerzen hervor, die wachrütteln und zur Selbsttätigkeit motivieren.
Der Liberalismus ist ein System der Narkotisierung, Abnabelung und Entmündigung. Er raubt seinen Mitgliedern die Zurechnungsfähigkeit durch „fürsorgliche Vernachlässigung“ (Paul Nolte). Verantwortliches Handeln setzt Zurechenbarkeit voraus, die nicht durch staatliche Unterstützung und fremde Hilfe, sondern durch die Selbstzuschreibung von Leistung und Versagen entsteht. Dafür müssen allerdings Bedingungen berücksichtigt werden, die nicht in der Macht der Handelnden liegen: ihre Fähigkeit zur Lebensplanung, materielle und ideelle Ressourcen, Entscheidungsspielräume und Wissenshorizonte, Gesundheit und Bildungschancen.
Ohne Hintergrundsicherheiten bleibt die Forderung nach mehr Eigenverantwortung unverantwortlich, ohne den Entzug von Absicherungen kommt keine produktive Selbstzurechnung zustande. Gesellschaftskritik, soweit sie noch Sinn macht, ist Aufgabe der Betroffenen, sie müssen ihre Bedürfnisse artikulieren, ihre Maßstäbe formulieren, sich selbst engagieren. Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder wissen, wie sie leben wollen, lässt sich darüber reden, was sie gemeinsam tun sollen.
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Über den Autor
Der Autor ist Philosoph. 2003 erschien sein Buch „Kritik der Verantwortung“ im Verlag Velbrück Wissenschaft. Er leitet eine Forschungsgruppe zum Thema „Kulturen der Verantwortung“ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen.