»Der Mensch ist, was er isst« – für die meisten wird die ursprüngliche Schreibweise wie auch die Herkunft dieses Satzes, der zu den meist zitierten (gastro)philosophischen Sätzen zählt, im Unklaren sein.
Wie sich unschwer ergooglen lässt, hat dieses Diktum inzwischen auch auf vielen Homepages Einzug gehalten. Dabei werden die eigentlichen philosophischen Hintergründe durch eine Form der Alltagsphilosophie ersetzt. Das mag in der Konsequenz der Intention des Urhebers dieses Satzes, Ludwig Feuerbach, durchaus mehr entsprechen, als es den Anschein hat, denn Feuerbach bringt in dieser sprichwörtlich gewordenen Formel seine fundamentale Kritik an einer Anthropologie zum Ausdruck, die in einer dualistischen Trennung und idealistischen Überhöhung der Seele gegenüber dem Leib und des Geistes gegenüber dem Körper, der Vernunft gegenüber der Natur und des Bewusstseins gegenüber dem bloßen Sein ihre tragenden Prämissen besitzt. In seiner 1846 erschienenen Streitschrift »Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist« wendet sich Feuerbach gegen die Auffassung, dass sich die menschliche Wirklichkeit primär oder gar ausschließlich im Geist abspielt. »Der Leib«, so Feuerbach, »ist die Existenz des Menschen; den Leib nehmen, heißt die Existenz nehmen; wer nicht mehr sinnlich ist, ist nicht mehr«.
Das ist philosophisch keinesfalls eine Neuerung, wenn man an die »longue durée« der aristotelischen De anima-Tradition denkt, die in der radikalen Interpretation durch Thomas von Aquin auch die geistige Seele unauflöslich mit dem Körper verband, so dass ihre Trennung als unnatürlich gelten muß. Das Denken ist ebenso an die Sinne gebunden wie die Seele an den Körper. Will man verstehen, was der Mensch ist, so muss man ihn zur Gänze und als Ganzes begreifen, d.h. man muß auch verstehen, was der Mensch isst.
Damit zeichnen sich die Umrisse einer Gastrophilosophie ab, die ich in vier Variationen skizzieren möchte. Hierzu möchte ich die Leser zu einem intellektuellen Spiel mit den Variationsmöglichkeiten unseres gastrophilosophischen Fundamentalsatzes einladen, die ich in der Überschrift bereits angedeutet habe.
(1) Der Mensch ist, was er ist
Zu fragen, was etwas ist, heißt nach dem Wesentlichen fragen. Damit weist die Frage nach dem, was etwas ist, über die bloße Existenz hinaus, über die Erkenntnis, dass etwas ist. Was also ist der Mensch? Die traditionelle Antwort wird in Form einer Definition gegeben, die eine allgemeine Einordnung in eine Gattung mit einer spezifischen Differenz versieht, die aus einem Alleinstellungsmerkmal gewonnen wird: Der Mensch, so lautet die bekannte Definition, sei ein »animal rationale« ein vernunftbegabtes Sinnenwesen. Wie alle übrigen Sinne, Dispositionen und Antriebe fällt auch der Geschmack unter das Differenzkriterium der Vernünftigkeit. Denn – so lehrt uns die Anthropologie – die Vernunft tritt nicht zu den übrigen Eigenschaften hinzu wie die Sahnehaube auf eine Stück Torte, sondern bestimmt alle Eigenschaften des Menschen durchgängig und wesentlich. Der Mensch ist in seinem Verhalten nicht durch vorgegebene Verhaltensmuster festgelegt, vielmehr instinktentsichert, in seinem Handeln variabel und plastisch. Diese Variabilität betrifft auch die biologischen Grundakte wie Sexualität und Ernährung. Obgleich »Allesfresser«, muss der Mensch sein Überleben auch ernährungstechnisch in die Hand nehmen, um zu überhaupt zu überleben.
(2) Der Mensch isst, was er isst
Dieser Satz ist zweifellos analytisch wahr. Doch was gewinnen wir durch die Aussage, dass der Mensch genau das isst, was er isst, für unsere gastrophilosophische Analyse? Vielleicht könnten wir aus diesem Satz eine kleine Ontologie der Nahrungsmittel ableiten. Denn es steht außer Frage, dass der Mensch nahrungstechnisch genau das isst, was er isst, auch wenn die Lebensmittelchemie es uns in zunehmenden Masse anderes suggeriert. Welcher Erdbeerjoghurt ist noch mit Erdbeeren gemacht? Dann aber essen wir keine Erdbeeren, sondern eben jenes chemische Endprodukt aus »naturidentischen Aromastoffen«, das u.a. aus Sägespänen gewonnen wird. Ich lade ein zu einem Blick auf die im Haushalt vorhandenen Nahrungsmittel. Woraus besteht die Tiefkühlpizza wirklich, was enthält der biologisch besonders wertvolle Müsliriegel? Wir essen, was wir essen, nicht was wir zu essen glauben – oder was uns zu essen glauben gemacht wird!
(3) Der Mensch isst, was er ist
So variabel unsere menschliche Natur ist, so vielfältig ist unser Essen. Wohl auf keine andere Weise kann man die Varianz und Gestaltungsoffenheit unseres Handelns so plastisch illustrieren als durch die Vielfalt der Zubereitung von Nahrung, die über die biologische Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme weit hinausgeht. Lassen wir einmal die Frage von Mangel und Hunger außer Betracht, so ist selbst die einfachste Küche vielgestaltig: abhängig von den Möglichkeiten und Intuitionen der Umgebung und der Menschen, die sich in vielfältigen Esskulturen niederschlägt. In der Vielfalt der Esskulturen spiegelt sich die Mannigfaltigkeit der Handlungsmöglichkeiten, der Überschuss an Möglichkeiten, der experimentelle Grundzug menschlichen Handelns. Der Mensch ist von Natur aus neugierig, er will Neues ausprobieren und sein Wissen beständig erweitern. (Anmerkung: Selbst die Fastfood-Küche muss in regelmäßigen Abständen diesem Hang zum Neuen nachgeben und neue Produkte »erfinden«.) Diese Neugier bezieht sich gleichermaßen auf die Vernunft wie auf die Sinne; sie ist ein weiteres Indiz für die Weltoffenheit unserer ganzen Natur. Intellektuelle und sinnliche Offenheit sind zwei Seiten einer Medaille. Genau in diesem Sinn bedeutet »sapere« im Lateinischen sowohl »weise sein« wie auch »schmecken«.
(4) Der Mensch ist, was er isst.
Essen ist für den Menschen also nicht bloß Befriedigung eines biologischen Bedürfnisses, sondern Teil seiner »zweiten Natur«, die er gestalten muss. Das gilt nicht nur für die ganz konkrete Auswahl der Nahrungsmittel, ob sie uns zuträglich sind oder schaden. Essen ist weit mehr noch Ausdruckshandlung und Sozialhandlung. Mit der Wahl eines Restaurants oder als Gastgeber zeigen wir nicht nur die Höhe der Wertschätzung, die wir unserem Gast entgegenbringen, sondern wir zeigen auch etwas von dem, wer wir sind: Genießer oder Asket, knausrig oder großzügig, neugierig oder das Vertraute liebend, einsamer Genießer oder Freund großer Tafeln. Ebenso vielfältig wie die private ist die öffentliche Esskultur. So gibt es kaum eine öffentliche Veranstaltung, bei der nicht gegessen und getrunken wird. Auf diese Weise wird das Essen selbst zum »Event« – sogar auf der medialen Bühne der mannigfaltigen Fernsehkochshows, die zunehmend gern als Wettbewerbe um den besten Geschmack inszeniert werden. Doch wer genau zuschaut, entdeckt auch hier, dass Essen verbindet – selbst über Kulturen hinweg. Es ist der Geschmack, der uns eine Welt selbst dann aufzuschließen vermag, wenn uns die Sprache hierfür (noch) fehlt.
© Cultura21, 25.9.2009
…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
Der Autor
Andreas Speer ist Professor für Philosophie an der Universität zu Köln und Direktor des Thomas-Instituts.