Aktivierung statt Vertrauen
Unzählig sind die Beispiele, die man bemühen könnte, um unsere Arbeitsversessenheit und das Mißtrauen in die Bürger deutlich zu machen. Seit März diesen Jahres propagiert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Initiative 50plus. Wer das 50. Lebensjahr überschritten hat, soll bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Unternehmen werden diverse Entlastungen angeboten, wenn sie Erwerbssuchende, die die entsprechenden Kriterien erfüllen, einstellen. Kritiker dieses Vorhabens weisen auf ein hausgemachtes Problem hin, das erst durch die Politik der Vorruhestandsregelung entstanden sei. Teils haben sie damit recht. Doch auch die Kritiker der aktuellen Initiative wollen an der Arbeitshauspolitik festhalten, für die die Erhöhung der Erwerbstätigenquote der höchste Zweck ist – darin sind sie sich mit dem Bundesministerium und den Parteien einig. Arbeitsmarktpolitisch sei das Ziel erreicht, wenn sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden, dazu ist beinahe jedes Mittel recht, wenn auch die Wege dahin sich unterscheiden.
Hängt aber die Leistung eines Mitarbeiters nicht vor allem davon ab, daß er die Aufgabe, die er übernimmt, auch gerne und mit Hingabe erledigt? Hängt die Bereitschaft, sich einer Aufgabe beharrlich zu widmen, nicht auch davon ab, daß ein Mitarbeiter wirklich gebraucht und nicht aus Alibi-Gründen angestellt wird? Ist es nicht in jeder Hinsicht so, ganz gleich für welche Tätigkeit, daß die Voraussetzung von Leistung und Engagement der freie Entschluß des Einzelnen ist, sich mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen?
Für den Zusammenhang von freiem Entschluß, Begeisterung für eine Sache und Leistung gibt es viele Belege. Man schaue sich nur das ehrenamtliche Engagement an oder Eltern, die sich ihren Kindern mit Hingabe widmen. Die Bürger setzen sich doch in vieler Hinsicht, häufig unspektakulär und im Hintergrund, für unser Gemeinwesen ein, alleine schon die Loyalität zu unser politischen Ordnung bezeugt, daß Freiwilligkeit der Grund und Boden ist, auf dem unser Gemeinwesen steht.
Dennoch, wider besseres Wissen, erdenken wir uns alle möglichen Instrumente, um Freiheit zu verhindern. Lieber stecken wir Bürger in Arbeitsplätze, die aus Steuermitteln subventioniert werden, damit sie für Unternehmen attraktiv sind, als daß wir dem Einzelnen vertrauen und ihm überlassen, wo er sich engagieren will. Kombilöhne, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, aktivierende Sozialhilfe – wie die Programme und Strategien auch immer heißen, sie haben nur einen Zweck: Erwerbsarbeit zu schaffen und zu fördern. Staatlich finanzierte Arbeitsbeschaffung ist uns wichtiger als die Ermöglichung von Freiheit und Engagement.
Statt eines Aufbruchs zu neuen Ufern dümpeln wir im Brackwasser des überkommenen Reformgetues – statt einer Stärkung unserer Freiheit, herrscht noch immer das Arbeitshaus. Dies scheint vielen nicht weit genug zu gehen: der Druck auf Arbeitslose sei bislang zu gering, so manche, deswegen müsse er erhöht werden. Das sei nur mit einer Optimierung der Hartz-Gesetze zu erreichen, denn nur so komme unsere Volkswirtschaft wieder in die Gänge. Statt sich zu fragen, weshalb eine erzwungene Arbeitsaufnahme z.B. in der Spargelernte erfolglos ist und Leistungsbereitschaft gerade nicht fördert, wird die fehlende Arbeitsmoral beklagt. Von nötigen ‚Anreizen‘ zur Arbeitsaufnahme wird gesprochen, ohne sie, so die Apologeten, lungern wir – die Bürger – nur herum. Überall wird moralische Verwahrlosung befürchtet, sollten wir auf Kontrolle und Druck verzichten.
Das Versagen der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre ist aber darin begründet, daß sie Leistungsbereitschaft gerade untergräbt; darauf sind die Verfechter der aktivierenden Sozialpolitik noch nicht gekommen. Aber nicht nur das. Noch schlimmer sind die Folgen dessen, was unablässig als Lösung gepriesen wird: es richtet sich schon lange gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen Gemeinwesens. In einer derart anti-freiheitlichen Politik muß doch vielmehr die Ursache für die Resignation in unserem Land gesehen werden. Wie soll sich Initiative entfalten, wo Mißtrauen herrscht – ein Mißtrauen, das sich in jeder Talkshow ausleben darf – auch wenn es in der Rhetorik der Eigenverantwortung oder auch der sozialen Gerechtigkeit daherkommt.
Warum drängen wir Bürger dazu, irgendeine Arbeit anzunehmen, wo doch seit Jahrzehnten das Arbeitsvolumen, gemessen in Gesamt-Jahresarbeitsstunden, sinkt, zugleich aber das Bruttoinlandsprodukt steigt? Wir benötigen weniger Arbeitskraft, um mehr Güter und Dienstleistungen bereitzustellen als je zuvor. Wir sollten daraus Konsequenzen ziehen und die Chance der Freiheit ergreifen, die sich uns bietet. Doch bislang scheitert dies an unserem Mißtrauen gegen eine freiheitliche Lösung unserer Probleme, eine Freiheit, die uns ein bedingungsloses Grundeinkommen verschaffen könnte.
Einer der zentralen Einwände gegen diesen Vorschlag entspringt dem enormen Mißtrauen, das allerorten anzutreffen ist. Dem Einzelnen wird per Generalverdacht unterstellt, daß er keinen Beitrag leisten werde, wenn er die Freiheit habe, sich auch gegen Erwerbsarbeit zu entscheiden. Eine folgenreiche Annahme liegt diesem Verdacht zugrunde: der Einzelne identifiziere sich nicht mit dem, was er tue, er finde darin keine Erfüllung. Engagement jeglicher Art, vor allem Arbeit, sei in erster Linie Qual und Fremdbestimmung. Wer so denkt, kann nicht anders, als die Bürger mit ständiger Bedrängung und Kontrolle dazu anzuhalten, ihren Beitrag zu leisten. Für manche unerwartet, bei genauer Betrachtung folgerichtig, sitzen hier Marktverklärer und Arbeitsumverteiler in einem Boot, denn beide gehen davon aus, wir Bürger müßten zur Arbeit angehalten werden. Marktverklärer und Arbeitsumverteiler mißtrauen dem Individuum in gleicher Weise, eine Allianz, die uns besser verstehen läßt, weshalb es in unserem Land nicht vorangeht. Beide können sich gar nicht vorstellen, daß der Einzelne einen Beitrag leisten will – von sich aus. Er will ihn aber nicht dort leisten, wo es den Arbeitspredigern gefällt, sondern dort, wo er sein Engagement für angebracht und wichtig hält.
Ohne Freiheit kein Wohlstand
Fragen wir uns hingegen, was die Voraussetzungen für unseren Wohlstand sind, stoßen wir auf einen Zusammenhang, den wir offenbar nicht wahrhaben wollen. Sowohl Arbeitsleistung gemessen an ihrem Erzeugnis, wie auch bürgerschaftliches Engagement gehen vom Einzelnen aus. Er muß beides wollen. Das Gemeinwesen muß ihm Möglichkeiten bieten, seinem Wollen, seiner Neugierde und Bereitschaft auch nachgehen zu können. Ganz gleich, worauf sich die Interessen des Einzelnen richten, dort wo er sie nach seiner Wahl zur Entfaltung bringen kann, wird das Gemeinwesen sich selbst ebenso gerecht wie der Würde des Einzelnen. Zudem sind Verläßlichkeit und Gewissenhaftigkeit, die auch das Ausüben einfachster Tätigkeiten erfordert, immer Ergebnis freiwilligen Engagements, niemals Ergebnis von Zwang und Angst. Angst befreit nicht, auch spornt sie nicht an, sie lähmt.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte uns aus dieser Misere hinausführen. Was genau ist darunter zu verstehen?
Bedingungsloses Grundeinkommen
Wer erhält es?
Jeder Staatsbürger erhält es von der Wiege bis zur Bahre, Kinder wie Erwachsene. Es ist ein Bürgereinkommen, wird im Voraus gewährt, verlangt keine Gegenleistung. Genau darin unterscheidet es sich von allen Transferzahlungen (ALG I und II, Rente, Sozialhilfe usw.), die wir heute haben.
Jeder soll sein Leben nach seinem Dafürhalten in die Hand nehmen und sich dort engagieren können, wo er es für richtig und wichtig hält. Wer Hilfe und Unterstützung benötigt, weil er nicht weiß, wie er die Freiheit nutzen soll, wird sie sich – wie heute auch – verschaffen. Beratung kann natürlich weiterhin angeboten werden, aber ein Angebot setzt voraus, daß es abgelehnt werden kann. Darin unterscheidet es sich von den sogenannten Angeboten der Arbeitsagenturen und Argen.
Arbeitslos wäre niemand mehr, denn jeder könnte dort initiativ werden, wo er es für richtig hält. Gleichgesinnte könnten sich zusammenfinden, aber auch hier gilt: sie können, sie müssen nicht. Wer für seine Leistung keine Nachfrage findet, kann sich ihr dennoch weiterhin widmen, oder er wird sich eine überlegen, die andere interessanter finden.
Je höher das bedingungslose Grundeinkommen wäre, desto größer die Freiheit, die wir uns ermöglichen. Je niedriger es wäre, desto mehr entstünde wieder ein Zwang, ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Es sollte deswegen so hoch als möglich sein.
Familie
Pro Kopf gewährt, würde ein solches Grundeinkommen Familien absichern (2 Erwachsene, 2 Kinder = 4 Grundeinkommen), zu jeder Zeit. Eltern könnten sich ihren Kindern widmen, sie benötigten kein Erwerbseinkommen, um die Familie zu versorgen. Auch beruflichen Erfolg anzustreben, läge ganz in ihrer Hand, doch würden sie nicht mehr dazu genötigt. Im Vergleich zur heutigen Familienpolitik könnten wir den Eltern mehr Entscheidungen überlassen, statt sie ihnen zu verordnen, wie es mit dem Elterngeld geschieht.
Jugend
Einfacher als heute wäre es für Jugendliche, einen eigenen Haushalt zu begründen. Geduldig herauszufinden, was sie interessiert, wäre gewünscht. Als Muße würde erkennbar und lebbar, was heute als Herumtrödelei beklagt wird. Herauszufinden, worin die eigenen Stärken liegen, dazu würden – nicht nur – Jugendliche ermuntert. Wofür sie auch immer sich dann interessierten, entscheidend wäre, daß sie es wirklich wollen – das ist die beste Voraussetzung für Leistung und damit für unsere Zukunft als Gemeinwesen.
Bildungswesen
Das Bildungswesen sollte sich auf die Maxime gründen, Neugierde zu fördern und Erfahrung zu ermöglichen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit welcher Sache auch immer wäre erstrebenswert – statt kurzfristiger Orientierung am Arbeitsmarkt. Den Kindern und Jugendlichen die Chance zu geben, Interessen ihren Neigungen gemäß zu bilden, daran muß uns gelegen sein. Dies ist die beste Grundlage dafür, ein freiheitliches Leben zu führen und zum Gemeinwohl beizutragen.
Unternehmen und Mitarbeiter
Organisationen, öffentliche wie private, wären aufgerufen, um Mitarbeiter zu werben. Gute Arbeitsbedingungen müßten sie bieten, um attraktiv und interessant zu sein. Mitarbeiter wären kostbar, denn wer arbeitete, unternähme dies aus freien Stücken, wäre besonders motiviert. Das Grundeinkommen im Rücken verliehe Verhandlungsmacht. Erwerbseinkommen, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Abfindungsregelungen frei auszuhandeln, wäre möglich. Unsere Diskussion über das Renteneintrittsalter, die schon heute von gestern ist, wäre dann von vorgestern. Unternehmen könnten radikal und offensiv automatisieren. Menschliche Arbeitskraft zu schonen und Lebenszeit zu gewinnen, wäre erwünscht und erstrebenswert. Erwerbsarbeit ist kein Selbstzweck, ihr Zweck ist es, Güter und Dienstleistungen hervorzubringen – daran muß sich unsere Wirtschaftspolitik orientieren.
Engagement und Anerkennung
Nur das bedingungslose Grundeinkommen eröffnet eine radikale Entscheidungsmöglichkeit. Dieser Freiheit entspräche eine Zumutung: Ganz gleich, wofür man sich entscheidet, es muß eine vernünftige Antwort auf die Chance der Freiheit darstellen. Denn mit der Entscheidung der Gemeinschaft, die Freiheit der Bürger zu stärken, ginge auch eine Verpflichtung einher: Die Freiheitschancen müßten vernünftig genutzt werden. Worin aber eine vernünftige Nutzung bestünde, würde nicht vorgeschrieben. Ob im Beruf, dem bürgerschaftlichen Engagement oder in der Familie: Die Entscheidung wäre jedem einzelnen von uns überlassen und aufgegeben.
Vertrauen
Ein bedingungsloses Grundeinkommen hat eine unerläßliche Voraussetzung: Wir müssen in die Gemeinwohlbindung unserer Bürger vertrauen. Wir müssen darauf vertrauen, daß der Einzelne seinen Beitrag leisten will. Dies ist schon heute die Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung – das Grundeinkommen wäre nur ihre Fortentwicklung.
© Sascha Liebermann, 30.10.2006
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Der Autor
Sascha Liebermann ist einer der Gründer der Initiative „Freiheit statt Vollbeschäftigung