Es ist Zeit für eine neue umfassende Umweltpolitik. Denn wir müssen zwei Schocks verkraften: Der Klimawandel ist keine entfernte Möglichkeit mehr, sondern bereits eingetreten – und neue Formen geopolitischer Instabilität lassen die Preise für Öl und Gas in die Höhe schnellen.
Die EU ist bei ökologischen Fragen weltweit führend. Aber es ist uns noch nicht gelungen, die ökologische Agenda umfassend mit den Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu verbinden. Einstweilen werden die beiden Themen behandelt, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Dabei kann Europa die Welt anführen bei der ökologischen Modernisierung. Die Entwicklung neuer ökologischer Techniken und – genauso wichtig – neuer Lebensstile könnte sogar den weiteren Rückgang der europäischen Wettbewerbsfähigkeit verhindern. Ja, dürfte die Erneuerung Europas vorantreiben.
Die Informationstechnologie hat in den vergangenen dreißig Jahren unsere Ökonomien und unser Leben verwandelt. Sind auf dem Gebiet der Umwelt und der Energie eine Schlüsselentdeckung oder mehrere Entdeckungen denkbar, die unser Leben im Verlauf der nächsten dreißig Jahre ebenso sehr verändern wird? Menschen beschäftigen sich nur mit solchen Problemen, die sie lösen können, hat Karl Marx einmal gesagt. Für das 21. Jahrhundert erscheint das kein besonders passendes Motto zu sein, aber wenigstens für einige der Umweltfragen dürfte es sehr wohl zutreffen. In dem Maße, in dem die Versorgung mit fossilen Brennstoffen schwieriger wird und die Erscheinungen des Klimawandels immer spürbarer, wird der Innovationsdruck immer stärker.
Im Februar 2006 hat die schwedische Regierung ihre Absicht verkündet, Schweden bis 2020 zur ersten modernen Ökonomie der Welt zu machen, die sich völlig aus ihrer Abhängigkeit vom Erdöl befreit. Wie Japan reagierte Schweden in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts rigoros auf den Anstieg der Ölpreise. Das Land hat seine Abhängigkeit vom Erdöl von 77 Prozent im Jahr 1970 auf 32 Prozent 2003 gesenkt. Im selben Jahr stammten 26 Prozent der verbrauchten Energie aus erneuerbaren Quellen, verglichen mit durchschnittlich nur 6 Prozent in den Ländern der EU 15.
Heute stammt buchstäblich der gesamte Strom in Schweden aus nichtfossilen Quellen – zu denen gegenwärtig auch die Kernenergie gehört. Zudem eifert Schweden dem Vorbild Brasilien nach und will innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeit die meisten Autos auf Biokraftstoffe umstellen.
Der Energiemarkt in Europa ist im Rahmen der politischen Strategie der Europäischen Union inzwischen umfassend liberalisiert und privatisiert worden. Jedoch gibt es im Grunde keinen gemeinsamen Markt, sondern nur eine Anzahl von bilateralen Abkommen – ein Überbleibsel aus der Zeit, als Energie billig und reichhaltig vorhanden war. Der Handel ist begrenzt, und jedes Land betreibt seine eigene Vorratshaltung. Innerhalb der EU würde eine größere Vernetzung zugleich die Energiesicherheit verbessern und die Kosten senken. Stromversorgung funktioniert als Netzwerk. Es wäre daher sinnvoll, dieses Netzwerk europaweit zu betreiben. Jede neue Investition in eine Energiequelle würde Europa insgesamt zugute kommen.
Strom lässt sich nicht lagern, Gas dagegen durchaus. Die Idee der Lagerung von Gas auf europäischer Ebene verdient ernsthafte Erwägung. Anders als Öl ist Gas eine regionale Energiequelle, weshalb sich die Frage der Energiesicherheit hier ebenfalls auf der regionalen Ebene stellt. Maßnahmen in diese Richtung brauchen nicht zu bedeuten, dass die Mitgliedstaaten der EU weitere Kompetenzen aufgeben müssen; sie könnten vielmehr zwischen den Regierungen geregelt werden.
Die Strategie der nachhaltigen Entwicklung verbindet sehr zu Recht Energiefragen und Klimawandel. Sie erhebt sogar den Anspruch, einen Fahrplan für beides durchzusetzen. Die EU ist der führende Akteur gewesen, als es darum ging, Unterstützung für das Kioto-Protokoll zu organisieren. Sie ist zugleich Pionier auf dem Gebiet des regionalen Emissionshandels als Mittel zur Einhaltung der Kioto-Ziele.
Eine entscheidende Entwicklung besteht darin, dass einzelne Menschen und Gruppen beginnen, Umweltfragen ganz oben auf der Liste der Prioritäten zu platzieren. In Japan etwa sind Bürger und Organisationen heute schon bereit, umweltfreundliche Produkte zu kaufen, selbst wenn sie mehr kosten als andere. Je mehr sich solches Verhalten entwickelt, desto größer sind die Anreize für Produzenten, darauf zu reagieren, und desto größer ist zugleich die Chance, Economies of Scale, also Wirtschaftlichkeit durch Masse, zu erzielen.
Nationalstaatliche Regierungen haben dabei eine tragende Rolle zu spielen, indem sie Gesetze so entwerfen und Steuersysteme so strukturieren, dass sie zu Änderungen des Verhaltens beitragen. Viel kann jedoch zugleich auf der Ebene der EU getan werden, besonders um die Effizienz auf dem Energiemarkt und die Vernetzung der Versorgung zu verbessern.
Die notwendigen umweltpolitischen Konsequenzen gehen natürlich weit über die hier diskutierten Fragen hinaus. Sie betreffen erheblich mehr als das, was üblicherweise unter „Umwelt“ verstanden wird:
1. Ökologische Fragen, besonders solche im Zusammenhang mit dem Klimawandel, gehören heute ins Zentrum von Theorie und Praxis der Sozialstaatlichkeit. Die Rechte und Pflichten der Bürger können sich nicht mehr nur auf den traditionellen Bezugsrahmen des Sozialstaates beziehen. Es gilt einen positiven Begriff von Wohlfahrt zu finden, der den Wandel von Lebensstilen betont: nicht mehr bloßes Risikomanagement nach dem Schadenseintritt, sondern vorbeugende Strategien zur Verbesserung der Lebensqualität.
2. Einen übergeordneten Orientierungsrahmen bietet das Prinzip der ökologischen Modernisierung. Es besagt, dass solche Investitionen getätigt werden, die der Umwelt entweder durch technischen Wandel oder durch steigende Wettbewerbsfähigkeit nützlich sind. Jedoch spielt das Handeln des Staates auf nationaler wie auf übernationaler Ebene eine zentrale Rolle. Zu den entscheidenden politischen Aufgaben zählt es, die Lebensstile zu verändern und günstige Bedingungen für Forschung und Entwicklung zu schaffen. Zudem gilt es, langfristige Investitionen attraktiv zu machen.
3. Umweltfragen müssen der vermeintlichen Zuständigkeit der grünen Bewegung entzogen werden, weil sie anderenfalls wie die Angelegenheit einer bestimmten Interessengruppe aussehen. Grüne Konzepte und Fachausdrücke sollten grundsätzlich mit Misstrauen betrachtet werden – ganz besonders dann, wenn sie eine Rückkehr zur Natur propagieren, wenn sie Wissenschaft und Technik ablehnen oder dem marktwirtschaftlichen Wettbewerbsprinzip feindselig gegenüberstehen.
4. Wir sollten in dem Bewusstsein handeln, dass der Klimawandel bereits stattfindet und sich seine schädlichen Auswirkungen schon mittelfristig verschlimmern werden. Deshalb sollten bekannte und mögliche Gefahren jetzt bekämpft werden, etwa in Hochwassergebieten. Dabei müssen Versicherungs- und Gesundheitsaspekte berücksichtigt werden. Die Europäische Union sollte einen Index möglicher Schadensfälle erstellen und durch nationale und gesamteuropäische Handlungspläne ergänzen.
5. Es bestehen gute Chancen, die bisherige Energiepolitik zu erneuern, ja zu revidieren, und dies so weit wie möglich innerhalb des Bezugsrahmens der ökologischen Modernisierung. Um für nötige Investitionen die richtigen Bedingungen zu schaffen, werden Initiativen auf der Ebene der EU ebenso wie in deren Mitgliedstaaten nötig sein. Die physische Verbindung der europäischen Stromnetze und die Verwirklichung eines gemeinsamen Plans zur Sicherung und Lagerung von Gas sollten dabei eine entscheidende Rolle spielen.
6. Die von der EU benannten Pläne sowohl zur Befriedigung des europäischen Energiebedarfs als auch in Reaktion auf den Klimawandel sind ehrgeizig. Gegenwärtig fehlen jedoch effektive Instrumente zu ihrer Verwirklichung. Dennoch ist zu fragen, ob selbst die bisherigen Langfristziele überhaupt ehrgeizig genug sind. Einige europäische Länder beabsichtigen, deutlich schneller voranzukommen. Wie erfolgreich sie dabei sind, sollte genau beobachtet werden.
© Der Artikel wurde in der TAZ vom 27.-29. Mai 2006 veröffentlicht