In einer ersten Annäherung ist die Sache noch einfach: Die Umweltbewegung, so kann man ohne Umschweife sagen, wurde aus ästhetischem Protest geboren. Ich erinnere mich, wie sich mir das Herz zusammenzog, als ich in meinen frühen Erwachsenenjahren – Ende der 60er-Jahre – mit einem Anblick konfrontiert wurde, der den Keim für mein umweltpolitisches Engagement legte: Dort, wo immer Bier unter breit ausladenden Kastanien ausgeschenkt worden war, am Stiglmaierplatz in München, hatten von heute auf morgen Motorsägen und Planierraupen ihr Werk getan und meinen Biergarten in einen Parkplatz verwandelt. Ich war wütend. Ich wusste sofort: Das gehört sich nicht. Wenn so der Fortschritt aussieht, so sagte ich mir, dann gehen wir einer hässlicheren Welt entgegen.
Verletzte Sinne
Ich glaube, meine Erfahrung lässt sich verallgemeinern. Viele Menschen wurden umweltbewegt, weil sie sich in ihren Sinnen verletzt, ja beleidigt fühlten. Es waren weder Prognosedaten über Ressourcenverknappung noch Hochrechnungen über Artenvielfalt, die sie in Wallung brachten, sondern die Begegnung mit dem Anti-Schönen. Denn so flüchtig das Schöne auch ist, sein Gegenteil ist leicht zu fixieren: das Hässliche, das Bedrohliche, das Zerstörerische. Genau davon aber fühlten sich die Umweltfreunde ins Gemüt getroffen. Sie opponierten gegen Straßenbauten, weil sie die Landschaft verschandeln, gegen Atommeiler, weil sie Großgefahren bergen, gegen Pflanzengifte, weil sie die Ökosysteme ruinieren. Man könnte sagen, sie reagierten gegen das ausufernde Anti-Schöne. Und das nicht nur im ästhetischen, sondern obendrein auch im ethischen Sinne. Denn sie empfanden solcherlei Dinge als zutiefst unrecht, ganz als ob sie der antiken Bedeutungsnähe von „schön“ und „gut“ folgen würden. Bellus und bonus, decorum und decentia sind etymologisch eng verwandt; dementsprechend identifizierte man lange das Wohlgefällige mit dem Gelungenen und das Schmückende mit dem Geziemenden. Für die Umweltbewegung fiel also das Un-Ökologische zusammen mit dem Un-Schönen, aber folgt daraus der Umkehrschluss, dass das Ökologische zusammengeht mit dem Schönen?
Anderer Wohlstand?
Die Kernfrage jedes Nachdenkens über Nachhaltigkeit, das auch die Menschen und ihre Wünsche im Blick hat, wird lauten: Ist es möglich, die (bio-physischen) Grenzen zu (zivilisatorischen) Chancen zu wenden? Offensichtlich reicht es da nicht aus, unter Zukunftsfähigkeit lediglich eine Serie von Reduktionszielen zu verstehen; vielmehr muss man die Produktionsformen, Lebensstile und Denkweisen erkunden, in die ein maßvoller Naturverbrauch eingelassen sein könnte. Wird eine ressourcenleichte Gesellschaft nichts als ein Frust oder kann sie neuen Komfort, anderen Wohlstand und ein Stück Schönheit bringen?
Solche Fragen verlangen eine Antwort, weil sonst die soziale Fantasie zur Veränderung kümmerlich bleibt; denn Reduktionsziele allein informieren höchstens, beflügeln aber keinen. Dafür braucht es Erzählungen darüber, wie eine lebensdienliche Wirtschaft aussehen könnte, welche Qualitäten da hervortreten und was sie anziehend machen soll. Experimentierlust und Engagement kommen dann ins Spiel, wenn der Möglichkeitssinn der Menschen geschärft ist und Veränderungsbilder in vielen Lebensbereichen an Boden gewinnen, die Geschmack machen und nebenbei auch den Charme haben, mit den bio-physischen Grenzen zu rechnen. Sich über die Ästhetik nachhaltiger Lebensweisen zu vergewissern, gehört deshalb ins Zent-rum der Zukunftsdebatte.
Lebensweltliche Ästhetik
In der Umweltforschung ist es mittlerweile üblich geworden, den stofflich-energetischen Metabolismus eines Produkts, einer Fabrik, einer Stadt oder sogar eines ganzen Wirtschaftssystems zum Gegenstand der Analyse zu machen. Ein Produkt etwa wird daraufhin untersucht, wie viel Material und Energie es aus der Umwelt aufnimmt und wie viel wiederum in der Umwelt zurückgelassen wird. Es werden also seine stofflichen Wechselwirkungen mit der Umwelt herausgearbeitet; das Produkt wird als Träger eines Materialflusses gesehen. Der Eindruck, den dieses Produkt auf die menschlichen Sinne macht, auf das Sehen, das Hören, oder gar das Riechen und Fühlen, spielt dabei keine Rolle. Eine ästhetische Betrachtung hingegen wird gerade da ansetzen. Sie wird den informationellen Wechselwirkungen eines Produkts mit seiner Umgebung nachspüren und es als Träger eines Kommunikationsflusses sehen. So ist ein Auto bekanntlich weit mehr als bloß ein technisches Gerät, es ist auch ein kulturelles Symbol. Wie – mehr oder weniger – jedes Naturding und jedes Artefakt spricht das Automobil mit seiner Form, seinem Material, seiner Farbe und seiner Bewegung zu den Menschen, wie umgekehrt die Menschen das Automobil mit Bedeutungen belegen. Jedes Ding stellt so – wie Gernot Böhme sagen würde – eine Atmosphäre her, jenes Informationsfeld, das die sinnlich-symbolische Wirkung des Gegenstands mit der Wahrnehmung des Betrachters zusammenschließt. Solche Atmosphären zu beschreiben und zu kritisieren, könnte die Aufgabe einer lebensweltlichen Ästhetik sein, deren Aufmerksamkeit reinen Kunstobjekten nur im Sonderfall gilt.
Ästhetik des Maßes
Nun lässt sich nicht länger, wie die Katze um den heißen Brei, um die Frage herumschleichen, was denn nun „das Schöne“ im Kontext der Ökologie sein soll. Immerhin tat sich ja schon Sokrates schwer, überhaupt dem Schönen auf die Spur zu kommen, denn, so sagt er im Dialog mit Hippias, über das Schöne herrsche Streit und Zank „mehr als über irgendetwas anderes“. Vielleicht lässt sich aber doch der klassischen Tradition ein Fingerzeig entnehmen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war der Begriff des Schönen nicht ohne den der Proportion zu denken. „Ordnung und Proportion sind schön und zweckdienlich, während Unordnung und die Abwesenheit von Proportion hässlich und nutzlos sind“, so lautete schon eine der Sentenzen von Pythagoras. Schönheit manifestiert sich demnach im gelungenen Verhältnis der Teile untereinander sowie dem aller Teile zum Ganzen. Dieser Konzeption folgend haben Generationen in akustischer Harmonie und visueller Symmetrie einen Ausweis von Perfektion gesehen. Obwohl die kosmologische Verankerung dieser Konzeption in der Neuzeit zusammengebrochen ist, lebt sie noch im Schönheitsempfinden weiter: Als schön erscheint, wenn in einem Ganzen die Teile in einem stimmigen Verhältnis stehen.
Von dieser Tradition her könnte man folgende Behauptung wagen: Das Schönheitsempfinden in der Ökologie wurzelt in einer Ästhetik des Maßes. Oder umgekehrt: Das Hässlichkeitsempfinden in der Ökologie rührt von der Erfahrung der Disproportionalität, des Unmäßigen, der Maßlosigkeit. Den tiefen Grund dafür muss man nicht lange suchen: Was immer Ökologie im einzelnen heißen mag, ihr liegt die Einsicht zugrunde, dass die materielle Größe des ökonomischen Systems in ein Missverhältnis zur Größe des Natursystems geraten ist. Historisch gesehen kam diese Dynamik der Maßlosigkeit, vorbereitet durch die zunehmende Bedeutung der Geldakkumulation, mit der Verfügbarkeit fossiler Energien und Materialien zum Durchbruch. Mit dem Anzapfen der Syntropieinseln der Erde konnten physikalische Kräfte und chemische Substanzen mobilisiert werden, welche die wirtschaftliche Dynamik unermesslich weit über die in der organischen Natur gesetzten Maßverhältnisse hinaustrieb. Sei es in der Landwirtschaft oder in der Güterproduktion, im Transport oder in der Architektur, eine ökologisch inspirierte Ästhetik des Maßes empfindet jene Hervorbringungen besonders gelungen, in denen eine neue Balance zwischen fossiler Ausbeute, menschlicher Intelligenz und organischer Aktivität zum Ausdruck kommt.
Gelassene Zeitmaße
So beginnt sich unter dem Firnis des offiziellen Beschleunigungszwangs ein vorsichtiges Interesse für mehr Langsamkeit zu regen. Obwohl schon 1916 der Künstler Marinetti verkündete, dass ein Rennwagen schöner sei als die Nike von Samothrake im Parthenon-Tempel, zeigt die fossile Siegerästhetik Schwächen. Ein solcher Wandel in der Wahrnehmung fällt indes nicht vom Himmel. Er hängt damit zusammen, dass, was in der Industrialisierung knapp und begehrenswert war, heute Allgemeingut und selbstverständlich geworden ist. Auf der anderen Seite aber entstehen neue Knappheiten, die neue Wünsche freisetzen. Solange zum Beispiel kaum jemand ein Auto fährt, bringt das Autofahren die größte Befriedigung, ein Vorsprung, der jedoch mit der Massenmotorisierung fortlaufend schrumpft. Unvermeidlich mischt sich daher immer mehr Verdruss ins Mobiltätsvergnügen. Oder: Je mehr die Beschleunigung aller Lebensvorgänge zur Grundregel wird, desto stärker treten ihre Schattenseiten hervor. Beschleunigung, gründlich genug betrieben, zeigt nämlich die missliche Tendenz, sich selber aufzuheben: Man kommt immer schneller dort an, wo man immer kürzer bleibt. So verfehlt Beschleunigung ihren Zweck: die Begegnung. Wenn solcherlei Erfahrungen sich akkumulieren, wird es denkbar, dass unversehens Geschwindigkeitshuberei als altmodisch und nicht auf der Höhe der Zeit anmutet. Weil eben mit der Beschleunigungsgesellschaft Dinge wie Achtsamkeit, Ruhe und Unabhängigkeit zu knappen Gütern werden, deshalb steigen sie in der Wertschätzung. Und es kann so weit kommen, dass sich untergründig eine Ästhetik herausbildet, die gelassene Zeitmaße und mittlere Entfernungen als besonders gelungen empfindet.
Zukunftsprojekt Sesshaftigkeit
Eine weitere Dimension ökologischer Sensibilität macht sich zum Beispiel bei der Betrachtung eines kleinen Alpendorfes bemerkbar: die Vorliebe für den charakteristischen Ort. Gewiss, auch Heimatschützer, Landschaftsmaler und Touristen teilen diese Vorliebe, doch liegt sie auch in einer, mit Verlaub, Ästhetik des post-fossilen Maßes begründet. Schließlich deutet sich hinter einigen Verletzungen im Ortsbild – autogerechte Straßenführung, Schaufensterfassaden, Sichtbetonhäuser mit Flachdach, Suburbanisierung an den Rändern – der Anspruch an, Formen zu schaffen, die landschaftsfrei und ortslos sind. Jene herkömmlichen Agri-Kulturlandschaften, die sich durch geschickte Anpassung an die regionalen Naturbedingungen auszeichneten, sind in den letzten Jahrzehnten durch Materialien, Bauformen und Flächennutzungen überformt worden, die auf der weltweiten Mobilisierung fossiler Ressourcen beruhen. Demgegenüber hat etwa Klaus Michael Meyer-Abich ein „Zukunftsprojekt Sesshaftigkeit“ formuliert: „Um in einem Haus wirklich ansässig zu werden, sollte es so in seinen Ort eingebettet sein, wie es der Landschaft, der Topographie des Geländes, den Himmelsrichtungen, den Wasserverhältnissen, den regionalen Baumaterialien et cetera entspricht. Stattdessen werden Häuser von Reikjavik bis Rio immer noch überwiegend in gleicher Art gebaut, so dass sie eigentlich nirgends hingehören und nur wie vergessene Schachteln herumstehen.“ Dass Häuser und Ortschaften nicht in Proportion zu ihrer Umgebung gesetzt werden, kostet aber fossilen Energie- und Materialaufwand, um die „Einbettungsdefizite“ zu kompensieren. Kein Wunder, dass Umweltfreunde Gefallen an lokaler Einbettung finden und vieles, was die Atmosphäre einer Region ausdrückt, als schön verstehen.
Schließlich liegt es auf der Hand, dass eine Lebensführung, die auf selektiven Konsum achtet, sich von einer Ästhetik des Maßes leiten lässt. Dabei ist die ehrwürdige Formel von der Mäßigung (temperantia) so mit Staubschichten überzogen, dass sie nicht mehr zu erkennen gibt, wo ihre Pointe lag: Das rechte Maß zu suchen, ist keine Empfehlung für ein moralisch besseres, sondern für ein unabhängigeres Leben. Sie ermuntert zum Versuch, den Kopf über der Flut der Optionen zu halten. Denn, so meinen die Klassiker, ein schönes und gelungenes Leben führt am ehesten jener, der sich nicht jedem Genuss an die Brust wirft, sondern seine Vergnügungen zu modulieren und im Auf und Ab der Zeit auszukosten versteht. Wer mit Überlegung leben möchte, wird sich hüten, andauernd dem vermeintlich Besseren nachzujagen, sowie sich allzu sehr an Befriedigungen zu binden, die eines Tages fehlen könnten. Keine Frage, eine solche Haltung gewinnt wieder an Aktualität in der Multioptionsgesellschaft. Denn nicht mehr der Mangel, sondern der Überfluss an Optionen bedroht heute die Unabhängigkeit der Personen. Es wird schwieriger zu wissen, was man möchte, was man nicht möchte, und das, was man gewählt hat, auch zu kultivieren. Seinem eigenen Leben eine Form zu geben, verlangt heute, mehr denn je, die Fähigkeit, „nein“ sagen zu können. Ohne eine persönliche Ästhetik des Maßes könnte das eigene Wollen nicht überleben; es würde von der Überzahl der Angebote überwältigt. Für eine reflexive Lebensführung mischt sich so Umweltsorge mit Selbstsorge. Sonst geht es einem wie dem österreichisch-ungarischen Schriftsteller Ödon von Horváth: „Ich bin eigentlich ein ganz anderer, bloß komm ich so selten dazu.“
© Wolfgang Sachs / Wuppertal Institut, 2001
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Literatur
- Bodei, Remo. Le Forme del bello. Bologna, 1995
- Böhme, Gernot. Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main, 1995
- BUND/Misereor (Hrsg.). Zukunftsfähiges Deutschland. Basel/Berlin, 1997
- Meyer-Abich, Klaus Michael. Ist biologisch Produzieren natürlich?. In: GAIA, Heft 6/1997, S. 247-252
- Natoli, Salvatore. La felicità. Saggio di teoria degli affetti. Milano, 1994