MISIK: Mr. Barber, was ist eigentlich so schlecht am Konsumismus?
BENJAMIN BARBER: Nichts ist schlecht am Einkaufen, nichts ist schlecht am Kapitalismus, nichts ist schlecht am Kommerz. Schlecht ist, wenn es nichts anders als Shopping mehr gibt, wenn wir dauernd dem Kommerz ausgesetzt sind. Wenn der Kommerz alle Lebenswelten durchdringt, Tag und Nacht, dann ist das schlecht. Es ist nichts daran zu kritisieren, wenn die kommerzielle Seite ein Teil eines pluralistischen Lebens ist, in dem wir auch andere Dinge tun, in dem wir auch spielen, einkaufen, beten, mit unseren Kindern spielen, Sport treiben, in dem wir auch Kunst und Liebe machen und auch einmal einen Spaziergang.
…aber genau das tun wir doch alles!
Nein, das ist der Punkt! In einer durchkommerzialisierten Gesellschaft ist nahezu alles, was wir tun, für Geld, für Profit. Wir joggen, aber erst wenn wir uns einen schicken Turnschuh gekauft haben. Musik hören wir, nachdem wir uns einen iPod gekauft und für viel Geld Musik raufgeladen haben. Jede Aktivität wird eine kommerzielle Aktivität. Das betrifft sogar die Politik und die Kirchen: Die Politik dreht sich nur um Spenden für die Kandidaten, und bei den Fernsehpredigern geht es auch nur um Geld. In den Künsten ist die zentrale Frage geworden: Lässt sie sich verkaufen? Das ist Hyperkonsumismus.
Und der hat gefährlichen Einfluss auf unseren Charakter?
Ja, weil wir glauben, dass wir sind, was wir kaufen. Wir sind, was wir anhaben. Das ist die neue Identitätspolitik, eigentlich: Identitätsshopping. Darum dreht sich ja alles beim Branding: Dass die Produkte nicht mit ihrem Gebrauchswert oder ihrer Qualität assoziiert werden, sondern mit einem Lifestyle. Du fährst einen Geländewagen, damit du als harter Typ erscheinst, selbst wenn du nie die Stadt verlässt. Oder du kaufst einen spritsparenden Toyota Prius mit Hybridantrieb, damit alle sehen, dass du ein grüner Bobo bist.
Das heißt aber doch auch, dass diese Leute wissen, wer sie sein wollen, und diese Identität dann mit Waren zum Ausdruck bringen. Dann helfen ihnen doch die Waren.
Nein. Du kaufst gesundes Essen, um zu zeigen, dass du gesund und dünn bist. Du brauchst gar nicht wirklich dünn sein. Du musst auch gar kein Leben führen, das die Umwelt schont – es reicht ja, wenn du dir einen Toyota Prius kaufst. Die Marke ist der Ersatz für authentisches Verhalten.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Consumed“, dass der Konsumismus die Menschen infantilisiert. Warum eigentlich?
Um Menschen dazu zu bringen, dass sie Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, müssen sie infantilisiert werden. Erwachsene Menschen, die vernünftige Entscheidungen zu treffen imstande sind, müssen zu kopflosen Kindern gemacht werden, die an der Supermarktkasse nur „Ich will, ich will!“ rufen. Der Markt trainiert uns von unseren ersten Lebenstagen auf ein solches Verhalten.
Konsumenten sollen wie Kinder agieren, aber Kinder sollen auch zu Konsumenten werden?
Ja, so ist es. Der Hintergrund von all dem ist ein Kapitalismus, der so erfolgreich ist, dass die meisten echten Bedürfnisse der meisten Menschen in den entwickelten Ländern gestillt sind. Also, wie kann man da die Maschine am Laufen halten? Wenn man uns nicht dazu bringt, Dinge zu kaufen, die wir nicht brauchen, dann bekommt der Kapitalismus echte Probleme. Man sieht das gerade jetzt in den USA. Wir stehen ja an der Schwelle zu einer Rezession. Was sagt Präsident Bush? Dass wir die Leute in die Shopping-Mall bringen müssen, sie müssen wieder mehr ausgeben. Obwohl wir eine negative Sparrate haben, gibt man den Menschen mehrere hundert Millionen Dollar, damit sie einkaufen gehen. Man sagt: Egal, ob du ein Haus brauchst oder du dir ein leisten kannst, du musst es kaufen, weil wir es verkaufen müssen. Auf lange Sicht ist das ein Desaster für den Charakter der Menschen.
Aber wenn die Menschen nicht einkaufen, wäre es auch ein Desaster – und zwar nicht nur auf lange Sicht, sondern ziemlich unmittelbar.
Klar, wenn die ganze Welt wie Paris oder Charlottenburg aussähe. Unglücklicherweise für die Welt und glücklicherweise für den Kapitalismus gibt es aber viele Regionen der Welt, wo es noch echte Bedürfnisse zu stillen gibt. Und auch in der entwickelten Welt gibt es noch genügend wichtige Ding zu tun. Das Problem ist aber auch, dass wir einen Kapitalismus haben, der keine Risiken eingehen will. Unternehmer zeichneten sich bisher immer dadurch aus, dass sie Geschäftsideen hatten, nützliche Dinge entwickelten, und wenn es klappte, hatten sie Erfolg, wenn es nicht klappte, gingen sie bankrott. Heutzutage werden die Risiken sozialisiert. Wenn eine Bank pleite geht, dann rettet sie die Regierung. Wenn Chrysler eine dumme Strategie fährt, dann zahlt der Steuerzahler.
Was wären das für nützliche Dinge, die die kapitalistische Wirtschaft heute entwickeln könnte?
Wir wissen, wie schlecht unsere Abhängigkeit von Öl ist – ökonomisch, ökologisch, politisch. Alternativenergien sind ein vitales Bedürfnis. Es gibt neue Herausforderungen für die Architekten und die Bauwirtschaft – nehmen sie nur das Desaster von New Orleans. Solarenergie, gesundes Wasser für die Dritte Welt – es gibt genug zu tun.
Die Freunde der freien Marktwirtschaft würden jetzt sagen, dass es doch genügend Firmen gibt, die in diesen Branchen investieren. Wieso sollte das also nicht der Markt regeln?
Ich bin doch nicht gegen den Kapitalismus. Aber die heutigen Kapitalisten wollen sichere Gewinne, aber keine Risiken mehr eingehen, sie wollen in keine schwierigen Marktumgebungen mehr investieren. Sie haben auch nicht genug Geduld, sie lassen es nicht zu, dass neue Märkte entstehen. Hinzu kommt: Es braucht eine Balance. Kapitalismus braucht auch immer demokratische Kontrolle, ein Regelwerk, einen funktionierenden Staat. Nach dreißig Jahren Deregulierung gibt es keine Balance mehr.
Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass Konsumismus die Demokratie gefährdet. Warum?
Man sagt uns, Freiheit hat mit Wahlmöglichkeiten am Markt zu tun, mit der Auswahl, die der Konsument hat. Das ist aber nicht die Art von Freiheit, die die bürgerliche Freiheit meint. Die wichtigen Entscheidungen, die unsere Gesellschaften prägen, sind nicht Ergebnis privater Konsumentenentscheidung, sondern von demokratischen, öffentlichen Entscheidungen. Also: keine privaten Entscheidungen, sondern gemeinsame Entscheidungen.
Zum Beispiel?
Wenn Sie nach Los Angeles gehen, dann haben sie eine unendliche Freiheit, was die Mobilität betrifft: Sie können zwischen 200 Automarken wählen, sie können sie kaufen, leihen oder leasen. Sie können ein Auto für 11.000 Dollar kaufen oder eines für 200.000 Dollar. Aber es gibt ein Ding, das nicht zur Auswahl steht: öffentlicher Personenverkehr. Das gibt es nicht. Die wichtigsten Dinge für eine freie Gesellschaft sind öffentliche Entscheidungen – und die kann der Markt nicht ersetzen.
© Das Interview wurde in der TAZ vom 12. April 2008 veröffentlicht