13. September 2009 | Afrikanische Esskultur

Wie Ghana schmeckt

von Thomas Schmeckpeper. Köln


Essen auf Kosten der anderen? In manchen Kulturkreisen sogar auf Kosten der Toten! Denn in Ghana sind Beerdigungen „der“ willkommene Anlass, im sozialen Gemenge den kalorienreichen Genüssen zu frönen.

Lesezeit 6 Minuten

Ich fuhr an einem Samstag von der Küste aus nach Koforidua zum Volta See. Der Bus, ein zwanzig Jahre alter VW-Bulli, der in der Heimat vermutlich noch einem Umbau zur Gartenkombüse einer Vorstadt-Hippie-Kommune genügt hätte, war so hoch beladen wie er lang war und fuhr schneller als Reifen, Schlaglöcher und der gesunde Menschenverstand es erlaubt hätten. Wir holperten über die Savannenstraße, die Berge mit ihren Serpentinen vor uns. Neben mir eine Frau, doppelt so alt und doppelt so breit wie ich. Sie trug ein schwarz-rotes Kleid, ein typisches Trauerkleid. Nachdem ihr Kleines mein weißes verschwitztes T-Shirt als gute Leinwand für sein Bäuerchen auserkoren hatte, kam ich mit der Mutter ins Gespräch.

„Hallo Joyce, ich heiße Thomas, mein ghanaischer Name ist Kwame, aber eigentlich nennen mich die meisten in Ashaiman, wo ich wohne, Bo-Mann.“ Doch anstatt mir mit einer ähnlichen Floskel zu antworten, wandte Joyce sich ab und kicherte ihrem anderen Sitznachbarn etwas zu. Hatte sie mich nicht verstanden? Hätte ich fragen sollen, auf wessen Beerdigung sie fährt? Gerade wollte ich den Satz wiederholen, da bemerkte ich, dass so etwas wie „Stille Post“ zu Gange war. Die ersten Köpfe drehten sich zu mir rum, der Erste begann zu lachen, dann der Zweite und plötzlich fielen alle mit ein. Der Bus hielt am Straßenrand, die Frau, die meine Knie seit einer Stunde in ihrem Nacken hängen hatte, kaufte durch das offene Fenster bei einem kleinen Mädchen gekochte Maiskolben mit Kokosnussstücken und reichte sie mir. Eine andere gab mir ein gepelltes Ei und das kleine Kind neben bzw. halb auf mir schien mir mit seinem zahnlosen Lächeln sagen zu wollen: „Hey, Du bist Bo-Mann – der, der gerne und viel isst. Dann zeig mal!“

Weit mehr noch als Kleidung und Sprache erlaubte mir mein erfahrungsfreudiger und resistenter Magen das Eintauchen in die fremde Kultur. Kenkey, Banku, Yam, Kochbananen, Suppen aus Palmenöl und Erdnüssen, Ziegen, Katzensuppe, Bisonratten, die komplette Palette an tropischen Früchten und alles, was Flossen hat und im Golf von Guinea zu Hause ist, nichts davon konnte mich abhalten, meinem huldvollen Spitznamen alle Ehre zu machen. Kein Reiseratgeber und gut gemeinter Hinweis auf Erreger und Krankheiten hielt mich von den Köstlichkeiten des Straßenrandes fern. Reis mit Hünchen oder Fisch in Plastiktüten, gegrillte Fleischsticks – in deren Zubereitung vor allem die Muslime sich als wahre Könner auszeichneten -, Dinge, deren Aussehen genauso schwer zu beschreiben wie die Namen auszusprechen waren, alles versüßte mir Temperaturen und Luftfeuchtigkeit, die einen sogar beim Duschen schwitzen ließen. Und wenn ich einen Gottesbeweis gelten lasse, dann ist das Fufu mit light soup und goat meat.

So fuhren wir also auf die Berge zu und mit tatkräftiger Unterstützung der Anderen verdrängte ich meine Angst vor den Serpentinen durch Kauen und Schlucken. Nein, Samstag sei kein guter Tag für mich zum Reisen, bemerkte Joyce, als wir den Fuß des ersten Berges erreichten und ein ausgebranntes Autowrack im Straßengraben uns willkommen hieß. Schluck! Und wenn ich es doch tue, so sollte ich nicht das Beten vergessen. Im Bewusstsein der ghanaischen Frömmigkeit erwiderte ich, ob denn nicht jeden Tag zu beten sei. „Ja, natürlich, aber samstags eben noch ein bisschen mehr, denn samstags sterben die meisten Menschen in Ghana. Weil Samstag der Tag der Beerdigungen ist.“ Dass der Samstag der funeral day war, wusste ich bereits, aber hatte ich sie richtig verstanden? War das ein notwendiger Grund, auch samstags zu sterben? Zumindest schien der Fahrer unseres Busses es darauf anzulegen. Verstand und Material zum Trotze krächzten wir den Berg hinauf, links und rechts weitere Autowracks – eines hing sogar in einer Baumkrone. Mir war nach Bäuerchen zu Mute.

Joyce fuhr zur Beerdigung eines Onkels. Dieser war eine Woche zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er kam von der Beerdigung seines Vaters. „Mein Großvater hat ihn schnell zu sich geholt. Denn auf dessen Beerdigung war nicht genug Essen für alle. Dafür wurde mein Onkel bestraft.“ Und mehr im Flüsterton: „Vielleicht war der Fahrer aber auch betrunken, weil er selbst von einer Beerdigung kam. Denn auf Beerdigungen wird immer viel getrunken.“ Ich blickte nach vorne zum Fahrer und sah, dass auch er ein rot-schwarzes Hemd trug. Ich überlegte, tatsächlich zu beten. Schaden konnte es zumindest nicht.

So wie Joyce und ihrer Familie muss es schon vielen Trauernden an der Goldküste Afrikas ergangen sein. In einem Land, von dessen Bevölkerung es nicht mehr als 45 Prozent schaffen, mindestens einen US Dollar pro Tag zu verdienen, kann eine mehrere Tausend Dollar teure Bestattung den finanziellen Ruin bedeuten. Kredite werden aufgenommen, um einen standesgemäßen Abschied zu zelebrieren. Es ist eine Frage der familiären Reputation, eine Frage der dynastischen Ehre. Je angesehener ich bin, desto mehr Menschen kommen zu meiner Beerdigung. Somit obliegt es gerade den Nachfahren, den gesellschaftlichen Rang des Verstorbenen durch ein entsprechendes Fest zu manifestieren. Koste es, was es wolle, da gerade das Ansehen der Hinterbliebenen eng verknüpft ist mit dem Ansehen der Familie. Die Philosophie des „Wir“, die nicht nur Kondolenz, sondern auch und gerade Sattheit einfordert.

Waren es früher noch die heranreisenden Gäste, die Speisen und Getränke mitbrachten und der Gemeinschaft spendeten, sind es heute die engsten Nachfahren, die für die Verköstigung der Familie und Freunde aufkommen müssen. Mindestens drei verschiedene Menüs so wie verschiedene alkoholische und antialkoholische Getränke für durchschnittlich mehrere hundert Personen. Was den Verwandten und Freunden einen luxuriösen Gaumenschmaus mit Auswahl beschert, wird für die Veranstalter zur finanziellen Belastungsprobe. Auch und gerade weil eine ghanaische Beerdigung weniger einer geschlossenen Gesellschaft gleicht. Die Trauerzeremonie findet im Freien, teilweise auf Straßenzügen statt. Bunte Plakate in der Nachbarschaft mit Aufschriften wie „What a Shock!“ verkünden den Anwohnern den Tod des Nachbarn. Jeder, der ihm mal etwas geliehen, ihn zum Friedensgruß in der Kirche begrüßt oder seinen Neffen mit der eigenen Enkelin verlobt hat, fühlt sich eingeladen. Die offene Atmosphäre gewinnt an Festival-Charakter.

Mehr Menschen, die geboren werden, erzeugen mehr Menschen, die sterben. Die pragmatische, nicht immer sensible Logik der Natur. Dass es dadurch mehr Bestattungen gibt, von denen entsprechende Bestattungsunternehmen und Catering Services profitieren, begründet sich dann eher in einer Logik finanzieller Natur. Es bleibt ein Paradoxon. Zu den sechs Holzplanken bekommt der Verstorbene wertvolle Kleider, die er sich vorher nie hätte leisten können, mit auf den Weg in das Himmel- bzw. Erdenreich. Seine Trauergemeinschaft erfreut sich der kulinarischen Möglichkeiten, die es sich sonst kaum leisten könnte, und scheint dabei zu vergessen, dass die Sattheit meistens auf Pump finanziert wurde. Die Freude, dass der Verstorbene nun im Kreise des Allmächtigen und der Ahnen weilt, überschattet die Einschätzung der Gefahren, welche auf dem Heimweg lauern. Der Verstorbene verpasst die für das europäische Auge kitschige Ikonisierung seiner selbst, während seine Nachkommen sich genau dafür verschulden und alle anderen sich mal so richtig die Mägen füllen können.

Auf der Abfahrt ins nächste Tal war der zuvor gefeierte Bo-Mann nicht mehr als ein Häufchen Elend. Joyce war guter Laune, und dass ich noch blasser war als vorher fiel ihr nicht auf. Sie lud mich zu sich nach Hause ein, wo sie mir aus aufgekochtem Kassava und Kochbananen frisches Fufu stampfen wollte. Dann hielt sie ihren Kleinen in die Luft, während wir hupend durch ein Dorf flogen. „Wer viel essen kann, mit dem hat Gott noch viel vor.“ Ich erreichte körperlich unversehrt das idyllische Koforidua, fühlte mich jedoch innerlich ausgebrannter als jedes zuvor gesehene Autowrack. Die psychischen Strapazen der Angst sowie der Versuch, Joyce auf Harbour-Englisch von der großmütterlichen und rheinländischen Küche zu berichten, mussten mich mehr Kalorien gekostet haben, als man mir vorher zugeführt hatte. Noch an der station flüchtete ich in die nächstbeste chop bar. Ich bestellte mir zwei Portionen Fufu mit light soup und goat meat und es war scharf und ölig und fettig und gut – und eine geistige Auferstehung nach einem verzehrenden Tag.

© Cultura21, 13.9.2009

Profil: Thomas Schmeckpeper

Featured Image: Johannes Becker / PIXELIO


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