16. August 2010 | Japan

Angst vor sozialem Abstieg in der dritten Wirtschaftmacht der Welt

von Gesche Schifferdecker. Hamburg


Wofür das ganze Wirtschaftswachstum, wenn es nur einer Minderheit zugute kommt, während eine wachsende Mehrheit die Armut befürchten muss? Diese Frage wird auch in Japan immer häufiger gestellt.

Lesezeit 2 Minuten

Über gut drei Jahrzehnte waren Ungleichheit und Armut in Japan als Themen fast vollständig ausgeblendet, jetzt wird die Zunahme unsicherer Lebensverhältnisse vielfach diskutiert. Ein Land, das sich bisher als homogene Mittelschichtgesellschaft wahrnahm, fühlt sich gespalten. Die Mitte der Gesellschaft ist dabei plötzlich kein Thema mehr. Sie scheint vielmehr gegenüber der Sorge, zu den sozialen Verlierern zu gehören, in den Hintergrund zu treten.

Dass ein solcher Abstieg schnell tragisch enden kann, führen zahlreiche Medienberichte über Working Poor und Net Cafe Nanmin fast täglich vor. Entsprechend zeigen Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ) im September 2009, dass das Bewusstsein für soziale Entsicherung hoch ist: 89 Prozent der Befragten meinen, dass soziale Notlagen gegenwärtig zunähmen.

Das Risiko des sozialen Abstiegs wird aber nicht nur bei anderen gesehen. Große Teile der Bevölkerung fühlen sich persönlich bedroht: 72 Prozent fürchten, ihr gegenwärtiges Einkommen nicht halten zu können. 65 Prozent der Erwerbstätigen schließen ihren beruflichen Abstieg in naher Zukunft nicht aus. Darüber hinaus gehen 85 Prozent davon aus, im Alter ihre Ansprüche deutlich senken zu müssen.

Hoher Anteil subjektiv Armer

Ein Blick auf die objektive finanzielle Situation zeigt, dass solche Ängste nicht unbegründet sind: Gut die Hälfte (52 Prozent) geben an, keine Rücklagen für schlechte Zeiten zu haben. „Eine plötzliche Krankheit oder auch allein ein Schulausflug der Kinder – unvorhersehbare Ausgaben führen da schnell zu finanziellen Engpässen“, erklärt Carola Hommerich, Soziologin am DIJ und verantwortlich für die Studie: „Über die Hälfte der Befragten empfindet es als ständige Gratwanderung mit dem Geld zurechtzukommen, dass monatlich zur Verfügung steht.“ 42 Prozent der Befragten, so Hommerich, bezeichnen sich gar als arm.

Ein solch hoher Anteil subjektiv Armer ist nicht direkt mit der objektiven relativen Armutsrate vergleichbar, die im Oktober 2009 erstmals von der japanischen Regierung veröffentlicht wurde und bei 15,7 Prozent lag. Dennoch verdient er Beachtung, denn er zeugt von erlebten finanziellen Einbußen und Verunsicherung. Auch in der in der DIJ-Befragung verwendeten Kategorisierung ordnen sich zwar noch 74 Prozent der Japaner in der Mitte der Gesellschaft ein. Im Vergleich zu vor 10 Jahren haben aber 37% subjektiv einen sozialen Abstieg erlebt.

Wer aber hilft im Notfall? Die Erwartungen an den Staat sind eher gering. Nur 16 Prozent der Befragten vertrauen darauf, dass sie in einer Notsituation von einer staatlichen Institution unterstützt werden. Im Alter durch den Staat ausreichend abgesichert fühlen sich gerade einmal 7 Prozent. Insgesamt haben fast drei Fünftel Angst vor der Zukunft.

Vergleich mit anderen wichtiger als objektive Lage

Angst und Verunsicherung ziehen sich durch die ganze Gesellschaft: Die DIJ-Studie zeigt, dass nicht nur prekäre, sondern auch gut situierte Gruppen Angst vor finanziellen und sozialen Einbußen haben. Die Stärke der Angst vor sozialem Abstieg wird nicht maßgeblich durch die objektive Lage der Individuen beeinflusst. Stärker ist dagegen der Zusammenhang mit der subjektiven Schichtzugehörigkeit. Die Abstiegsangst ist größer, je niedriger man sich selber in der Gesellschaft einordnet. Aber auch diejenigen, die sich in der Mitte der Gesellschaft sehen, haben überdurchschnittlich hohe Abstiegsangst und gerade die untere Mitte bangt um ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht.

Profil: www.stiftung-dgia.de

Weitere Infos: www.dijtokyo.org

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