Rasant gehen natürliche Lebensräume zurück. Karibische Korallenriffe sind bereits zu 80 Prozent zerstört. Tier- und Pflanzenarten verschwinden rund 1000 Mal schneller als bei früheren Artensterben.
Und noch eins ist anders: Nicht Asteroideneinschläge, Klimaveränderungen oder Vulkanausbrüche sind diesmal verantwortlich, sondern der Mensch selbst bedroht die Vielfalt der Natur. Umweltverschmutzung, Zersiedlung, die jährliche Abholzung riesiger Waldflächen begünsti-gen laut einer UNO-Studie nicht nur das Aussterben von Lebensformen, sondern auch die globale Einwanderung exotischer Arten in fremde Biotope, wo sie einheimische Arten gefährden können. Die UNO hat deshalb das Jahr 2010 zum „Jahr der Biodiversität“ erklärt. Biologen, Ökologen, Geologen und viele andere Experten arbeiten weltweit fieberhaft daran, der Zerstörung von Umwelt und biologischer Vielfalt Einhalt zu gebieten. Eine Keimzelle des Naturschutzes, der Stadt- und Invasionsökologie liegt an der TU Berlin.
„Wir wollen neue Spielräume für neue Natur schaffen, insbesondere in der Stadt“, erklärt Ingo Kowarik. Er ist Landesbeauftragter für Naturschutz und Landschaftspflege und leitet das Fachgebiet Ökosystemkunde am Institut für Ökologie der TU Berlin. Mit seinem Wissenschaftlerteam erarbeitet er derzeit unter anderem Grundlagen für die „Berliner Strategie zur biologischen Vielfalt“. Dabei kooperieren die Forscher mit der Berliner Senatsver-waltung für Umwelt und Stadtentwicklung. „Die letzten Zahlen der Roten Liste von 2009 hat man dort sehr ernst genommen. Danach sind bereits 72 Prozent aller Lebensräume in Deutschland gefährdet oder sogar akut von Vernichtung bedroht. 35 Prozent der heimischen Tierarten und 26 Prozent der Pflanzenarten sind bestandsgefährdet“, so Kowarik. 1992 gehörte Deutschland zu den ersten Staaten, die beim so genannten Erdgipfel der Vereinten Nationen die Biodiversitätskonvention ratifizierten. 2007 initiierte die Bundesregierung eine „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“.
„Urbane Gebiete haben aber ihre eigenen Gesetze und Bedürfnisse“, berichtet der TU-Ökologe. Biologische Vielfalt sei ein wesentlicher „Wohlfühlfaktor“ in Berlin und müsse daher in eine nachhaltige Stadtentwicklung integriert werden. Vor allem müssten die Bevölkerung, Wirtschaft und Politik einbezogen werden. Über die zahlreichen in Berlin vorkommenden Tiere und Wildpflanzen wissen die Ökologen relativ gut Bescheid. Nun müssen für alle städtischen Lebensräume Leitbilder und Indikatoren festgelegt werden, an denen sich Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen misst, die die biologische Vielfalt fördern.
Artenreiche Auenlandschaften
Mit der Entwicklung solcher Indikationssysteme, die Biodiversitäts- Veränderungen und ihre Einflüsse anzeigen, beschäftigt sich der Juniorprofessor des Instituts, Frank Dziock. „Eine Katastrophe wurde für uns zum Glücksfall“, sagt Dziock. „2002 suchte eine Jahrhundertflut das UNESCO-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe heim, ein Ereignis, das durchschnittlich nur alle 169 Jahre einmal vorkommt. Das Reservat war für unsere Forschungen ein ideales Feld, weil es eine für mitteleuropäische Verhältnisse relativ naturnahe Auenlandschaft aufweist. Solche Auen gehören zu den artenreichsten, komplexesten, dynamischsten und gleichzeitig am meisten gefährdeten Lebensräumen in Europa.“ Aus dem Verbundprojekt RIVA (Robustes Indikationssystem für ökologische Veränderungen in Auen), an dem neben Dziock 30 weitere Forscher beteiligt waren, lagen schon umfangreiche Daten über Flora und Fauna aus den Jahren 1998/99 vor. Nun begann die Zählung und Begutachtung von Schwebfliegen, Schnecken und Laufkäfern, die hinsichtlich Ansprüchen und Beweglichkeit repräsentativ für den Lebensraum Auenlandschaft sind, von neuem. Zusammen mit dem Helmholtzforschungszentrum UFZ konnte Dziock einen „Vorher- Nachher“-Vergleich durchführen, dessen Datenlage durch diese extrem seltene Konstellation einzigartig ist. „Mit den daraus entwickelten Modellen und Systemen können wir nun nicht nur den ökologischen Zustand einer Landschaft bewerten. Wir können auch ihre Veränderungen prognostizieren, insbesondere, wenn sie massiven menschlichen Eingriffen ausgesetzt ist“, so Dziock. Die Indikationssysteme machen dabei auch deutlich, wie weit die Umweltpolitik ihre Ziele erreicht hat.
Der Götterbaum – Testkandidat für das Klima von morgen Schwerwiegende Folgen für die heimische Flora und die Gesundheit des Menschen haben auch biologische Invasionen, also das Eindringen fremder Arten in Lebensräume. Neobiota werden diese eingeschleppten Pflanzen und andere Lebensformen genannt. „Deutschland und auch Berlin kämpfen beispielsweise seit Jahren gegen die hochallergene Ambrosia“, erklärt Ingo Kowarik. Sie ist gesundheitsschädlich für Menschen und daher nicht erwünscht. Auch der Riesen-Bärenklau, ursprünglich aus dem Kaukasus, der bis zu fünf Meter hoch werden kann, ist nicht willkommen. Er ruft bei Berührung schwere Hautentzündungen, regelrechte Verbrennungen, hervor. Beide haben sich im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland verbreitet. Interessanterweise führt die Spur dieser Pflanzen quer durch ganz Europa an den breiten Verkehrswegen entlang.
„Viele Samen reisen per Anhalter tausende von Kilometern weit – in den Rillen der Autoreifen“, hat Moritz von der Lippe herausgefunden. Er hat für seine Dissertation, die er am Graduiertenkolleg „Stadtökologie“ abgeschlossen hat, die Wege dieser Pflanzen verfolgt.
Das Graduiertenkolleg, an dem auch die beiden anderen großen Berliner Universitäten beteiligt sind, ist sehr erfolgreich und daher schon zweimal von der Deutschen For-schungsgemeinschaft verlängert worden.
In einer internationalen Fachgruppe namens „Neobiota“ widmet sich Kowarik bereits seit Jahren der länderübergreifenden Forschung zu biologischen Invasionen.
„Doch viele Entwicklungen sind unumkehrbar“, sagt Ingo Kowarik. „Wir suchen deshalb auch nach positiven Aspekten der ökologischen Veränderungen. Ein „Gewinner“ des Klimawandels ist zum Beispiel der Götterbaum, ursprünglich in China heimisch. Er ist anpassungsfähig und genügsam und sein Wachstum startet bei höheren Temperaturen richtig durch – der ideale Stadtbaum der Zukunft.“ Der Baum wird in den institutseigenen Klimakammern untersucht. In diesem geschlossenen System können die Forscher unabhängig von der Tages- oder Jahreszeit optimale Licht-, Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsbedingungen für den schnellwachsenden, bis zu 30 Meter hohen Baum herstellen. Hunderte Exemplare haben die TU-Ökologen schon gezüchtet – als Testkandidaten für das Klima von morgen.