12. März 1996 | Zukunft der Arbeit

Rotierende Arbeitslose

von Bernd Kastner (taz). Berlin


„Jobrotation“ – ein Modellprojekt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Während sich Beschäftigte weiterbilden, werden sie von Erwerbslosen vertreten. Über diese Idee schrieb die Berliner Taz am 12. März 1996.

Lesezeit 2 Minuten

Peter Müller ist arbeitslos. Trotz kaufmännischer Ausbildung sucht er seit Jahren vergeblich eine Stelle. Agnes Schütz ist in einem mittelständischen Unternehmen mit 500 Beschäftigten angestellt, das seine Exportgeschäfte ausbauen will. Schütz würde deshalb gerne Spanisch lernen, doch neben der normalen Arbeit bleibt dafür keine Zeit. Für einen Sprachkurs aber kann sie ihr Betrieb nicht freistellen, weil Ersatz fehlt.

Vielleicht profitieren beide, Müller und Schütz, schon bald von derselben Idee. „Jobrotation“ heißt sie. Das Prinzip ist einfach: Während Agnes Schütz Spanisch büffelt, vertritt sie Peter Müller, der darauf mehrere Wochen lang vorbereitet wurde. Ist Schütz wieder zurück, kann Müller auf die Stelle eines anderen Mitarbeiters rücken, der sich jetzt mit spanischer Grammatik und Vokabeln herumschlägt. Bis zu neun Monate kann dieses bezahlte „Betriebspraktikum“ für Müller dauern. Nach Ende der Rotation soll für alle Beteiligten die Zukunft rosiger aussehen: Schütz ist für die Expansion ihrer Firma gerüstet, Müller erhofft sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

So zumindest die Theorie des Modellprojekts Jobrotation. „Innovativ daran ist, daß erstmals die Situation von Arbeitslosen und Beschäftigten nicht getrennt betrachtet wird“, sagt Bettina Uhrig. Sie leitet am Sozialpolitischen Institut (SPI) das Projekt, das diesen Monat startet. Im Auftrag des Berliner Senats koordiniert das SPI die EU-Initiative für Berlin, das sich als erste deutsche Stadt daran beteiligt. Im ersten Jahr des bis 1999 laufenden Projekts sollen 60 Arbeitslose und 120 Beschäftigte einbezogen werden, jeweils aus dem kaufmännischen Bereich. Mit etwa 60 mittleren Betrieben sei man im Gespräch, so Uhrig. Möglicherweise könne auch im Sozialbereich wie in Krankenhäusern rotiert werden. In jedem Fall soll ein europäisches Netz entstehen, in dem die beteiligten Städte ihre Erfahrungen austauschen, so Uhrig. Vorstellbar sei auch, daß die Beteiligten über die Ländergrenzen rotieren, wie es im italienischen
Palermo und dem englischen Milton Keynes geschieht.

Die Finanzierung wird geteilt: Während sich die Beschäftigten weiterbilden, zahlt ihnen ihre Firma weiterhin ihr Gehalt. Die Weiterbildung finanziert zum großen Teil die Europäische Union, der Berliner Senat steuert bis 1999 knapp 7 Millionen Mark bei, was rund 20 Prozent entspricht. Diese Summe sei angesichts

der Sparmaßnahmen bereits um 10 Prozent gekürzt worden, der Rest aber sei sicher, so Gudrun Dohse von der Senatsverwaltung. Die Erwerbslosen bekommen ihr Geld vom Arbeitsamt, das auch für deren Jobvorbereitung aufkommt.

14 EU-Staaten wollen die Idee gleichzeitig verwirklichen. 100.000 Menschen sollen europaweit davon profitieren, rechnet Jens-Jörgen Pedersen, Direktor der EU Jobrotation in Dänemark. Sein Optimismus gründet sich auf die Erfahrungen im eigenen Land. Dort sei Rotation längst offizielle Politik. Rund 80 Prozent der einst Arbeitslosen seien von dem Betrieb, in den hinein sie rotiert waren, übernommen worden.
Wenn Peter Müllers Vertretungszeit zu Ende ist, hofft auch er darauf. Vielleicht braucht seine Firma ja neue MitarbeiterInnen, weil der Export gut läuft.

© Bernd Kastner, taz, 12.03.1996



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert