Wem kam dieser Gedanke beim täglichen Konsum von Frontberichten noch nicht: Hab ich alles schon gehört, tausend Mal gesehen. Selbst wenn der Krisenherd neu ist, kommt einem die Ästhetik des Grauens vertraut vor. Das liegt nicht daran, dass die Bilder der Kameramänner und Fotografen schlecht seien. Im Gegenteil: Sie sind packend, handeln von archaischen Gefühlen wie Angst, Verzweiflung, Schmerz. Deswegen werden sie so oft gesendet und gedruckt.
Aber irgendwie regt sich ein Verdacht: ist das, was ich sehe, wirklich ein Abbild der Wirklichkeit in diesen Ländern? Oder nur ein kleiner Ausschnitt nach den Kriterien der Medienbranche? Als Reporter in solchen Regionen fällt einem auf: es werden längst nicht alle Geschichten erzählt. Die Realität auch in Krisenregionen ist weitaus komplexer, als sie uns vermittelt wird.
Wir hören nur äußerst selten vom Alltag der Menschen, von ihren Versuchen, mit der Situation fertig zu werden, nach vorne zu schauen. Dafür reicht die Sendezeit, der Platz in Magazinen und Zeitungen meist nicht. Die Redaktionen picken sich die dramatischen Szenen heraus – bei jeder Krise aufs Neue und in Israel, dem Irak und Afghanistan zum x-ten Mal. Je mehr sie das tun, desto stärker wird genau dieser Alltag zur eigentlich Sensation, zu einer Geschichte, die uns viel Neues über die Realität in diesen Ländern erzählen kann.
Nachkriegsgesellschaften gelten bei den Medien als spannungslos. Doch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, wie sehr gerade in den Jahren nach der Krise die Entscheidung fällt, ob die nächste ansteht oder eine dauerhafte Stabilisierung erreicht werden kann. Über die Dynamik einer Krise lässt sich vielleicht mehr lernen, wenn man nicht erst hinschaut, nachdem schon alles in Flammen steht, und gleich zur nächsten weiterzieht, sobald die Flammen erloschen sind. Unser Focus ist auch geographisch stark eingeschränkt. Viele Länder bleiben von vornherein ausgeklammert. Wer berichtet derzeit über den Konflikt in Sri Lanka, dem seit Jahresanfang schätzungsweise 5.000 Menschen zum Opfer gefallen sind?
Medien können durch selektive Auswahl von Informationen und Bildern aus Krisenregionen Distanz schaffen und Vorurteile verstärken, statt sie zu vermindern. Ein Beispiel ist die urbane Gewalt in Megastädten wie Rio de Janeiro. Die Stadt ist geteilt: Hinter den Stränden der wohlhabende “Asphalt” mit den Hochhäusern der weißen Mittel- und Oberschicht; auf dem “Hügel” die Bewohner der Favelas in ihren Hütten. Die zwei Teile Rios liegen oft nur eine Straße, eine Treppenstiege voneinander entfernt und doch “wissen” ihre Bewohner lediglich Dinge voneinander, die nicht stimmen.
Die Medien, die alle auf dem “Asphalt” angesiedelt sind, berichten nur aus den Favelas, wenn es wieder einmal Tote gibt. Sie zitieren fast ausschließlich aus Polizeiberichten, denn Journalisten trauen sich nicht in die Hochburg der Drogenmafia. Träger und Konsumenten dieser Medien sind die Wohlhabenden des Asphalts, die sich für gebildet und weltoffen halten. Sie bekommen deshalb ein kriminalisierendes Bild davon, wie es nur ein paar Meter vor ihrer Garagentüre tatsächlich aussieht: Sie glauben, dass die überwältigende Mehrheit der Slumbewohner im Drogenhandel verstrickt ist und man sie deshalb mit der Härte des Gesetzes behandeln muss. Gibt´s dabei Tote, gehört das halt dazu. In Wirklichkeit ist das Verhältnis aber genau umgekehrt: Nur zwei Prozent der “Faveleiros” leben vom Kokain und Marihuana, der Rest versucht ein ganz normales Leben zu führen und einer legalen Arbeit nachzugehen.
Diese Statistik hat die Organisation “Viva Rio!” erhoben. Sie versucht damit den Medien ein Stück Wirklichkeit anzubieten, auch in Form der Website www.vivafavela.org, das einzige Medium, das Korrespondenten in den Favelas unterhält.
Wenn schon die Medien in Rio de Janeiro – die sehr professionell entwickelt sind und von politischem Druck relativ frei berichten können – nur ein Zerrbild der Favelas abbilden, nimmt es nicht Wunder, dass auch bei uns, Tausende Kilometer entfernt, die Medien lieber das x-te Porträt eines Drogendealers und Mörders aus Rio bringen, statt mal ein Porträt der Organisation Viva Rio! Die gibt mit Sport- und Ausbildungsprogrammen der Jugend andere Erfolgserlebnisse als sie der Drogenhandel zu bieten hat.
Das Projekt Peace Counts, ein Netzwerk aus Journalisten und Fotografen, ist vor vier Jahren auf eine Expedition in dreißig Krisenregionen gestartet, um Beispiele von Friedensmachern zu sammeln, den vergessenen Helden der Krisenregionen. Sie überwinden mit viel Ideen, Mut und Ausdauer ethnische, politische und religiöse Barrieren. Wir wollten uns absichtlich auf interessante Persönlichkeiten konzentrieren, die auch Erfolge vorweisen können.
Da gibt es in Israel die ehemalige Soldatin Nava Sonnenschein, die sich mit jungen Juden drei Tage lang in einen Raum einschließt und sie diskutieren lässt. Ein japanisches Schiff, das in Krisenregionen Konfliktparteien für vertrauliche Gespräche an Bord lädt. Zwei Ex-Terroristen und Ex-Häftlinge aus Nordirland, die den Heldenmythos um ihre Person vor Jugendlichen demontieren, um sie vor denselben Fehlern zu bewahren.
Als der Gründer und Koordinator des Netzwerks, Michael Gleich, die Idee verschiedenen Redaktionen vorschlug, bekam er immer die gleiche Antwort in verschiedenen Variationen: “Frieden ist doch langweilig”, “Wer will schon was über gute Menschen lesen, die Gutes tun”, “Friedensmacher sind verhaltensunauffällig”. Reporter und Fotografen aus dem Netzwerk Peace Counts wollten das Gegenteil beweisen und sind ausgeschwärmt. Als sie ihre Geschichten zurückbrachten, ließen sich die Redaktionen doch überzeugen, nicht nur in Deutschland.
Der Stern brachte einen mehrere Seiten langen Artikel, auch Le Figaro Magazine und El Pais Semanal, die Neue Züricher Zeitung druckte Reportagen, der Focus, die Süddeutsche Zeitung, Brand Eins, die Frankfurter Rundschau, Sonntag Aktuell zogen nach. Der WDR machte aus Peace Counts eine 18teilige Serie, jede eine halbe Stunde. Petra Gerster (ZDF “heute”) und Michael Gleich gaben schließlich das Buch “Die Friedensmacher” mit einer Auswahl der besten Reportagen heraus.
Warum weckten die fertigen Geschichten plötzlich Interesse, obwohl als Exposé die “Friedensmacher” unsexy klangen? Frieden ist ein abstrakter Begriff. Aber erzählt entlang von Personen aus Fleisch und Blut. Mit all ihren biografischen Brüchen bietet eine Reportage eine interessante Abwechslung zur nächsten Meldung über Armeeoffensiven und Terroristencamps. Da ist zum Beispiel Pater Bert Layson auf den Süd-Philippinen, wo seit dreißig Jahren muslimische Rebellen gegen die Armee um Unabhängigkeit kämpfen. Kurzzeitig selbst zum Muslimhasser geworden, erbarmte sich Pater Bert Layson aber wieder muslimischen Flüchtlingen und öffnete seinen Konvent. Seither mobilisiert er Dörfer, die sich zu waffenfreien Zonen erklären.
Er muss täglich eine Menge anscheinend kleiner und unspektakulärer Probleme lösen: Wie lassen sich christliche und muslimische Dörfer zur Teilnahme an einem gemeinsamen Basketball-Turnier überreden? Wer muss von Rebellen und Armee zur Verkündung der Friedenszone eingeladen werden, damit die Sicherheitsgarantieren halten? Woher bekommt er die Handys für Reisbauern in der Friedenszone, damit jeder Übergriff sogleich gemeldet werden kann? Wie motiviert er sein Dutzend Mitarbeiter, an der Vision eines fairen Machtausgleichs aller Gruppen weiterzuarbeiten und sich nicht durch Nachbarn und Angehörigen entmutigen zu lassen, die sie Kollaborateure schimpfen?
In all seiner Vielschichtigkeit gibt uns Pater Bert Layson ein Gefühl für die Realität zurück. Auch einen Ausblick, dass nicht nur gekämpft wird in Konfliktregionen, sondern durchaus auch Leute mit Visionen und Mut – kurz: Vorbilder – zu finden sind. Eine Konfliktanalyse gehört natürlich zu so einer Reportage, aber eben auch ein Lösungsvorschlag. Nicht eine Lösung der hohen Politik. Auf die warten gerade Bürgerkriegsgesellschaften oft vergeblich. Sondern auf eine Lösung, die jedem Einzelnen eine Inspiration sein kann.
Nachdem Peace Counts einen Pool an Geschichten gesammelt hatte, wollten wir das Material nicht vergammeln lassen, sondern in die Ländern zurückbringen, aus denen es stammt. Dieses Jahr startete “Peace Counts on tour” in Sri Lanka und soll in den kommenden drei Jahren in über zehn Länder reisen. Partner sind die Gtz und Brot für die Welt. Finanzielle Unterstützung kommt vom Institut für Auslandsbeziehungen Ifa und dessen Projektbereich zivik.
Eine Fotoausstellung dient als Plattform für Workshops, die das Institut für Friedenspädagogik für sogenannte Multiplikatoren leitet: Polizisten, Lehrer, Studenten, Dozenten, Mediatoren, NGO-Mitarbeiter, die beruflich mit Konfliktbearbeitung zu tun haben.
Die Absicht von Peace Counts on tour: von den Ideen und Methoden der Friedensmacher in anderen Krisenregionen erzählen. Dadurch Inspiration und Zuspruch für die Arbeit der Workshop-Teilnehmer bieten. Weiterverfolgen, was aus den Protagonisten der Reportagen geworden ist. Fotos und Texte den lokalen Medien zur Verfügung stellen. Als Mitteleuropäer haben wir die Möglichkeit zu Weltreisen, ganz im Gegensatz zu den meisten Menschen in Krisenregionen. Dort gibt es dagegen viele, die täglich unter schwierigsten Bedingungen erproben, “wie man Frieden macht”. Es lohnt sich, sie stärker zur Kenntnis zu nehmen.
© Tilman Wörtz, 28.11.2007
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Zum Autor
Tilman Wörtz ist China-Korrespondent der Agentur Zeitenspiegel und bei Peace Counts verantwortlich für das Ausstellungsprojekt.