Ein Haus in einem steirischen Tal. Eine Wiese mit Gemüsegarten liegt davor, ein bewaldeter Hang dahinter, ein See in der Nähe. Das nächste Dorf muss mindestens ein paar hundert Meter entfernt sein, denn es teilt sich keine einzige Totale mit dem Haus. Wenn die Kamera, was selten geschieht, durch den Ort streift, rückt das Haus nicht in ihr Blickfeld; umgekehrt bleibt der Ort unsichtbar, solange sich die Kamera im oder rund um das Haus bewegt. Nur ein anderes freistehendes Gehöft kommt ab und zu ins Bild. Offenbar liegt es auf der gegenüberliegenden Talseite.
Das ist die Topografie von „Die Vaterlosen“, dem Langfilmdebüt der 1977 geborenen Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer. Der Film braucht nicht lange, um in sonnenlichtdurchfluteten Rückblenden zu vermitteln, dass in der idyllischen Isolation dieses Hauses ein Experiment stattfand, dass hier ein Aufbruch gewagt wurde, bei dem das Private politisch werden wollte, es aber nicht wurde, sondern privat und klein und kläglich blieb.
Ob das daran liegt, dass die Kommunarden zu beschränkt waren und Kreutzer genau diese Beschränktheit zum Vorschein bringen will, oder daran, dass die Regisseurin selbst keinen Begriff vom Politischen entwickelt und deshalb innerhalb ähnlicher Beschränkungen agiert wie ihre Figuren, lässt sich schwer sagen. Fest steht, dass vom einstigen Kommunen-Experiment auf der Gegenwartsebene von „Die Vaterlosen“ nicht viel geblieben ist. Ein paar Wasserflecken an der Decke, vor 20 Jahren eingewecktes Gemüse, eine Witwe und vier erwachsen gewordene, mit ihrer Herkunft und ihrem Leben hadernde Kinder. Der Vater Hans (Johannes Krisch) stirbt in der zweiten Sequenz des Films den Krebstod und spukt fortan als abwesend-anwesendes Gespenst durch den Film und die Gedanken der Figuren.
In Bayern sieht die Sache anders aus. Das Gehöft, das die Kommunarden in Marcus H. Rosenmüllers Komödie „Sommer in Orange“ beziehen, hat zwar ähnlichen Bruchbudencharme wie das Haus in der Steiermark. Doch während die steirischen Kommunarden einen der ihren – Hans, das Alphatier – zu ihrem Guru machen, sind die bayerischen Kommunarden Bhagwan treu ergeben. Ihre orangefarbenen Gewänder kontrastieren mit dem satten Grün der Sommerwiesen, ihre spirituelle Verstrahltheit mit der Frömmigkeit der bayerischen Bauern, ihre Freizügigkeit mit dem Biedersinn, der auf dem westdeutschen Land um 1980 herum herrschte.
Antiautoritäre Chuzpe
Höhepunkt der Konfrontation ist ein Dorffest, bei dem Mantren auf Blasmusik treffen und wenig später Fäuste auf Augen. Und doch ist nicht zu übersehen, wie sich die gegensätzlichen Lebensformen nach und nach vermischen. „Die Vaterlosen“ trennt Dorf und Kommune, „Sommer in Orange“ bringt sie zusammen.
Die junge Heldin, die zwölf Jahre alte Lili (Amber Bongard), geht in die Dorfschule, wo sie sich ihrer bunten Kleidung und ihrer zerzausten Haare wegen schämt, mit antiautoritärer, im Kinderladen antrainierter Chuzpe aber auch mal das Morgengebet durcheinanderbringt. Wenn der Kühlschrank in der Kommunenküche leer ist, setzt sie sich bei den Nachbarn an den gedeckten Tisch. Die Wiener Würstchen bringen sie kurz aus der Fassung, weil sie zum Vegetariertum erzogen wurde – aber eben nur kurz.
Und auch die Nachbarn, brave CSUler, lernen von der Kommune. Sex macht eben mehr Spaß, wenn man sich dabei tantrisch verrenkt. In alldem bleibt Rosenmüllers Film konventionell, insofern er vom geraden Weg der Culture-Clash-Komödie keinen Zentimeter abweicht. In seinem Blick auf die Dialektik von gesellschaftlichen Aufbruchs- und Beharrungskräften freilich fördert er viel mehr zutage als „Die Vaterlosen“.
Mehrere Filmkritikerinnen aus Wien versicherten mir, dass man in Österreich beim Sujet Kommune gar nicht anders könne, als an Otto Mühl, das heißt an sexuellen Missbrauch, zu denken. Weil „Die Vaterlosen“ dieses heikle Thema nicht berührt, sei man dann erst einmal erleichtert. In Deutschland denkt man bei Missbrauch ja eher an katholische oder reformpädagogische Schulen und an Kinderheime, deswegen geht der Film hier ohne den Otto-Mühl-Vermeidungs-Bonus an den Start. Was bleibt, ist ein Ensemblestück, das sich redlich Mühe gibt, nach und nach das von den Kommunarden angerichtete Chaos zu lichten.
Dabei greift die Regisseurin in die Trickkiste der Tiefenpsychologie, sie konstruiert Schuldzusammenhänge und Traumata und legt den Film als Familienaufstellung an. Eine selbstreferenzielle Ebene wird zwar eingezogen – eine der Figuren sagt in einer nächtlichen Szene: „Na, hat die Familienaufstellung nicht funktioniert?“ -, doch fügt sie dem Film so wenig hinzu wie das ostentativ in die Kamera gehaltene Buch „Der Anti-Ödipus“.
„Familie wird überbewertet“, sagt in einer Szene eine Schwägerin. „Familie, das sind die Wurzeln“, antwortet daraufhin ein Schwager. „Wurzeln sind auch überbewertet“, kontert die Frau, bevor sie sich in die Lektüre von Deleuze/Guattari versenkt.
Das Rhizom, das die Elterngeneration zu leben versucht, geht in „Die Vaterlosen“ also gehörig in die Hose, was, nebenbei, weniger am Rhizom als an der Hose liegt, denn die Hose von Hans und der Schwanz darin bilden den Mittelpunkt der steirischen Kommune. In Vergessenheit gerät dabei, dass dort, wo man brav „Mama, Papa, Kind, Kind“ spielte, die Neurosen mindestens genauso gut gedeihen konnten wie in der Landkommune. Aber das ist kein filmkritischer Einwand, und niemand zwingt mich, Kreutzers desillusionierte Perspektive ideologisch, als indirektes Loblied auf die bürgerliche Kleinfamilie zu verstehen.
Nur: Was ihrem Film fehlt, ist die Offenheit in der Inszenierung all der Kindheitsprägungen, Traumata, Versehrungen und der dazugehörigen Motive, die Offenheit, die mir beim Zuschauen die Möglichkeit ließe, mich freier durch den Film zu bewegen, so wie sich erwachsene Menschen in der Regel freier durch ihre Biografien bewegen als Kinder.
In „Die Vaterlosen“ dagegen verhält es sich so, dass, wer als Kind ein Baumhaus baute, auch als erwachsener Mann auf dem Dach steht und die Schindeln richtet. Der Film legt eine recht mechanische Vorstellung von psychischen Abläufen an den Tag und vergisst dabei, dass weder Filme noch Seelen wie Maschinen funktionieren.
„Sommer in Orange“ ist offener. Rosenmüller und die Drehbuchautorin Ursula Gruber, deren Kindheitserlebnisse in den Film einfließen, können dem Chaos der Kommune viele lustvolle Seiten abgewinnen. Sie haben ein Auge für die Lächerlichkeit der Bhagwan-Jünger, ohne sie deshalb auf billige Weise zu denunzieren. Sie haben zugleich eine Auge für die Lächerlichkeit der bayerischen Dörfler, und auch hier liegt ihnen nicht daran, die Figuren vorzuführen.
Yoga und Feel-Good-Movies
Den traurigen Umstand, dass die experimentierfreudigen Eltern ihre Kinder weit über Gebühr vernachlässigen, berücksichtigen sie, ohne dass sie deshalb der Larmoyanz eines Michel Houellebecq oder eines Oskar Roehler verfielen. Schließlich haben sie ein Auge dafür, wie das, was vor 30 Jahren verwegen und randständig war, in unser aller Leben eingesickert ist. Yoga, Meditation, Tantra-Sex, therapeutische Selbsterkundung, auf Pilzbasis entstehende Wellness-Getränke – all das ist ja heute fester Bestandteil unserer Selbsterhaltungstechniken.
An diesem Punkt vollzieht sich ein weiterer dialektischer Umschlag, den zu verzeichnen ein Feel-Good-Movie wie „Sommer in Orange“ allerdings nicht in der Lage ist. Die Freiheit, die sich im Zuge der Lebensexperimente der 70er Jahre durchgesetzt hat, hat neue Unfreiheiten, neue, gleichwohl subkutan wirkende Imperative hervorgebracht. Die Kontrolle, die früher von außen, von den Institutionen her kam, hat sich nach innen verlagert. Aus dem Versprechen der Autonomie ist die Auflage zum Selbstmanagement geworden. Das Unbehagen daran macht mürbe, und man zweifelt, ob all die Yoga-Stunden und das ayurvedische Essen wirklich helfen, es in den Bann zu schlagen.
Ein gutes Auge für die Lächerlichkeit von Bhagwan-Jüngern und von Dörflern
Auch die Nachbarn, brave CSUler, lernen von der Kommune. Tantrischer Sex macht eben mehr Spaß.