9. März 2012 | Literatur

Der komplizierte Lebensweg von A nach B

von Dirk Knipphals (taz). Berlin


So kann episches Erzählen heute aussehen: Jennifer Egans so komplexer wie bewegender Roman „Der größere Teil der Welt“.

Lesezeit 5 Minuten

Jennifer Egan kann schreiben, dass es einen schier umpustet. Wie es sich anfühlt, nachts in den eiskalten East River bei New York zu springen und langsam zu realisieren, dass man von der Strömung weggetrieben wird. Wie es ist, wenn auf einer Afrikasafari ein Mensch von einem Löwen tatsächlich angefallen wird. Wie für Jugendliche die Aufregung bei einem Rockkonzert plötzlich zum größten Abenteuer des Lebens umschlägt – und sich dann die Befreiung und die Selbstverwirklichung im Musikbusiness aber doch nicht einstellen. Viele Szenen in Jennifer Egans Roman „Der größere Teil der Welt“ lassen intensive Momente so glaubwürdig und in den schriftstellerischen Mitteln sogleich so abgeklärt aufscheinen, dass man diese Autorin unbedingt bewundern muss.

Die Schönheit und die Herausforderung dieses Romans liegen aber noch in etwas anderem. Erzählt ist dieses Buch in dreizehn Episoden – jede mit einer anderen Hauptfigur, jede in einer anderen Perspektive und viele in ganz unterschiedlichen Genres. Von dem Minivorstadtroman über den Bericht aus der Ich-Perspektive, von der Persiflage einer Gonzo-Reportage bis zur klassisch gebauten Kurzgeschichte, vom ironisch zugespitzten Zukunftsszenario bis zur, großartig gemacht, in Vortragsfolien abgefassten Familienaufstellung einer Dreizehnjährigen ist alles vertreten.

„Der größere Teil der Welt“ ist ein Mosaik der unterschiedlichen Stimmlagen. Zudem springt Jennifer Egan in dem Geschehen um ein gutes Dutzend Figuren, deren Leben in den unterschiedlichen Episoden voneinander beeinflusst und gespiegelt wird, ständig vor und zurück.

Ein Spiel mit der Aufnahmefähigkeit des Lesers ist der Roman also auch. So sehr man von den einzelnen Stellen fasziniert wird, die wahre Kunstfertigkeit des Bauplans enthüllt sich erst, wenn man beim zweiten Lesen ein Personenverzeichnis anlegt und die Beziehungen der Figuren untereinander mit Pfeilen skizziert. Klingt nach Schulaufgabe, bringt aber Spaß. Das Lesen ist hier auch eine Art Detektivspiel, und man könnte sich – was es bei Arno Schmid oder David Foster Wallace schon längst gibt – eine Homepage vorstellen, auf der sich die Leser gegenseitig mit Hinweisen vorsorgen.

Nach den Rebellionen

Nur ein Beispiel. In der ersten Episode wird eine Kleptomanin namens Sasha eingeführt. In der zweiten Episode wird sie in ihrer Arbeit als Assistentin eines Musikproduzenten beschrieben; dreißig, desillusioniert, noch ohne Kinder. Fast 200 Seiten später erzählt Jennifer Egan, geschrieben in der Du-Perspektive, die vorausgegangene und ebenso herzzerreißende wie keusche Liebesgeschichte zwischen ihr und Rob – das ist derjenige, der am Ende dieser Episode im East River ertrinkt („Alle haben euch für ein Paar gehalten, so tief ging die Sache mit dir und Sasha“). Erst ein paar Episoden später erfährt man wiederum davon die Vorgeschichte: wie Sasha von zu Hause ausgerissen ist, wie sie mit einer Band als Groupie auf Welttournee gegangen und dann in Neapel gestrandet ist und wie sie dort von ihrem Onkel eher unfreiwillig aufgespürt wurde. Ihre Narben, ihr Musikgeschmack, ihre Kleptomanie, ihre Bindungsprobleme – all das wird überaus plastisch geschildert.

Und in der vorletzten Episode schildert Jennifer Egan dann ganz en passant, wie diese Sasha nach all ihren Rebellionen und subkulturellen Ausflügen dann eben doch noch von einem eher traditionellen Leben eingeholt wird, mit Ehemann und zwei Kindern landet sie in einem Vorort. In dieser Kompliziertheit und emotionalen Dichte erzählt dieser Roman ein halbes Dutzend Lebensläufe.

Beim Lesen stellt man sich immer mal wieder die Frage: Warum bewegt einen das hier alles so? Erzählerischen Erfindungsreichtum und Wagemut sowie Beschlagenheit in den Erzähltechniken der Moderne von Tristram Shandy über Marcel Proust bis Virginia Woolf – all das besitzt die 1962 geborene Jennifer Egan, wie man zuletzt schon in Porträts lesen konnte, fast im Übermaß. Hinzu kommt die Fähigkeit, all das mit Leichtigkeit aufs Papier zu bringen. Während viele europäische Autoren mit den Techniken der Avantgarde immer noch kämpfen, wendet sie sie einfach an. Immer mal wieder kommt einem beim ersten Lesen dabei sogar der Verdacht, hier würde ein literarisches Wunderkind mal zeigen, was es alles so drauf hat.

Die Ernsthaftigkeit und die Würde dieses literarischen Unternehmens zeigen sich aber, wenn man darüber nachdenkt, was die verschiedenen Episoden verbindet. Da gibt es dieses dichte Geflecht an Bezügen und Motiven. Da gibt es die Spiegelungen – alle wesentlichen Motive werden gedoppelt: Neben der Safari gibt es eine zweite Afrikaepisode, einen mit satirischer Lust geschilderten PR-Einsatz für einen Diktator; neben Sasha, deren Leben sich schlussendliche in ruhige Bahnen einlenkt, gibt es eine Frauenfigur, deren Leben aus dem Ruder läuft; neben dem scheiternden Comeback eines Rockstars gibt es ein gelingendes Comeback eines anderen Rockstars; neben dem Ertrinkenden schwimmt ein Mann, der es zurück ins Leben schafft. Und da gibt es diesen Hallraum aus Fernsehseriendramaturgien und Soziale-Netzwerk-Verflechtungen, den Jennifer Egan schafft. Aber all das trifft noch nicht den Glutkern dieses Erzählens.

Der liegt, glaube ich, vielmehr in einem weit gefassten Realismus. Einem Realismus, dem es – wie es der US-amerikanische Kritiker James Wood in seinem wichtigen Buch „Die Kunst des Erzählens“ beschrieben hat – darum geht, ein Werk zu schaffen, das genau sieht, wie die Dinge beschaffen sind. „Ich bin gekommen, weil ich wissen will, was zwischen A und B passiert ist“, lässt Jennifer Egan einmal eine Figur sagen: „Früher waren wir beide Loser, aber jetzt bin nur noch ich ein Loser, warum?“ Aber so einfach ist das natürlich nicht, so gradlinig lässt sich das eben nicht beantworten. Zufälle spielen eine Rolle, Prägungen, Abhängigkeiten, falsche Lebensentscheidungen.

Fremd im eigenen Leben

Außerdem steht Jennifer Egan, anders als etwa Jonathan Franzen, dem sie 2011 mit diesem Roman den Pulitzerpreis wegschnappte, nicht mehr dieses eine Grundmotiv zur Verfügung, mit dem er seine Figuren verbindet; etwa das Motiv, dass die nachfolgende Generation das Leben der vorangegangen korrigieren möchte – und damit nicht fertig wird. Es gibt bei Jennifer Egan auch keine klassischen Außenseiterfiguren mehr, keine einsamen Männer, die durch die Straßen oder die Nächte laufen und sich ihr Teil dazu denken, und auch kein heroisches Rebellentum. Dafür sind bei ihr alle Figuren sich selbst fremd geworden und schlagen sich doch irgendwie durchs Leben. Und genau in so einer Situation experimentiert diese Autorin damit herum, wie man Lebensläufe noch erzählbar machen kann.

Der schönste Punkt ist vielleicht: Es gibt nichts Anachronistisches an diesem Roman. „Der größere Teil der Welt“ sieht zwar trotz seiner Komplexität und erzählerischen Wucht in manchem sehr anders aus als Romane, die wir als ernst und literarisch wertvoll zu begreifen gewohnt sind. Vielleicht ist er dafür schlicht zu popkulturell durchtränkt (übrigens eher in der Indie- als in der Technoschiene). Aber es ist des ernsthaften Nachdenkens wert, ob episches Erzählen heute nicht genau so funktionieren müsste. Von den Lebensläufen ihrer Figuren erzählt Jennifer Egan in Verdichtungen, Knotenpunkten, literarischen Masken. Ach, man möchte geradezu pathetisch werden: Dieser Roman weiß um das Dramatische und die Ereignishaftigkeit des Lebens auch noch in unserer Angestellten- und Mittelstandsgesellschaft. Und er bewahrt den Anspruch der Literatur, ein aktuelles Lebens- und Zeitgefühl (das nie naiv sein kann) aufzuzeichnen.

Das Buch

Jennifer Egan: „Der größere Teil der Welt“. Aus dem Amerikanischen von Heide Zeltmann. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2012, 390 Seiten, 22,95 Euro

Profil: taz – die Tageszeitung

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