18. Juli 2006 | Soziale Ungleichheit

Krank aus Angst vor dem Abgrund

von Nina Apin. Berlin


Unsichere Arbeitsverhältnisse können krank machen – körperlich und psychisch. Auf ärztliche Hilfe verzichten viele kleine Selbstständige aus finanzieller Not: Sie haben ihre Krankenversicherung gekündigt.

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Thomas Berger (Name geändert) kann nicht mehr schlafen. Seit der 41-jährige Toningenieur aus Kreuzberg vor drei Jahren aus einem festen Arbeitsverhältnis in eine Scheinselbstständigkeit rutschte, leidet er unter schweren Schlafstörungen, Angstzuständen und chronischen Kopfschmerzen. Wegen seiner Symptome war Berger schon mehrmals beim Arzt. Aber der konnte keine körperlichen Ursachen feststellen. Berger selbst hat eine präzise Beschreibung für den Grund seiner Krankheit: „Zukunftsangst“.

Sein Arbeitgeber, eine TV-Produktionsfirma, entließ Berger im Rahmen einer Unternehmensverkleinerung und beschäftigt ihn nun weiter als freien Mitarbeiter auf Projektbasis. Kündigungsfrist hat er keine, die monatlichen Raten für Kranken-, Renten und Pflegeversicherung trägt er selbst. Sein Monatsgehalt schwankt stark je nach Auftragslage, manchmal muss er mehrere Monate auf sein Geld warten. Rücklagen für die Zukunft kann sich Berger da nicht leisten. „Wenn ich an die Zukunft meines Kindes oder meine Altersvorsorge denke, wird mir schlecht.“ In letzter Zeit konnte er öfter nicht zur Arbeit kommen, wegen seiner Kopfschmerzen. „Vielleicht schmeißen sie mich ja bald raus“, sagt er resigniert.

Unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse machen krank. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass besonders Arbeitslose häufiger an Krankheiten leiden als Menschen mit Beschäftigung. Nach einer im März veröffentlichten Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit weist jeder dritte Arbeitslose gesundheitliche Einschränkungen auf. Zwei Drittel davon seien so stark geschädigt, dass sie nur schwer ihrer früheren Tätigkeit nachgehen könnten.

„Schon die Befürchtung, den Arbeitsplatz zu verlieren oder im nächsten Monat die Miete nicht bezahlen zu können, kann krank machen“, sagt Thomas Elkeles, Professor an der Fachhochschule Neubrandenburg. Im Fachbereich Gesundheit erforscht er die sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen der Arbeitsmarktlage auf den Einzelnen. „Männer mittleren Alters, die als Alleinverdiener eine Familie ernähren, fürchten den Verlust des Arbeitsplatzes besonders stark“, fasst Elkeles seine bisherigen Erkenntnisse zusammen.

In Krankenhäusern beobachte man seit einigen Jahren bundesweit einen „extremen Anstieg stationärer Aufenthalte in den psychiatrischen Stationen“, sagt Elkeles – dies sei ein weiteres Indiz dafür, dass Arbeitsverhältnisse und Gesundheit in engem Zusammenhang stünden. Die bisherigen Untersuchungen seien jedoch nur begrenzt aussagefähig, da sie nur sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und Arbeitslose umfassten. Die wachsende Zahl von Selbstständigen, Zeitarbeitern und geringfügig Beschäftigten, die in Berlin inzwischen über ein Drittel aller Erwerbstätigen ausmachen, tauchten in den Statistiken gar nicht auf, moniert Elkeles.

Astrid Guhde von der „Malteser Migranten Medizin“ beobachtet mit Sorge, dass immer mehr Deutsche ohne Krankenversicherung die kostenlose ärztliche Hilfe ihrer Einrichtung in Anspruch nehmen, die eigentlich für Migranten in Not gedacht ist. 6.000 Menschen hat die karitative Einrichtung seit 2001 behandelt oder an Krankenhäuser weitergeleitet. Im vergangenen Jahr waren acht Prozent davon deutsche Staatsbürger – Tendenz steigend.

„Vor allem kleine Selbstständige, Taxifahrer oder Handwerker können sich die Krankenversicherung nicht mehr leisten“, sagt Guhde. „Dazu kommen immer mehr Ich-AGs, die aus der Krankenkasse geflogen sind, weil sie die Beitragssätze nicht mehr zahlen können.“ Ein Selbstständiger muss für eine gesetzliche Krankenversicherung mindestens 200 Euro im Monat zahlen, die Kassen gehen von einem Mindesteinkommen von 800 Euro aus. Viele Kleinselbstständige leben in Berlin aber von weniger. „Statt die Selbstständigkeit aufzugeben und zum Arbeitsamt zu gehen, wird dann bei der Versicherung gestrichen.“

Problematisch sei zudem, dass viele Kranke sich erst behandeln lassen, wenn es wirklich nicht mehr anders geht, sagt Astrid Guhde. Sie therapieren sich zu Hause selbst – oder ignorieren die Krankheit, um weiterarbeiten zu können. Das passt zu Studien, wonach der Krankenstand in Betrieben immer weiter sinkt.

Der Rückläufigkeit körperlicher Erkrankungen steht die gleichzeitige Zunahme psychischer Krankheiten gegenüber. Die werden so lange ignoriert, bis der endgültige Zusammenbruch kommt. Und der gefährdet dann erst recht den Arbeitsplatz.

Carlchristian von Braunmühl nennt einen Teufelskreis aus Arbeitsunfähigkeit und Krankheit den „Kellertreppeneffekt“. „Zwei Türen führen auf die Kellertreppe: Arbeitslosigkeit und Angst vor Arbeitslosigkeit“, erklärt der Soziologe, der die Gesundheitsförderungsinitiative „AmigA“ in Brandenburg leitet. AmigA ist ein bundesweit einzigartiges Modellprojekt, das sich auch an von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer richtet. Von Braunmühl und seine Berater betreuen Arbeitnehmer, die krankheitsbedingt oft fehlen oder deren Betrieb von der Schließung bedroht ist. Mentales Ausgleichstraining, Gesprächsrunden und Fitnesskurse sollen helfen, die durch entstandene Belastung erträglicher zu machen.

Mit dem Erfolg des Projekts ist er zufrieden. Aber eigentlich müsste seine Arbeit auf Selbstständige, 1-Euro-Jobber, Teilzeitbeschäftigte und andere prekär Beschäftigte ausgeweitet werden: „Die Beratung bei Übergängen wird immer wichtiger“, sagt er. „Die meisten Arbeitsbiografien sind nicht mehr durch eine lebenslange Stelle geprägt; das Springen von Eisscholle zu Eisscholle ist zum Normalfall geworden.“

Würde Thomas Berger in Brandenburg leben, könnte er die Entspannungs- und Gesundheitsberatungskurse des AmigA-Teams in Anspruch nehmen. Doch in der Hauptstadt der Prekarisierten gibt es solche Angebote nicht, allenfalls ein paar Beratungsstellen für Hartz-IV-Empfänger existieren. Berger, der die Kopfschmerzen und die Zukunftsangst nicht mehr aushält, hat sich jetzt für eine Psychotherapie angemeldet. Hilft auch die nicht, will er aus Berlin wegziehen. „Wenn die Lebensumstände das Problem sind, muss man eben die Lebensumstände ändern“, sagt er.

© Nina Apin (taz), 18.7.2006

Profil: taz – die Tageszeitung

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