17. Oktober 2006 | Soziale Ungleichheit

Die „Unterschicht“: Sechs Fragen und Antworten

von Taz-Redaktion. Berlin


In Deutschland darf von „Oberschicht“ gesprochen werden, doch nicht von „Unterschicht“. Warum eigentlich?

Lesezeit 3 Minuten

Gibt es heute mehr Arme als früher?

Der Bevölkerungsanteil in so genannter „relativer Armut“ ist in den vergangenen Jahren tatsächlich größer geworden. In diese Gruppe fallen Leute, die weniger als 60 Prozent des – nach Haushaltsgröße gewichteten – durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung haben.
Für einen Alleinstehenden lag diese „Armutsschwelle“ laut Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zuletzt bei 938 Euro netto. Der Bevölkerungsanteil der Leute unterhalb der Armutsschwelle stieg zwischen 1998 bis 2003 (jüngere Zahlen gibt es in dem Bericht nicht) von 12,1 auf 13,5 Prozent. Das relative Armutsrisiko bedeutet aber nicht automatisch, dass alle armen Menschen tatsächlich weniger Geld zur Verfügung haben als früher. Denn durch die gestiegenen Durchschnittseinkommen hat sich die „Armutsschwelle“ in absoluten Werten erhöht. Das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft errechnet deshalb, dass die tatsächliche Kaufkraft der Armen in den vergangenen Jahren nicht gesunken, sondern im Schnitt immer noch gestiegen sei.

Haben die Armen heute weniger Möglichkeiten als früher, nach oben aufzusteigen?

Ja, wenn man die Zahl der Langzeitarbeitslosen betrachtet. So waren im September 1996 nur 31 Prozent der Erwerbslosen ein Jahr oder länger ohne Job. Zehn Jahre später, im September dieses Jahres, ist dieser Anteil auf 41 Prozent gestiegen. Bei den Extrem-Langzeitarbeitslosen, also den Leuten, die zwei Jahre oder länger ohne Job sind, weist Deutschland innerhalb der 15 alten EU-Länder die höchste Quote auf.

Macht Hartz IV arm?

Jein. Nach einer Studie des Nürnberger IAB-Instituts haben 53 Prozent der bedürftigen Haushalte durch die Reform Geld verloren, 47 Prozent haben etwas dazugewonnen.

Ist die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss gestiegen?

Die Rate der Schüler ohne Schulabschluss hat sich kaum verändert. Acht bis zehn Prozent eines Jahrgangs verlassen die Schulen ohne Abschluss. Dennoch verschärft sich die Situation. Die Schulforscher beobachten die Entwicklung kleiner Schulghettos, in denen sich Schüler mit Nachteilen konzentrieren – Sitzenbleiber, Kinder mit Migrationshintergrund, der Nachwuchs der Ungelernten und gewalttätige Kids. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung kann die Schul-Unterschichten lokalisieren. Beispiel Bremen: In 95 Prozent der Hauptschulen und 70 Prozent der Realschulen ist Unterricht praktisch nicht mehr möglich. Beispiel Hessen: Über die Hälfte der Haupt- und 36 Prozent der Realschulen gelten als nicht mehr beschulbar.

Steigt die Zahl der jungen Ungelernten?

Auch hier gilt: Die Zahl der jungen Ungelernten steigt nicht, sie pendelt. Rund 15 Prozent eines Jahrgangs absolvieren keine Lehre. Dennoch gibt es auch hier Anzeichen, dass es Schulabgänger gerade aus den Hauptschulen immer schwerer haben. Die Erklärung: Sie gehen nicht mehr in Lehrstellen, sondern verstärkt in berufsvorbereitende Maßnahmen, die berühmten einjährigen Warteschleifen. Die Zahl der Abbrecher in beruflichen Maßnahmen ist laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren von 16,3 auf 22,8 Prozent gestiegen. Allein im Jahr 2004 verließen 240.000 Jugendliche die Maßnahmen vorzeitig oder ohne Abschluss.

Sterben Arme früher?

Ja. Wer wenig verdient, stirbt auch früher – das konnte unlängst das Max-Planck-Institut in Rostock belegen. Demnach beträgt der Unterschied zu den Bessergestellten bis zu fünf Jahre. Allerdings vermischen sich Ursache und Wirkung: Wer krank ist, kann auch schlechter Geld verdienen. Umstritten ist, ob Arme tatsächlich so viel schlechter medizinisch versorgt werden, dass dies ihr Leben verkürzt. Der Deutsche Ärztetag hält dies für unwahrscheinlich. Belegt aber ist, dass sich in den unteren Bevölkerungsschichten die Risiken häufen. Die Menschen sind häufiger übergewichtig, rauchen mehr und gehen seltener zu Vorsorgeuntersuchungen.

© Der Bericht wurde in der TAZ vom 17. Oktober 2006 veröffentlicht

Profil: www.taz.de



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