„Nein, meine Suppe ess‘ ich nicht!“ ruft trotzig Heinrich Hoffmanns Suppenkaspar, immer wieder bis der zuerst kugelrunde Bub nur noch ein Fädchen ist und schließlich am fünften Tag stirbt. Ob solche drastischen Geschichten Kinder jemals zum Essen motivieren konnten, ist fraglich. Aber sie zeigt, dass sich auch schon frühere Elterngenerationen mit dem Problem Essensverweigerung herumgeschlagen haben.
In einer Zeit, in der alle Welt von Moppel-Kindern spricht und wir Lebensmittel im Überfluss haben, geraten Probleme mit dünnen Kindern leicht in Vergessenheit. Dabei vermuten Experten, dass Fütter- und Essstörungen, die zu Mangelernährung führen, ebenso zunehmen, wie die Übergewichtsraten. Etwa 15 Prozent aller gesunden Säuglinge und Kleinkinder sollen betroffen sein – Jungs und Mädchen zu gleichen Teilen. Ob die Kinder später auch ein Risiko für andere Essstörungen haben, ist noch nicht untersucht.
Normalerweise legen sich Phasen der Essensverweigerung wieder – sie sind Teil der normalen, kindlichen Persönlichkeitsentwicklung. Medizinischen Rat sollten sich Eltern aber suchen, wenn der tägliche Kampf ums Essen länger als einen Monat anhält. Dann liegt laut den Leitlinien der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie“ (DGKJP) eine Fütterstörung vor.
„Wenn sich Teufelskreise einspielen, das heißt, wenn die Kinder immer mehr verweigern und die Eltern immer mehr Druck machen müssen oder immer neue Ablenkungsmanöver ausprobieren, ist Sorge angebracht“, meint Michael Schieche, Psychologe am Münchner Kinderzentrum für Ess-, Schlaf- und Schreistörungen bei Kleinkindern.
Der Kinderarzt kann feststellen, ob das Kind so wenig isst, dass es bereits eine Gedeihstörung hat. Er kann auch ursächliche Allergien oder Unverträglichkeiten aufdecken. Gehäuft kommen Fütterstörungen etwa bei Frühchen vor, die nach der Geburt künstlich beatmet wurden. Manche Fälle müssen stationär betreut werden, wenn der Ernährungs- oder Flüssigkeitsstatus des Kindes bereits kritisch ist. Sie werden dann über Sonden ernährt.
In manchen Kliniken wird auch ambulant betreut, etwa im Kinderzentrum München. Bundesweit gibt aber viel zu wenig Beratungsangebote, so beklagen Experten. Schwerpunkt in einer Kinderambulanz ist die Videoarbeit. „Die Eltern bekommen ja ständig Ratschläge von allen Seiten, aber keiner sieht sich einmal die fest gefahrene Esssituation genau an,“ so Schieche.
Die Eltern müssen daher schon beim Ersttermin etwas zum Füttern mitbringen und werden dann gefilmt. Danach bespricht man anhand der Aufzeichnung mögliche Veränderungen. Dabei versuchen die Kinderärzte etwa zu klären, ob das Kind im Moment überhaupt Appetit hat oder wann es günstig ist aufzuhören.
In einer Beratung versucht man auch, das Vertrauen der Eltern in die kindlichen Hunger- und Sättigungsmechanismen wieder herzustellen. „Wenn Kinder Essen verweigern oder ausspucken, haben sie meist keinen Hunger, sie besitzen noch ein natürliches Gefühl für Sättigung“, meint Schieche. Zudem kommen Kinder, wenn sie sich nicht gerade in einer Wachstumsphase befinden, mit sehr wenig Nahrung aus.
Das Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) hat in der DONALD-Studie ermittelt, dass es auch zwischen gleichaltrigen Kindern erhebliche Unterschiede bei den täglichen Verzehrsmengen gibt. So trinken zehn Prozent der 3-Monate alten Säuglinge nur gut einen halben Liter Muttermilch, während andere mehr als das anderthalb-fache davon zu sich nehmen. Diesen Mengenunterschied fanden die Forscher in allen Altersgruppen.
Eltern bekommen in einer Beratung aber auch konkrete Essensregeln an die Hand. „Die wichtigste ist: „Eltern bestimmen, was und wann es zu essen gibt, das Kind bestimmt wie viel“, so Schieche. Zudem sollten Eltern bei der Lebensmittelauswahl nicht nur gesundheitsrelevante Aspekte berücksichtigen, sondern auch die Vorlieben des Kindes. Das Kind ständig zu wiegen, erzeugt dagegen unnötigen Stress, meinen die Forscher des FKE.
Oft geht es bei Nahrungsverweigerung um kindliche Autonomie, hat also keine medizinische Ursache. „Meistens beginnt das Problem bei einem nichtigen Anlass. Typischerweise kommt es zu kleinen Verweigerungen bei Nahrungsumstellungen etwa vom Stillen auf Flaschen- oder auf feste Nahrung,“ so Schieche.
Diese Situation eskaliert so leicht, weil ein Kind, das nicht gedeiht, große Ängste auslöst. Mechthild Papousek, Wissenschaftlerin an der Universität München erklärt wieso: „Die Sorge um Ernährung und Gedeihen des Kindes ist sehr eng mit der mütterlichen Identität verknüpft.“ Nicht zuletzt besteht in schweren Fällen immer die Gefahr, dass das Kind stirbt.
Fütter- und Gedeihstörungen betreffen in der Folge das gesamte Familiensystem. Das Essen beherrscht den Alltag so sehr, dass für Spielen häufig keine Energien mehr da sind. Zudem kommt es zwischen den Partnern statt gegenseitiger Unterstützung zu Vorwürfen. Mütter fühlen sich Alleingelassen, Väter ausgegrenzt.
Ein Grund dafür, dass immer mehr Kinder mit Essstörungen in den Arztpraxen auftauchen, könnte die lange vernachlässigte und darum heute oft fehlende mütterliche Intuition sein. Vor 100 Jahren galt der Säugling als ein unreifes, tierähnliches Mängelwesen, das mit dressurähnlichen Methoden zu erziehen sei, Füttern oder Stillen im Vierstundentakt anstatt nach Bedarf war gang und gäbe. Bis in die 1970er Jahre hat man die mütterliche Kompetenz gering geschätzt. Auch wenn es im Zuge der 1968er-Bewegung zu einem neuen Selbstverständnis der Mütter und einer neuen Sicht der Mutter-Kind-Beziehung gekommen ist, kämpfen Eltern heute noch mit einer starken Verunsicherung im Umgang mit ihrem Nachwuchs. Und diese Unsicherheit zeigt sich auch beim täglichen Essen.
© Der Artikel wurde in der Taz vom 11.6.2009 veröffentlicht.