20. Mai 2008 | Interkulturalität

Islam in Deutschland

von Katajun Amirpur.


„Wann ist ein Mann ein Mann“, fragte schon Grönemeyer längst. Katajun Amirpur fragt: „Wann ist ein Moslem ein Moslem?“. Denn die 3,2 Millionen Muslime in Deutschland sind keine homogene Masse. Religion ist für manche Muslime schlicht eine Form der persönlichen Sinnstiftung in der Fremde. In anderen Fällen ist die Rückbesinnung auch als eine Trotzreaktion zu sehen: Eine Reaktion gegen die permanent negative Einstellung zum Islam, die auch säkulär lebenden Muslimen in Deutschland entgegen schlägt.

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Es gibt über 3,2 Millionen Muslime in Deutschland. Unter ihnen sind sicher viele, die sich nicht integrieren wollen oder die archaische Vorstellungen von der Rolle der Frau haben. Kein Zweifel: Es gibt Zwangsehen, es gibt Männer, die ihre Frauen schlagen, Brüder, die ihre Schwestern töten. Das kann niemand bestreiten und das Problem soll nicht beschönigt werden. Aber es gibt auch andere Muslime – und sie stellen die absolute Mehrzahl. Sie sind die Regel und keineswegs nur die Ausnahme. Aber im westlichen Sinne „normal“ zu sein, d.h. so säkular zu denken und zu leben wie der deutsche Mitbürger wird einem Moslem so oft abgesprochen. Ein Beispiel: Sind Sie eigentlich ein richtiger Moslem? Das werde ich seit dem 11. September häufig gefragt. Auf meine Rückfrage, was denn ein richtiger Moslem sei, bekomme ich zumeist eine eindeutige Antwort. „Richtige Muslime“ beten fünfmal am Tag, sie trinken keinen Alkohol, essen kein Schweinefleisch und fasten im Monat Ramadan. Kulturmuslime hingegen haben „nur“ einen islamischen Familienhintergrund, der Islam ist aber in ihrem alltäglichen Leben nicht mehr das allein prägende – oder besser, selig machende – Moment. Doch würde diese Definition zutreffen, dann wäre ein ganz gewaltiger Prozentsatz der Menschen, die sich selber durchaus als Muslime begreifen, keine Muslime. Es sind viele, die sich als Muslime sehen und dennoch die islamischen Gebote im Alltag eher lax auslegen oder schlicht nicht beachten. Und dies ist kein Phänomen der Moderne, sondern Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften. Dass der Islam eine Religion ist, die den Alltag seiner Gläubigen prägt und bis ins Detail hinein bestimmt, ist eine im Westen häufig gehörte Beschreibung. Nur: sie ist so nicht zutreffend. Auch im Fall der Muslime gilt: Nicht das gesamte Verhalten des Menschen von der Religion bestimmt. Im Alltag von zig Millionen Muslimen spielt die Religion keine allzu dominante Rolle. Deswegen würden sie sich aber dennoch als richtige, im Sinne von gläubigen Muslimen bezeichnen. Sie glauben an Gott, an die Auferstehung, an die Gerechtigkeit als dem wichtigsten Attribut Gottes. Trotzdem aber trinken sie gerne ab und an ein Gläschen Arak oder Raki und lassen auch schon mal das eine oder andere Gebet ausfallen. Will der Westen sie jetzt deswegen exkommunizieren? Dazu hat er nicht nur nicht das Recht, er macht sich auch gleich mit der Religionspolizei in Saudi-Arabien oder mit den Islamwächtern in Iran – und begibt sich damit in ungute Gesellschaft. Denn auch diese Islamwächter meinen, über die Menschen urteilen zu dürfen und beurteilen zu können, wer ein richtiger Muslim ist. Nach klassisch islamischer Auffassung jedoch ist das Ketzerei: zu entscheiden, wer Moslem ist oder wer seinen Glauben verlassen hat, ist allein Sache von Gott im Himmel.

Dass es auch Muslime gibt, die die islamischen Gebote nicht immer und andauernd beachten, ist eine gesellschaftliche Realität in vielen islamischen Ländern – und auch hier. Es mag erstaunen: Sehr viele Muslime in Deutschland beten nicht fünfmal täglich und sie fasten auch nicht. Und sie organisieren sich auch nicht. Warum sollten sie auch? Sie wollen ihre Interessen als Muslime gar nicht durchsetzen. Es ist ihnen schlicht egal, ob ihre Kinder muslimischen Religionsunterricht erhalten oder ob das Fleisch, das sie essen, islamisch geschlachtet wurde. Und da ihnen das Kopftuchgebot nicht als ein unbedingt einzuhaltendes Gebot der Religion gilt, wollen sie auch nicht dafür kämpfen, dass muslimische Frauen an deutschen Schulen mit Kopftuch unterrichten können. Weil sie aber diese Lobbyarbeit nicht machen, ist diese Art von Muslimen im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands nicht vorhanden. Sie werden nicht in Talkshows zum Thema „Dialog mit dem Islam“ geladen und auf der Straße erkennt man sie auch nicht unbedingt. Es gibt sie aber trotzdem – und zwar in nicht unbeträchtlicher Zahl – und auch sie sind „Islam in Deutschland.“ Um auch dies deutlich zu sagen: das ist kein Plädoyer dafür, diese Art von Muslimen stärker zu beachten, das wollen sie gar nicht. Und vor allem sollte der Islam, den sie leben nicht als Argument gegen diejenigen verwendet werden, die sich in ihrem Alltag und bei ihrer Lebensgestaltung stärker an den Geboten und Gesetzen des Islams orientieren wollen, denn schließlich ist es nicht per se unstatthaft, religiöses Leben auch öffentlich zu organisieren. Aber es ist ein Plädoyer dafür, das Bild von dem Islam in Deutschland um eine Nuance zu erweitern.

Die Muslime und ihre Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft

Ist es tatsächlich so, dass Muslime sich hier nicht integriert fühlen und stattdessen an ihrer muslimischen Identität festhalten wollen, die mit der deutschen angeblich so unvereinbar ist? Wissenschaftliche Untersuchungen bestreiten diese, in den Medien gängige Ansicht. Die meisten Muslime sind im deutschen säkularen Rechtsstaat durchaus schon seit einiger Zeit angekommen. Das belegt zumindest Heiner Bielefeldt, der Direktor des deutschen Instituts für Menschenrechte. Muslime im säkularen Rechtsstaat heißt eine seiner besten Publikationen. Bielefeldt beschönigt nichts, aber dass die Muslime im deutschen Rechtsstaat bereits angekommen sind, stellt er ganz klar fest. „Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber dem säkularen Staat ist in Deutschland offenbar Sache einer radikalen Minderheit unter den Muslimen,“ schreibt er. „Die Mehrheit hingegen scheint sich mit den bestehenden Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert zu haben.“ 

Vermutlich würde jede empirische Untersuchung ergeben, dass gerade die Frauen nicht das sind, was aus ihnen gemacht wird. Doch dazu müsste man mit ihnen sprechen, statt nur über sie. Ein Beispiel: Auch wenn sie hier „angekommen“ sind, halten viele Frauen am Kopftuch fest. Warum das so ist, hat Nilüfer Göle untersucht. Und was bedeutet Muslimen dann das Kopftuch? Die soziologischen Untersuchungen von Göle belegen, dass für viele junge Musliminnen das Kopftuch gerade nicht Zeichen einer islamistischen Gesinnung ist, sondern – wie Göle es formuliert – „statt eines Stigmas für Muslime zum positiven Bekenntnis zu ihrer islamischen Identität geworden ist.“ Nilüfer Göle dürfte kaum in dem Verdacht stehen, eine besondere Vorliebe zu haben für Väter, die ihre Töchter zum Kopftuch zwingen. Die Türkin, die auf Podiumsdiskussionen schon den gewieften Samuel Huntington und seine These vom Zusammenprall der Zivilisationen das Schrecken bzw. das Gefühl, mundtot geredet worden zu sein, lehrte, unterrichtet in Paris am Centre des Hautes Études en Science Sociale. Ihre eigene Haarpracht erinnert im übrigen eher an die Rapunzelns. Sie kommt zu dem Schluss: Das Schandmal „Muslim is ugly“ wird umgekehrt in „Muslim is beautiful.“ Religion ist ganz schlicht für viele Muslime eine Form der persönlichen Sinnstiftung in der Fremde, befindet die Soziologin. Doch nicht die Distanzierung vom modernen städtischen Leben, sondern die Annäherung daran, löst die Rückbesinnung auf die religiöse Identität aus. Ihrer Meinung nach stehen die kopftuchtragenden Mädchen ihren französischen Mitschülern viel näher als ihren an die Wohnung gefesselten, ungebildeten Müttern.

Die Integrationsschaft der deutschen Mehrheitsgesellschaft und die Folgen für das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern

Bis heute haben große Teile dieser Gesellschaft nicht akzeptiert, dass Deutschland faktisch ein Einwanderungsland ist. Ein Beispiel: wenn ich beim Schulamt der Stadt Köln anrufe und sage: Guten Tag, mein Name ist Katajun Amirpur, könnten sie mir sagen, wann in diesem Jahr die Einschulungstermine sind? Dann kommt spätestens nach dem dritten Satz. Sie sprechen aber gut Deutsch. Liegt das nun daran, dass viele Menschen mit einem ähnlich orientalisch klingenden Namen wie meinem, nicht gut Deutsch sprechen? Mag sein und kann stimmen. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass sich immer noch viele nicht an eine Tatsache gewöhnt haben: Menschen heißen so wie ich heiße und sind trotzdem Deutsche. Die Mentalität, die in diesem Beispiel zum Ausdruck kommt, suggeriert vielen „Ausländern“, das hier sei nicht ihre Heimat, sie seien nur zu Gast. Schlimmer noch die Frage: wann gehen Sie denn zurück? Nein, kann ich da nur sagen: ich gehe nicht zurück. Ich bin schon da, ich bin in Köln geboren. Deutschland ist meine Heimat und wohin sollte ich auch gehen? Nach Iran? In das Land, das mein Vater im zarten Alter von siebzehn Jahren verlassen hat? Doch für diese Antwort bedarf es eines Selbstbewusstseins, das ich habe, über das aber viele andere, die genau so sehr Ausländer sind wie ich (oder eben nicht) eben nicht verfügen. Konfrontiert mit dieser Haltung meinen daher viele Türken und Muslime, sie müssten sich auf eine andere, auf ihre angeblich eigene kulturelle Identität besinnen. Frei nach dem Motto: wenn ihr uns nicht haben wollt, dann eben nicht. So werden sie nationalistischer als die Türken, die in der Türkei leben und halten fest an einem Islam, der sich in den meisten Ländern der islamischen Welt schon längst den Gegebenheiten der Moderne angepasst hat. Diese Rückbesinnung auf den Islam lässt sie noch lange nicht zu islamischen Fundamentalisten werden. Aber die Rückbesinnung ist auch Ausdruck des Gefühls, hier nicht wirklich akzeptiert zu werden.

Die Kopftuch-Debatte als Beispiel für die Themen, die angesprochen werden müssen 

Die deutsche Kopftuch-Debatte wird immer aggressiver und ist an Niveaulosigkeit kaum mehr zu überbieten. Neuerdings muss jeder Muslim – vor allem wenn sie ein Kopftuch trägt – sein demokratisches und säkulares Bekenntnis unter Beweis stellen. Doch dies unterstellt, dass er keines hat – eben weil er Muslim ist. Das ist nicht nur a-historisch – Muslime haben weit länger und vor allem im vollsten Einklang mit sich selbst und ihrer Religion unter einer säkularen Herrschaft gelebt als uns Fundamentalisten wie Osama bin Laden glauben machen wollen –, es ist auch rassistisch. So seltsam es klingen mag: auch Türken lassen sich nicht gerne foltern, auch Iranerinnen wollen ihre Meinung sagen und auch Araber möchten sich ihre politische Führung selber aussuchen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen wollen einige von ihnen ein Kopftuch tragen. Doch wenn man sie sofort als Fundamentalisten diskreditiert, nimmt man ihnen jede Möglichkeit, sich für einen offenen, pluralistischen Islam einzusetzen. Man drängt sie zum Zusammenschluss mit jenen, die tatsächlich keine demokratische Gesinnung haben.

Die Wirkung der Debatte auf die Muslime

Die gegenwärtige Debatte könnte ein herber Rückschlag für die Integration von Muslimen in Deutschland sein: Viele sehen die Debatte als ein Beispiel für den Islamhass im Westen, ziehen eine Linie von ihr zur Rhetorik Silvio Berlusconis vom Kreuzzug des Islams und Huntingtons Thesen vom „Zusammenprall der Zivilisationen“. Bei vielen wird die Botschaft ankommen: entweder ihr assimiliert euch oder ihr haut ab. Davon geht eine große Gefahr aus. Das Leben in Deutschland ist für Muslime nicht einfacher geworden seit dem 11. September. Zwar sind viele – wie auch ich selber – äußerlich nicht als Muslime zu erkennen und haben dementsprechend im Alltag weniger Probleme. Aber auch wir fühlen uns zunehmend vor den Kopf gestoßen angesichts der Arroganz und Unkenntnis mit der über unsere Religion geurteilt wird; Viele reagieren zudem trotzig auf den aufklärerischen Impuls dieser Debatte. Denn ihnen wird unterstellt, alles an ihnen und ihrer Religion sei rückschrittlich und sie sollten jetzt doch die Entwicklung nehmen, die der Westen ihnen vorgemacht hat. So richtig es ist, bestimmte Gesetze des Islams oder Manifestationen seiner Kultur als rückschrittlich zu brandmarken, wer Muslimen das Gefühl gibt, sie dürften nicht stolz sein auf ihre Religion und ihre Kultur sollte nicht auf allzu viel Dialogbereitschaft hoffen. Wenn diese gesamte Kultur und Religion verunglimpft wird, werden sich auch Menschen abwenden, die vollkommen loyal zum deutschen Staat stehen.

Der Islam als Wurzel allen Übels 

Denn immer häufiger wird ihre Religion als vollkommen demokratieresistent beschrieben. Die meisten, die so argumentieren, suchen die Gründe für diese angebliche Resistenz im Sakralen, also in dem Text, der diese Religion stiftete, dem Koran. Doch verschließt die Fixierung auf den Koran nicht den Blick für die eigentlichen Hintergründe und Ursachen des „Stillstands der islamischen Welt“, der zu recht konstatiert wird? So könnte man sich fragen. Seit dem Jahre 2002 haben die Vereinten Nationen dreimal den so genannten Arab Human Development Report in Auftrag gegeben. Arabische Wissenschaftler untersuchen darin, welche Faktoren zum „Stillstand der islamischen Welt“, den sie ebenso wenig wie Dan Diner leugnen, beitragen. Sie kommen zu dem Schluss, dass in der arabischen Welt erhebliche Defizite in den Bereichen Freiheit, Rechte für Frauen und Bildung herrschen. In all diesen Bereichen wird die arabische Welt nur noch von Schwarzafrika unterboten. In Ägypten liegt die Analphabetenquote bei Männern um 40 Prozent, bei Frauen um 60 Prozent. Von tausend Arabern verfügen lediglich zwei über einen Internet-Zugang.

Könnten diese Zahlen nicht weit mehr für den „Stillstand der islamischen Welt“ verantwortlich sein als das geschriebene, im Koran festgehaltene Wort Gottes? Entgegnen könnte man, dass all diese Defizite im Grunde auf den Koran zurückgehen: weil er Unfreiheit zementiert und Frauenunterdrückung und Entwicklung verhindert. Aber würde sich all dies tatsächlich eins zu eins aus dem Wortlaut des Korans ableiten lassen, wie hat dann diese Gesellschaft, die sich auf den Koran als konstituierendes Element beruft, jemals eine Hochkultur hervorbringen können? Ganz logisch klingt das nicht.

Weiter stellt der Bericht fest, dass die Hälfte aller Araber unter 25 auswandern möchte – und zwar bevorzugt in die USA und nach Großbritannien! Das scheint dann doch ein bisschen viel für eine Gesellschaft, die unsere westlichen Werte angeblich ablehnt, weil sie der eigenen Kultur so wesensfremd seien. „Why do they hate us“, hat sich George W. Bush seit dem 11. September immer wieder gefragt. Doch sie hassen uns nicht und wenn doch, dann nicht für das, wofür wir behaupten zu stehen: für Demokratie, für Menschenrechte, für Freiheit. Sie hassen uns – wenn überhaupt – dafür, dass wir für das, wofür wir stehen wollen, nicht einstehen. Und diese Rechte allenfalls nur für uns selber beanspruchen: die Unterstützung der Taliban und des saudi-arabischen Regimes sind dafür die besten Beispiele. 

 „Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln. Sie spricht nicht. Es sind die Menschen, die mit ihr sprechen,“ lautet ein Wort von Ali, dem ersten Imams der Schia. Die Offenbarung schweigt, erst die Menschen bringen sie zum Sprechen, setzten die ersten Interpreten des Islams diese Aussage in Exegese um. Was wir heute als Wissenschaft der Hermeneutik verinnerlicht haben, war der klassischen Islamwissenschaft also durchaus nicht unbekannt. Der Text, der Korantext, so folgt aus dieser Haltung, ist wie jeder andere Text ein offener Text, der zu Interpretationen einlädt. Und dementsprechend ist die starre Auslegung des Korans wie sie von vielen radikalen Islamisten praktiziert wird, eher ein Phänomen der Moderne.

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Der Autor

Katajun Amirpur ist deutsch-iranische Journalistin und Islamwissenschaftlerin. Nach dem Studium der Iranistik in Bonn und Teheran promovierte sie über die schiitische Koranexegese und ist Dozentin an der Universität Bonn. Als freie Journalistin schreibt sie u.a. für die Süddeutsche Zeitung, die Taz sowie die Zeit.


Foto im Artikel gelöscht wegen fehlender Copyright-Angabe. 4.4.24


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