CULTURA21: Welche Länder und Kulturen sind in eurer Biografie vertreten?
ALI: Ich bin in Deutschland geboren. Im Alter von vier Jahren lebte ich für eineinhalb Jahre in einem türkischen Dorf. Es gab kein Strom und kein Fernseher. 18. Jahrhundert kann man sagen, zumindest technisch gesehen. Dort bin ich auch ein halbes Jahr zur Schule gegangen. Mit sechs Jahren bin ich dann nach Deutschland zurück, wurde dann in Köln eingeschult. Ich konnte damals kein Wort Deutsch mehr und musste von Null anfangen. Ich sehe mich nicht als Türke oder Deutscher, sondern als Weltbürger. Unsere Welt ist eine Kugel; aus dem All betrachtet wird deutlich, dass es nur eine Welt gibt.
RAMI: Ich bin aus der Provinz, aus Ostwestfalen-Lippe, aus dem schwarzen, katholischen Paderborn. Dort habe ich es bis zum 20. Lebensjahr ausgehalten, und am ersten Tag nach Beendigung des Zivildienstes bin ich dann nach Köln gekommen. Dementsprechend bin ich zurzeit Kölner, aber eigentlich relativ identitätslos, positiv gesehen. Ich habe kein Zugehörigkeitsgefühl und auch kein Verlangen danach, irgendwo anzudocken, mich irgendwo einzugliedern. Ich bin genauso deutsch wie arabisch, obwohl ich jetzt nicht sagen könnte, was an mir besonders arabisch ist. Ich kann sagen, was an mir deutsch ist. Ich bin Ordnungsfanatiker: Die Gabeln müssen zu den Gabeln, sie dürfen sich nicht mit den Löffeln vermischen. Mein Hintergrund ist zu 75 Prozent arabisch, zu 25 Prozent italienisch. Meine Großmutter mütterlicherseits kam aus Sizilien, ich habe sie nie kennen gelernt. Sie war Jüdin und lernte in Kairo einen katholischen Syrer kennen. Dort wurde meine Mutter gezeugt. Der väterliche Teil ist palästinensisch, islamisch. Ganz einfach. Ich bin im sechsten Semester an der Kunsthochschule für Medien und werde dort zum Künstler ausgebildet, der in den Medien arbeiten wird.
Was bedeutet für dich, Ali, Moslem zu sein?
ALI: Moslem zu sein, drückt sich in erster Linie in meiner Gedankenwelt aus. Ich gehe nicht in die Moschee, was ich irgendwann einmal tun werde. Ich lebe nicht in einem islamischen Land, das heißt, wenn ich freitags beten wollte, müsste ich zu meinem Arbeitgeber gehen und ihn fragen. Er würde mich dann ein bisschen blöd anschauen. Also, sagen wir es mal so, es ist nicht erwünscht. Ich bete nur nachts, bevor ich schlafen gehe. Ich meine Beten in dem Sinne, dass ich zu meinem Schöpfer spreche, nicht das ritualisierte Gebet, wobei ich das nicht als schlecht abtue. Ich schaffe das bisher einfach nicht.
Wenn es also kein Problem wäre, während der Arbeitszeit zu beten, würdest du es auch mache?
ALI: Ja, vielleicht nicht fünfmal am Tag, ob fünf oder drei Mal ist umstritten. Man soll sich jeden Tag bewusst sein darüber, dass das Leben ein Geschenk ist. Es befristet ist und kann ganz plötzlich vorbei sein. Dessen wird man sich beim Beten bewusst. Außerdem ist Beten auch meditativ, es ist spirituell. Es öffnen sich durch diese geistige Haltung viele Türen. Man kann auch einfach mal abschalten und ist weg vom alltäglichen, eingebildeten Stress. Beten ist als Moslem natürlich auch eine Pflicht.
Welche Werte verbindest du mit dem Islam als Religion?
ALI: Im Prinzip Werte, die das Christentum, das Judentum oder der Kommunismus auch haben. Die Religionen Christentum und Islam sind ja aus dem Judentum entstanden. Wenn man sich das alles genau anguckt, sind die Unterschiede nicht gravierend. Man soll nicht lügen, man soll ein guter Mensch sein.
Ist es in Deutschland für einen Muslim schwierig, konsequent seinem Glauben zu folgen?
ALI: Ja. Wenn man sich die letzten Jahre anschaut, kann es auch gefährlich sein. Wenn man in eine Moschee geht, in der sich nur ein Taliban-Fritze aufhält, und dort betet, dann heißt es schnell: „Er verkehrt in den Kreisen.“ Dann wird dein Telefon vielleicht abgehört, deine E-Mails überprüft und so weiter. Man gerät schnell in so eine Islamisten-Ecke und hat das Gefühl, man müsse sich für das Beten und den Besuch rechtfertigen.
RAMI: Das Problem ist ja, dass wenn man ein paar mal diskriminiert wurde, weiß man irgendwann nicht mehr genau, ob man wirklich schief angeguckt wird, oder ob man sich das einbildet. Die Gefahr, sich in diese Rolle zurückzuziehen ist sehr groß. Dass man sagt: „Toll, mein Kaffee ist kalt, nur weil ich Ausländer bin, meine Wohnung hat Schimmel, nur weil ich Ausländer bin, ihr Schweine!“
ALI: Mir wurde eine Zeit lang immer wieder gesagt, ich sei zu sensibel. Darauf achte ich, aber wenn die Diskriminierung eindeutig ist, dann ist das halt so.
Rami, wie hast du in deinem Leben Religion erlebt?
RAMI: Weder meine Mutter noch mein Vater haben ihre Religion zu Hause praktiziert, wenn überhaupt nur im Stillen. Es gab also wenig Kontakt mit Religiösität, deshalb bin ich glaube ich, so wie ich bin. Das soziale Überleben für zwei unausgebildete Asylbewerber, die sich durchschlagen und zwei Kinder ernähren müssen, war vorrangiger als den Glauben an Gott aufrecht zu erhalten. Die Realität hat irgendwie die Spiritualität eingeholt. Von daher kam ich nie in die Versuchung, das zu übernehmen. Ich wuchs sehr schulisch auf. In der ersten Klasse Sachunterricht, alles ist so erklärbar, so erfahrbar.
Hattest du Religionsunterricht?
RAMI: Nein, in der Grundschule hatte ich dann entweder frei, auf dem Gymnasium lag das immer mitten am Tag. So musste ich immer zu den Schülern der nächsthöheren Klasse. Auf meiner Schule war ich der einzige dunkle Nicht-Christ. Dann kam ich immer in die Klasse und der Lehrer sagte: „Das ist der Typ aus der Stufe unter euch, der hat gerade keinen Religionsunterricht. Ich saß dann immer zusammengekauert hinten und habe nichts verstanden von dem Stoff, den die ein Jahr über mir hatten. Mein Vater hat aber versucht, das privat nachzuholen. Er hat versucht, mir das Beten beizubringen. Das haperte einerseits an den Vokabeln, an der Sprache, denn was ich noch spreche ist Straßen-Arabisch, so wie man sich unterhält. Was ich nicht kann, ist Hocharabisch, das Gelehrten-Arabisch, das kann ich überhaupt nicht. Andererseits fehlte mir als kleiner Junge die Motivation und außerdem haperte es auch am sozialen Umfeld. Wir wohnten in einer Hochaussiedlung, wo man ziemlich viele Leute kennt, die man zum engeren Freundeskreis zählt, und es war üblich, dass nach der Schule alle zehn Minuten ein Kind klingelte: „Ist der Rami da? Wir wollen spielen.“ An dem Tag, als mein Vater versuchte, mir das Beten beizubringen, klingelte es auch alle zehn Minuten. „Kommt Rami raus, Fußball spielen?“ „Nein, Rami lernt.“ Nach einer Stunde gab mein Vater entnervt auf: „Geh zu deinen Freunden und spiel!“ Danach war ich befreit, ich musste nie wieder etwas mit Religion zu tun haben. Er hat aufgegeben, er hat gemerkt, dass seine Kinder anders aufwachsen.
Du fühlst dich also keiner vorgegebenen Identität verpflichtet. Wirst du aufgrund deines Aussehens in eine Richtung geschoben, mit der du nichts zu tun hast?
RAMI: Seit dem 11. September 2001 ist das Leben doch ein anderes geworden. Das ist wirklich so. Dreimal zu hören „Wo warst du denn am 11. September?“ ist lustig, beim dritten Mal lache ich noch, aber beim 100. Mal lache ich nicht mehr. Gar nicht mehr. Ich würde zum Beispiel auch gerne wissen, ob ich in der Rasterfahndung war. Ich habe die typischen Merkmale. Mitte zwanzig, gut ausgebildet, höflich zu den Nachbarn, unauffällig. Das bin ich, und dazu palästinensisch. Seitdem habe ich das Gefühl, ich bin Pressesprecher für Terroristen. Ich sollte erklären, warum die Terroristen das machen. Aber woher soll ich das wissen? Das sind verrückte Idioten, die irgendeinen Grund haben, um auszurasten. Die Leute in arabischen Ländern fühlen sich auch bedroht durch die USA. Der Islam ist inzwischen eine Ideologie und deshalb baut man dieses Feindbild auf, dabei ist es noch nicht einmal ein Prozent der Muslime, die jeden vernünftigen, rechtstaatlichen Gedanken über Bord werfen. Da kommen einfach ein paar Leute her und ramponieren das Image von Millionen von Menschen. Die Fundamentalisten sind da, wo die Christen bei den Kreuzzügen waren. Die sind einfach 1000 Jahre zu spät dran.
Fühlt ihr euch ständig unter Beobachtung oder kontrolliert?
ALI: Ja. Wenn ich im Internet surfe, und ich arbeite ja hauptsächlich im Internet, dann achte ich schon darauf, worauf ich klicke. Man braucht ja heute nur mal einen verkehrten Link anzuklicken. Es gab schon Hausdurchsuchungen bei Menschen, die die falsche Homepage besucht haben. In einer echten Demokratie finde ich es sehr wichtig, dass ich nur die Informationen preisgeben kann, die ich preisgeben will. Da soll keiner in die Intims- bzw. Privatsphäre einbrechen und irgendwelche Daten und Informationen stehlen.
RAMI: Also ich muss zu Protokoll geben, dass ich davor keine Angst habe. Ich habe Angst davor, dass wenn ich ausziehe, mein Vermieter meine Kaution nicht zurückbezahlt, aber vor dieser abstrakten Bedrohung, obwohl sie ja konkret zu werden scheint, nicht. Es ärgert mich einfach. Ich will wissen, ob mich jemand überwacht, und dann wehre ich mich, weil ich an Gesetze und Bürgerrechte glaube – klingt auch wieder sehr deutsch wahrscheinlich. Und an die Wehrhaftigkeit der Demokratie und dass man Missstände, wenn man sie kennt, anprangern und beheben kann.
Rami, hast du schon deine arabische Verwandtschaft besucht?
RAMI: Familie habe ich in Damaskus und in Beirut, also im Libanon und in Syrien. In Syrien war ich schon einmal als Kind, habe daran aber nur touristische Erinnerungen. Schönes Land, schönes Essen, alles billig. Beirut wäre jetzt eigentlich mal dran. Da wohnen über 100 Verwandte von mir, die ich alle nicht kenne. Vor einem Jahr war ein Drittel der libanesischen Bevölkerung auf der Flucht. Das passiert da einfach so. Und da will ich nicht dazwischen geraten.
Du hast den Krieg in Libanon durch die Medien verfolgt: das war sicherlich nicht leicht für dich gewesen …
RAMI: Ich werde dann nicht mehr zum Libanesen, weil es Libanesen sind, die leiden. Das bleibt auf einer persönlichen Ebene und weckt keine Nationalgefühle in mir. Man (insbesondere der Vater) reagiert besorgt, ruft dann schnell an, ob alles in Ordnung ist.
Wie ist die Einstellung der Muslime gegenüber „dem Westen“?
ALI: Die Ursache der Konflikte sind relativ alt. Man müsste quasi bis Palästina zurückgehen.
RAMI: Meiner Meinung nach, verschieden. Ich glaub das liegt an der individuellen, persönlichen und sozialen Lage. Jemand der 30 Jahre lang malochte und dem jedes Jahr seine Aufenthaltsgenehmigung für nur 1 Jahr verlängert wird und er nicht weiß, ob er nächstes Jahr noch hier sein wird oder mit seiner Familie zurück muss, in ein Dorf das vielleicht schon längst kaputt ist, der hat allen Grund dem Westen tendenziell eher skeptisch gegenüberzustehen, weil es sich total missbraucht und verachtet und gedemütigt fühlt. Andererseits gibt auch, grade in Köln, viele Dissidenten, viele aus dem Iran, die lieben es hier zu sein. Ich kenn viele Taxifahrer, die Psychologen und Professoren waren in Teheran, die sind jetzt hier Taxifahrer und trotzdem hadern sie nicht mit ihren Schicksal, die sind froh und dankbar, dass man sie hier hat herkommen und leben lassen. Ein bescheidenes Leben, aber wo sie frei denken können, wo ihre Kinder in Ruhe und Frieden aufwachen können. Also ich glaube, dass liegt immer an der sozialen Lage der Menschen, wie sie den Westen betrachten.
Und wo sind die Unterschiede was Werte und Lebenseinstellung angeht?
RAMI: Die Familie ist der Kern.
ALI: Also es gibt im Grunde von der Religion her keine signifikanten Unterscheide. Diese sind eher kulturell gewachsen. Und ich meine, Moslems in Deutschland, eine Minderheit, die ersten kamen ja 20-30 Jahre nach der NS-Zeit. Manche stellten relativ früh fest, dass der Gastgeber, das Gastgeberland oder Volk einen eigentlich nicht will. Du sollst arbeiten, bist aber am Wochenende in der Kneipe oder Disco nicht unbedingt erwünscht. Auf dem Papier Demokratie, Freiheit und Gleichheit – ist ja alles schön und gut – aber das reale Leben… In Köln war das zum Beispiel so: Wenn man eine Wohnung in Marienburg wollte, hat man sie nicht bekommen. Stattdessen in Kalk oder Mülheim, heute Ghettos. Es war nicht so, dass alle auf eigene Initiative dahin gezogen sind. Sie hatten keine Ahnung und haben diese Wohnungen bekommen. Dadurch verselbstständigte sich das Ganze. In der Straße, in der ich aufgewachsen bin, wohnen allein 2000 Türken. Dies prägt auch deren Werte und Lebenseinstellungen.
Eine Parallelgesellschaft also?
ALI: Parallel heißt ja, ohne Berührungspunkte. Das gibt es eigentlich nicht. Es gibt Personen, nicht Gruppen. Ich bin z.B. Mitglied im Fußballverein und geh noch schwimmen. Man sagt immer “Parallelgesellschaft“, als wären die Leute da so abgeschottet und würden nichts mitbekommen.
Plädiert ihr für eine strikte Trennung von Religion und Staat?
RAMI: Auf jeden Fall…
ALI: Die Trennung von Religion und Staat muss natürlich gegeben sein.
Fühlt ihr euch von der Debatte über Integration betroffen?
RAMI: Gute Frage! Ich hab in letzter Zeit gelernt, nicht mehr betroffen zu sein. Ich hab immer alle Artikel ausgeschnitten, die das Thema berühren, und in ein Buch geklebt, weil ich dachte, dass wäre auch mein Thema. Auch jeder Künstler oder Medienschaffende hat immer ein Thema und ich dachte immer dies wäre meins und ich würde darüber etwas machen. Aber, inzwischen berührt mich das nicht mehr so oder regt mich nicht mehr auf. Warum weiß ich nicht. Wahrscheinlich weil man älter wird und seine Kräfte anders, sinnvoll einsetzten möchte.
ALI: Eine echte und faire Integrationsdebatte bzw. -politik erfolgt leider nicht, vielleicht aus Desinteresse und wegen der fehlenden politischen Lobby. Seit den Einwandererzeiten hat sich da wenig getan. Die Verlierer sind die eingewanderten Minderheiten und ihre Nachkommen, die häufig in Ghettos leben, sprachliche Probleme haben, vergleichsweise seltener Abi machen und schlechtere Jobchancen haben. Gut fühlt sich das sicher nicht an. Auf diese Weise kann eine Integration nicht erfolgreich sein. Ich bin aber optimistisch und hoffnungsvoll, da die Probleme nicht mehr weggeblendet werden können und nach einer Lösung schreien.
RAMI: Ich rege mich über Integration und Ausgrenzung auf, wie über andere Dinge. Ich rege mich über Steuerhinterzieher auf, über die Umweltverschmutzung und wenn von Einbürgerungstests die Rede ist.
Lieber Ali, lieber Rami, vielen Dank für das Gespräch.