Immer, wenn irgendwo in Afrika oder Lateinamerika gewählt wird, setzt sich von Europa aus ein Tross von sogenannten Wahlbeobachtern in Bewegung. Denn wir in Europa wissen ja, wie eine Demokratie funktioniert. Wir passen auf, dass die politischen Anfänger in den fernen Ländern auch alles richtig machen. Den Politikern schauen wir auf die Finger und verkünden laut, wenn sie schummeln. Den Wählern versichern wir, dass wir ihre Interessen vertreten, in der festen Überzeugung, dass wir diese Interessen tatsächlich kennen.
Ich erinnere mich, dass ich 1974 heftigen Widerspruch erntete, als ich fragte, ob es sinnvoll sei, gleich nach der Nelkenrevolution in Portugal Wahlen zu veranstalten. 40 Jahre Diktatur, eine halbfeudale Sozial- und Gesellschaftsordnung, 30 Prozent Analphabetentum: Das schienen mir schlechte Voraussetzungen für eine politische Meinungsbildung zu sein.
Nun gut. Wir hatten vorgesorgt. 1973 war unter der Schirmherrschaft der deutschen Sozialdemokraten die Sozialistische Partei von Portugal gegründet worden. Vom Westen großzügig unterstützt, konnte ihr Anführer, der Friedensfürst Mario Soares die Demokratie vor den Kommunisten retten. Seither gilt der kleine südwest-europäische Staat als Erfolgsgeschichte. Die Parteien streiten friedlich miteinander und wechseln sich beim Regieren ab. Die Presse darf sich frei äußern. Das Land hat sich Europa als Mitglied der EU angeschlossen und die bleierne Isolation der Salazar-Zeit überwunden. Das Land lässt sich nach gut 40 Jahren nicht wiedererkennen.
Habe ich also mit meinen Bedenken unrecht gehabt? Es hätte schlechter gelingen können. Doch viele der alten feudalen Strukturen haben sich erhalten, zum Beispiel in der Landwirtschaft, in der Industrie, in der Erziehung. Allerdings lässt sich diese Erbschaft Salazars mühelos als Bestandteil des heute international angesagten Dschungelkapitalismus interpretieren.
Nur ein Jahr später fand das demokratische Sendungsbewusstsein ein neues Bekenntnisfeld: Angola. Die Unabhängigkeit von Portugal erlebten die Angolaner 1975 als Wechsel vom Befreiungskrieg zum Bürgerkrieg. Die überwiegend weißen Verwaltungsangestellten, Lehrer, Ärzte und Kaufleute flohen zu Hunderttausenden aus der ehemaligen Kolonie und hinterließen über 90 Prozent Analphabeten, eine zerstörte Infrastruktur und einen ausgeplünderten Haushalt. Westen und Osten erkoren sich das Land als Schauplatz eines Stellvertreterkrieges. Vom Süden marschierte der damalige Apartheids-Staat Südafrika ein. Vom Westen über den Ozean kamen die Kubaner der bedrängten linken Regierung zu Hilfe. Und da wurde ich als Kommunist und Antidemokrat dafür beschimpft, dass ich meinte, Wahlen unter diesen Umständen könnten doch nur ein reichlich absurdes Unterfangen sein.
Der fast reflexhafte Ruf nach Wahlen als Allheilmittel erinnert mich an das Verhalten des südafrikanischen Rüstungskonzerns Lonhro: Während der Bürgerkriege in Mozambique und Angola belieferte Lonhro alle Parteien großzügig mit Land- und Bodenminen. Die Auftraggeber der Kriege von Washington bis nach Moskau finanzierten die Bestellungen. Nach dem Ende der blutigen Auseinandersetzungen bot sich der gleiche Konzern Lonhro an, die Minen zu räumen. Natürlich gegen Bezahlung. Zur Kasse gebeten wurde jetzt die internationale Hilfsgemeinschaft, im Namen des Kampfes gegen Armut und Gewalt.
Nach dem Kolonialismus, nach dem Kalten Krieg bestimmt heute der Kampf um Rohstoffe die internationale Politik. Auf eventuelle demokratische Bedürfnisse wird nur Rücksicht genommen, wenn es in die Interessenlage der Großmächte passt. Die implantierten demokratischen Systeme werden nur akzeptiert, wenn sie den Großmächten genehme Ergebnisse liefern. Die Palästinenser wählen falsch und müssen dafür bestraft werden.
In unserem Dossier reflektieren wir von verschiedenen Positionen aus die Krise der Parteien. Es handelt sich dabei nach dem deutschen Grundgesetz um „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder über längere Zeit auf die politischen Verhältnisse Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes mitwirken wollen.“ Der Bürger ist die Fiktion eines freien Menschen, der unabhängig von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, von seinen sozialen Abhängigkeiten und seinen religiösen Überzeugungen das Wohl des Ganzen im Auge hat. Doch schon Jean-Paul Sartre stellte fest: „Die Partei kann immer nur ein Mittel sein. Und immer gibt es nur einen einzigen Zweck: die Macht.“
Manchmal geschieht es – fast wider alle Wahrscheinlichkeit – , dass sich unterdrückte und ausgeplünderte Völker auflehnen und die Chance einer Wahl nutzen, um sich von einem verhassten Regime zu befreien; oder auch nur, um den Willen zur Verbesserung ihres miserablen Lebens zu demonstrieren. Das wird dann als Sieg der Demokratie und als Bestätigung dafür gefeiert, dass wir recht damit haben, andere mit unserem System zu beglücken.
Dass die Partei, die sich durchsetzt, unter Umständen nur Vehikel für den Ehrgeiz ihres Führers ist, dass sie von ausländischen Interessen manipuliert wird oder mehr oder weniger offen einen totalitären Anspruch vertritt, scheint erst einmal nebensächlich. Hauptsache, die von uns geforderten Spielregeln wurden eingehalten. Werden die Erwartungen der Wähler nicht erfüllt, resignieren sie oder verlieren den Glauben an die Demokratie.
Die Resignation über Parteien, die nicht den Erwartungen entsprechen, über Politiker, die sich von der Realität ihrer Wähler entfernt haben und nur ihren eigenen Interessen nachgehen, gibt es auch bei uns. In den westlichen Ländern aber hat sich das repräsentative System historisch entwickelt. Es war die Antwort auf eine gegebene Situation. Seien es die Republikaner und Demokraten in den USA, Labour und die Konservativen in Großbritannien, Christdemokraten, Sozialdemokraten oder Liberale in Deutschland: Die Wähler glaubten, dass sie durch die Parteien Einfluss auf die Politik nehmen konnten. Die Parteien reflektierten eine gesellschaftliche Wirklichkeit.
In der Volksrepublik Kongo sind wir erleichtert, wenn die Wahlen nicht zum Bürgerkrieg führen. Im Irak sind wir fassungslos, weil wir sehen, dass die Wahlen keinerlei Lösung bringen. Wir sollten zumindest aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lernen, dass Wahlen nicht zwangsläufig das Allheilmittel sind; dass Parteien in unserem Sinne nur in einer halbwegs strukturierten, eigenständigen und Konsens-fähigen Gesellschaft entstehen und eine demokratische Entwicklung fördern können.
Vielleicht sollten wir etwas weniger überheblich sein, verstehen, dass unsere Rezepte woanders Krankheiten eher verschlimmern. Bush ist mit seinem Versuch, das amerikanische Modell zu exportieren, blutig gescheitert. Missionare gleich welcher Religion haben selten Gutes angerichtet. Menschenrechtsverletzungen, Völkermorde oder auch Korruption sollten wir anprangern, uns dabei aber immer überlegen, welche Rolle unsere Interessenpolitik spielt. Die Globalisierung gewährt nur dem Stärkeren die Möglichkeit zum Eingriff.
Es gibt keine Alternative zu unserer Art von Demokratie: Das ist das Credo. Doch selbst wenn wir nicht wissen, wie eine Alternative aussehen könnte, muss es erlaubt sein, diesen Glaubenssatz zu bezweifeln.
© Hans Hübner, 6.5.2007