Die in der Bundesrepublik primär von studentischen Kräften getragene „1968-Bewegung“ ist nicht ohne ihre Vorgeschichte und ihren internationalen Kontext zu verstehen. Welches waren ihre Motive, ihre Ziele?
Sie strebte eine auch im Blick auf amtierende ehemalige Nazis konsequente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit an. Besonderer Zündstoff: KZ-Baumeister Heinrich Lübke war 1959 Bundespräsident, NS-Marinerichter Hans Filbinger 1966 Ministerpräsident und NS-Propagandist Kurt Georg Kiesinger im selben Jahr Bundeskanzler geworden. 1968 setzte die Französin Beate Klarsfeld studentische Proteste „handfest“ in die Tat um und ohrfeigte Kiesinger auf offener CDU-Bühne.
Die „1968er“ protestierten gegen die „imperialistische“ Außenpolitik der USA und deren Völker- und Menschenrechte verletzende Regierung. Gravierende Beispiele: Die Niederwerfung demokratischer Kräfte im Iran und in Guatemala (1954) und vor allem der seit 1964 eskalierende Vietnamkrieg.
Prägend für das Bewusstsein der „1968er“ wurden die „trikontinentalen“ antikolonialistischen, antiimperialistischen und antirassistischen Befreiungsbewegungen in Angola, Mosambik und Südafrika, Kuba und Nicaragua, Vietnam und China. Stärkste Symbolfiguren wurden Mao Zedong, Ho-Chi-Minh. Innenpolitisch sah die Mehrheit der „1968er“ aufgrund der seit Jahrzehnten bestehenden bundesdeutschen Fixierung an USA und NATO in der Bildung einer neuen Partei keine für den weltweiten Emanzipationsprozess nützliche Alternative. Den Stalinismus bzw. „Sozialimperialismus der Sowjetunion“ (Rudi Dutschke) lehnte sie ebenfalls ab.
„Der „lange Marsch durch die Institutionen“ und die „außerparlamentarische Opposition“ (APO)
Dieser „lange Marsch“ war eine 1967 von Rudi Dutschke entwickelte Zielvorstellung, die eine langfristige politisch-strategische Perspektive der damals noch primär studentisch geprägten Protestbewegung in einem inhaltlich linkssozialistisch gemeinten Sinn beinhaltete.
Die Formulierung erinnerte an den Langen Marsch von Mao Zedong. Inhaltlich markiert sie eine Art „Doppelstrategie“: „1968er“, die in Parteien und politischen Institutionen Fuß fassten, verstanden sich zugleich als Teil der in den Jahren 1966 bis 1969 besonders starken außerparlamentarischen Protestbewegung.
Am 11. Mai gelang der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO) ein Mobilisierungshöhepunkt: 50.000 Menschen demonstrierten in Bonn gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Anlässlich der 2. und 3. Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag fanden an zahlreichen Hochschulen Streiks, Besetzungen und Blockaden statt; zur 2. Lesung war es auch in etlichen Betrieben zu Warnstreiks gekommen.
Die bundesdeutsche Protestbewegung sah sich in eine internationale Bewegung eingebettet. In den USA wuchs unter maßgeblicher Beteiligung von StudentInnen der Protest gegen den Vietnam-Krieg, im „Prager Frühling“ spielten StudentInnen eine wichtige Rolle und sogar in Jugoslawien hingen StudentInnen Dutschke-Bilder an die Wände. Die bundesdeutschen Linken sahen sich besonders durch die Ereignisse im Mai 1968 in Paris bestätigt; Frankreich schien sich in einer revolutionären Situation zu befinden. Hier gelang sogar die Ausrufung eines 24stündigen Generalstreiks durch die Gewerkschaften, verbunden mit spontanen Streiks und Fabrikbesetzungen.
Am 30. Mai 1968 verabschiedete der Bundestag die Notstandsgesetze, im Juni scheiterte das Pariser Aufbegehren und de Gaulle restaurierte seine Macht, am 21. August wurde mit dem Einmarsch der Streitkräfte des Warschauer Vertrages in der CSSR der „Prager Frühling“ zerschlagen – und damit der praktische Versuch der Entwicklung eines Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ (Alexander Dubcek).
Die Gewaltfrage, K-Gruppen und Sponti-Bewegung
Provokative, illegale Aktionen unterhalb der menschengefährdenden Ebene gehörten zum Aktionsrepertoire. Dabei reichte das Spektrum vom bewussten Brechen von Demonstrationsauflagen bis zu gezielter Sachbeschädigung („Gewalt gegen Sachen, aber nicht gegen Personen“). Der von Dutschke und anderen im 1968 erdachte Plan, in Bremen ein Schiff mit Kriegsmaterial für den Vietnamkrieg zu sprengen, wurde jedoch fallengelassen, da nicht zu gewährleisten gewesen wäre, so Dutschke später in einem Interview, dass kein Mensch bei der geplanten Aktion zu Schaden gekommen wäre. Der Brandanschlag vom 2. April 1968 von Andreas Baader, Thorwald Proll, Horst Söhnlein und Gudrun Ensslin auf zwei Frankfurter Kaufhäuser ist noch in diesem Zusammenhang zu betrachten.
Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke wurde darüber diskutiert, ob nicht der Zeitpunkt erreicht sei, wo „vom Protest zum Widerstand“ (Ulrike Meinhof) übergegangen werden müsse. Die Protestbewegung war durch die „Gewaltfrage“ in ihrem ohnehin lockeren Organisationszusammenhang zerstört worden. Es setzte eine „innere Terrorisierung der Bewegung“ (Wolfgang Kraushaar) ein. Die von dem Heidelberger SDS-Mitglied Joscha Schmierer geprägte Parole von der „Liquidierung der antiautoritären Phase“ wurde zum Schlagwort vor allem innerhalb der studentischen Linken – eine Reaktion auf die als unzureichend empfundene Effizienz der bisherigen Revolte. Bei leninistischen, maoistischen und stalinistischen Gruppen („K-Gruppen“) machten bisherige Formen der Basis- und Rätedemokratie einem „Leninschen Organisationsmodell“ samt „proletarischer Disziplin“ Platz.
Die sich in den 70er Jahren entwickelnde „Spontibewegung“ wandte sich vornehmlich den eigenen Lebensverhältnissen in Form von Häuserkampf, Stadtteil-Initiativen, Anti-AKW-Bewegung usw. zu. In Abgrenzung zu den K-Gruppen entstand bei ihnen eine ausgesprochene Theoriefeindlichkeit. K-Gruppen und Spontis bildeten ab Mitte der 70er Jahre, soweit sie überhaupt politisch aktiv blieben, den Ausgangspunkt der alternativen Friedens- und Ökologiebewegung, aus der unter anderem DIE GRÜNEN entstanden. Forderungen der Umwelt- und Frauenbewegung fanden den Weg in Parlamente und Institutionen gefunden. Insgesamt symbolisiert der Aufstieg der Grünen Partei die Integration einzelner Forderungen sozialer Bewegungen in das politische System und steht für den Einfluss dieser Bewegungen, denen es gelungen ist, die stabil geglaubte Nachkriegsordnung des deutschen Drei-Parteien-Systems ins Wanken zu bringen.
Die „1968er“ und die sozialen Bewegungen
Die seit 1968 entstandenen sozialen Bewegungen erreichten einerseits einzelne Fortschritte in Deutschland forderten andererseits bei konsequenter Verfolgung ihrer Ziele die staatliche Gewalt heraus. Während die Rede vom Atomausstieg zum Regierungsprogramm wurde, sahen sich die Anti-AKW-AktivistInnen bei ihren Protesten einem immer größeren Polizeiaufgebot gegenüber. Begleitet wurde diese polizeiliche Aufrüstung auf der juristischen Ebene seit den 1980er Jahren von einer kontinuierlichen Verschärfung des Demonstrationsrechts und von Versuchen immer mehr Formen des Protests zu kriminalisieren.
© Klaus Schmidt, 08.05.2007