3. Mai 2010 | Rezension

Die Ernährungsdiktatur

von Rupert Neudeck. Troisdorf


Die Industrie hat unser Essen standardisiert: Die immergleichen Grundstoffe werden mit Geschmacksverstärkern, zweifelhaften Aromen und Zucker aufgepeppt. Schwammige Gesetze öffnen Tür und Tor für gezielte Irreführung der Kunden. Das neue Buch von Tanja Busse zeigt Wege auf, wie wir uns von der Fremdbestimmung unserer Ernährung befreien können.

Lesezeit 4 Minuten

Wie falsch unsere Politik läuft, macht das neue Buch von Tanja Busse mehr als deutlich. Jedes Kapitel ein Hammerschlag. Und nach jedem Kapitel muss sich der interessierte Leser halb ohnmächtig sagen: Das alles wissen wir, können wir wissen seit mindestens 30 Jahren, aber wir ändern es nicht. So im Kapitel über Agrardumping und Exportsubventionen. „Die gefrorenen Hühnerbeine aus den europäischen Großschlachtereien sind so billig, dass die Bäuerinnen und Bauern in Westafrika nicht mithalten können“. Gärtner in Ghana werden ihre Tomaten nicht los auf den Märkten, weil das Land von Tomatenmarkimporten aus Südeuropa überfallen wird. Milchpulver aus der EU landet so preisgünstig in Sambia, dass die Milchbauern dort kaum noch produzieren können. Mit „freundlicher Unterstützung des europäischen Steuerzahlers“ verlieren hunderttausende von Bäuerinnen und Bauern ihre Existenzgrundlage in diesen Ländern.

Immer wieder schütten wir unsere Überschüsse auf diese Märkte und produzieren damit weiter den Hunger. Bis 1996 importierte Kamerun kein Geflügelfleisch, weil die lokalen Bauern den Bedarf deckten. Im Dezember 1995 wurde Kamerun aber Mitglied der neu gegründeten Welthandelsorganisation WTO und musste versprechen, seine Zölle langfristig niedrig zu halten. Da fingen die Europäer an: halb gefrorene Hühnerbeine aus europäischen High-Tech-Mastbetrieben auf afrikanischen Marktständen unter tropischer Sonne anzubieten, auf diese Idee muss man erst mal kommen, da muss ein Geschäftsmann schon hart an sich arbeiten.

Sage und schreibe 18.000 Tonnen Geflügelreste exportierten die EU 2004 nach Kamerun. Für sagenhafte 60 bis 80 Cents pro Kilo. Die deutschen Geflügelmaster bekamen 70 Cents pro Kilo, die Schlachtereien verkauften für 1.40 Euro an die Abnehmer. Die Händler in Kamerun legen auf die 60-80 Cents pro Kilo das Doppelte drauf und verkaufen das brustlose Resthuhn auf den Märkten. Ein gutes irrsinniges Geschäft, aber Gesundheitsgefährdend.

Kamerun hat sich gewehrt. Es gibt dort jetzt eine Bürgervereinigung zur Kollektiven Interessenvertretung. Wir aber, dass muss man sich ganz knallhart sagen lassen von diesem Buch, haben noch gar nichts gelernt.

Im Jahr 2005, so berichtet uns Tanja Busse – und das ist überhaupt nicht geheim – habe das Hauptzollamt Hamburg Jonas die Subventionsgelder in Deutschland verteilt. Auf der Internetseite des Deutschen Zolls kann jeder die Gesamtzahl finden: 390 867 614 Euro.

Die Autorin, die nun einiges gewohnt ist, reibt sich noch mal lesbar hörbar die Augen. Muss da vielleicht ein Komma rein in diese Zahl? 390.000 wäre doch auch ein Batzen. Nein, es sind 390 Mio. Euro. So geht das Kapitel für Kapitel in diesem Buch, das für jeden, der in dieser Branche tätig ist, eine verpflichtende Lektüre sein muss. Ist eine andere Wirtschaftswelt möglich? Kaum, denn wir haben uns alle an die Unterscheidung zwischen naher und ferner Moral gewöhnt. Wir tun beim Kauf der Cadbury oder anderer Schokoladen nichts, um die verschleppten Minderjährigen zu befreien, die auf den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste schuften, dass die Schwarte kracht, die nach der Arbeit eingesperrt werden und kaum genug zu essen bekommen.

Ein materialreiches Buch, das einem die Schuhe aussieht. Kapitel 9 ist überschrieben: „Wie die Politik den Welthunger mit schönen Worten bekämpft“, erzählt, wie die neue Ministerin für Landwirtschaft und Verbraucher Ilse Aigner noch nicht einmal den Weltagrarbericht gelesen hat. Kap 10 hält eine schöne Schizophrenie fest: Wir setzen auf weltumspannenden und teuren Gipfelkonferenzen ganze Bataillone von Völkerrechtlern an, um ein kodifiziertes „Menschenrecht auf Nahrung“ zu verkünden, mit Pauken und Trompeten. Wir vergessen: Dass das den Hungern noch nicht hilft. Kapitel 13 beschreibt die grausame Industrialisierung der Landwirtschaft: Massenställe, Intensivmast und staatlich sanktionierte Tierquälerei.

Kapitel 14 machte mir deutlich, warum ich in Afrika bei meinen Besuchen immer gesünder esse: „Warum wir Gentechnik im Essen haben … und die meisten das nicht wollen“. In dem Kapitel macht Busse mit einem Widerständler aus dem bayerischen Hinterwald bekannt, den wir künftig nicht mehr verachten sollen, den hinterbayerischen Wald: Josef Feilmeier. Der Futtermittelhändler Josef Feilmeier beliefert dreihundert Bauern mit gentechnikfreiem Futter.

Wie er das macht? Er hat sich einen Lieferanten in Brasilien gesucht. Brasilien ist die positive Alternative zu Argentinien, das sich schon im Griff des Weltkonzerns Monsanto befindet. Zu behaupten, es gäbe kein gentechnikfreies Soja“, sagt Feilmeier, sei eine Lüge. „Die größte private Ölmühle in Brasilien, Imcopa, produziert nur gentechnikfrei und stand sofort bereit, den europäischen Markt zu beliefern.“ Es fing klein an, nicht in Deutschland, aber in Österreich. Das österreichische Handelshaus Pilstl stieg ein. „Heute werden jede Woche in sechs EU Häfen einige Schiffe entladen“. Der Don Quijote Feilmeier stoppte die Windmühlen von Monsanto. Endlich wieder ein Widerstand, der Erfolg hatte.

Oder das Buch macht mit Christian Schüler bekannt, der an der Uni in Kassel an Wintererbsen forscht. Es gäbe keine zugelassene Wintererbsensorte mehr in Deutschland. „Die meisten Forschungsgelder gehen in die Gentechnik, wer was werden will an der Uni, muss daran arbeiten“. Ökologische Agrarwissenschaft gilt als rückständig und wird als romantisierend belächelt.

Im Anhang dieses unerschöpflich reichen und mit heißer Nadel und wütendem Atem geschriebenen Buches werden noch Empfehlungen für eine klimafreundliche, gesunde und selbstbestimmte Ernährung gegeben.

Aber, bange machen gilt nicht. Oder: Yes we can. Noch in den 70er Jahren konnten Fabriken ihre chemischen Abfälle in die Flüsse leiten – heute ist das unmöglich. Heute profitieren wir Konsumenten noch davon, dass die Unternehmen große Teile ihre sozialen und ökologischen Kosten externalisieren können, also nicht zahlen müssen. Wie aber die Welt aussehen würde, wenn wir Verbraucher das nicht mehr hinnehmen mit unseren Kaufentscheidungen: Nicht auszudenken. Ein mutiges und aktivierendes Buch.

© Rupert Neudeck 2010

————————-

Das Buch

Tanja Busse
Die Ernährungsdiktatur
München: Randomhouse, 2010

Profil: www.gruenhelme.de

Weitere Infos: www.randomhouse.de

Featured Image: Verlag



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert