Scheinheiligkeit, Heuchelei, Verschwörungstheorien und dogmatische Engstirnigkeit: Das waren die Grundpfeiler einer Gesellschaft, die Emile Zola in heiligem Zorn anprangerte. Nach der Kampfschrift “J’accuse” nannte der spätere Politiker Georges Clemenceau ihn und seine Mitstreiter Intellektuelle.
Das geschah Ende des 19. Jahrhunderts, also vor gut hundert Jahren. Dieser neue Begriff setzte sich durch und sollte die öffentliche Meinung bis in unsere Tage spalten. Für die einen waren die Intellektuellen Vorkämpfer von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, für die anderen Nestbeschmutzer, Verräter ewiger Werte und Sittenstrolche.
Für mich, den Schüler eines bundesdeutschen Kleinstadt-Gymnasiums gab es in den fünfziger Jahren keinen Zweifel, auf welcher Seite ich stand: auf der Seite der Aufklärung einer verdrängten Vergangenheit, die die Gesellschaft lähmte; auf der Seite der Lockerung eines scheinbar unumstösslichen Verhaltenskodexes und des Widerstandes gegen provinzielle Selbstzufriedenheit.
Eine Ahnung dessen, was ich erträumte erlebte ich 1956 in Paris. Ich geriet in eine Gruppe von Journalisten, Dichtern und Malern, die sich allabendlich im Cafe Flore im Quartier Saint-Germain des Pres trafen. Meinungen, für die ich zu Hause belächelt wurde, stiessen hier auf Interesse. Meine neuen Freunde behandelten mich nicht wie einen jugendlichen Spinner, sondern nahmen mich ernst. Wir verbrachten Nächte in endlosen Diskussionen.
Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Andre Gide und Paul Valery waren meine Leitsterne. Sie meldeten sich zu Wort, bezogen Stellung gegen eine vorherrschende öffentliche Meinung, zum Beispiel für den Freiheitskampf der Algerier, und wurden ernst genommen. In der damaligen Bundesrepublik wären sie als “Pinscher” bezeichnet worden.
Dass Intellektuelle verehrt und anerkannt werden konnten, erlebte ich 1982 in Bogota in Kolumbien. Ich hatte einen frühen Termin mit einer Ministerin der konservativen Regierung von Romulo Betancourt. Völlig unerwartet und ohne Ankündigung umarmte sie mich bei der Begrüssung unter Tränen. “Wir sind Nobelpreisträger!” Gabriel Garcia Marquez war ausgezeichnet worden.
Schlecht ging es allerdings auch in Lateinamerika den Intellektuellen, die sich den herrschenden Regimen widersetzten. Die brasilianische Militärdiktatur zum Beispiel trieb die brillantesten Schriftsteller und Wissenschaftler ins Exil und einen guten Teil der Elite der akademischen Jugend in den Untergrund, in die Stadtguerilla. Stellung zu beziehen wurde lebensgefährlich.
Die 68er Bewegung, eine Europa-weite Studenten- und Intellektuellen-Revolte reichte bis nach Lateinamerika, nach Rio de Janeiro. Während wir im Republikanischen Club in Köln den Vietnam-Krieg verurteilten, Resolutionen gegen Axel Springer verfassten und für unsere Überzeugungen sogar auf die Strasse gingen, stellten sich die Demonstranten in Brasilien tolllkühn und frontal gegen die Diktatur. In der Tradition von Emile Zola forderten sie Freihheit und Gerechtigkeit und nahmen alle Konsequenzen in Kauf.
Doch auch den Vertreter eines anderen Typs von Intellektuellen traf ich in jener Zeit in Brasilien. Octavio Costa, engster Mitarbeiter des damaligen Militärpräsidenten Garrastazu Medici, behandelte mich fast freundschaftlich, forderte von mir sozialistische Solidarität und verteidigte seine Position mit dem Argument, dass ohne Ordnung und wirtschaftlichen Fortschritt kein Erfolg möglich sei, weder Freiheit noch Gerechtigkeit. Um das grosse Ziel zu erreichen, müssten Opfer gebracht werden. Ich war zu höflich, einen in meinen Augen vergleichbaren degenerierten Intellektuellen zu erwähnen: Joseph Göbbels, den Propagandaminister der Nazis.
Die Intellektuellen als Feinde oder Herausforderer von totalitären Regimen oder als ihre Diener: In beiden Rollen finden sie sich immer wieder. Oder sie wechseln ihren Status. Lenin, Mao Tse Tung oder Pol Pot kämpften gegen repressive Regimes und wandelten sich dann ihrerseits zu Diktatoren, um ihre Utopien zu verwirklichen.
Für mich war der Intellektuelle in meinen jungen Jahren eine positive Figur. Wie meine französischen Vorbilder sollte er unabhängig seinen hohen moralischen Anspruch vertreten und versuchen, die Gesellschaft zu beeinflussen oder auch zu verändern.
In der Realität erkannte ich bald die Grenzen meiner Idealvorstellung. Die Kompetenz bezieht der Intellektuelle aus seiner umfassenden Allgemeinbildung, aus seiner erarbeiteten Fähigkeit, nachzudenken und Probleme zu analysieren – im Gegensatz zum Technokraten, der seine Kompetenz vor allem aus dem Fachwissen ableitet. Doch je weiter das Wissen in einzelnen Bereichen wächst, desto geringer ist die Chance, den Überblick zu behalten und fundiert Stellung zu beziehen.
Das Recht zum öffentlichen Auftritt nimmt sich der Intellektuelle auch, weil er seine Position für moralisch integer erklärt. Stellt sich diese Voraussetzung als falsch heraus, wird er unglaubwürdig. Günter Grass zum Beispiel wird an dem hohen Anspruch gemessen, von dem aus er Jahrzehnte lang in die Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheitsbewältigung eingriff. Die späte Enthüllung, dass er als Jugendlicher Mitglied der Waffen-SS war, diskreditierte ihn, auch wenn es nur eine Jugendsünde war. Das öffentliche Auftreten macht verwundbar.
Und der öffentliche Auftritt wird immer schwieriger. Es fehlt eine Plattform, und es fehlt offensichtlich auch zunehmend die Bereitschaft, den Intellektuellen in seiner selbst gewählten Rolle zu akzeptieren. Wenn zum Beispiel Rudolf Augstein in seinem Spiegel Stellung bezog, dann hörte man auf ihn, dann diskutierte man über ihn. Er hatte Einfluss. Mit dem Entstehen neuer Medien und der Vervielfältigung der vorhandenen fällt es dem Bürger heute schwer, sich zu orientieren. Zudem übersteigen Probleme wie die Klima-Erwärmung oder die Globalisierung den nationalen Rahmen und damit einen nachvollziehbaren Einflussbereich.
Mir fällt in unserer heutigen westlichen Welt kein Intellktueller ein, der in Status und Einfluss vergleichbar wäre mit Emile Zola, Jean-Paul Sartre oder auch Rudolf Augstein. In afrikanischen und arabischen Staaten, in Russland, den ehemaligen Sowjet-Republiken oder auch in China bestreiten Intellektuelle nach wie vor den gefährlichen Kampf gegen repressive Regime. Sozialismus erscheint ebenso diskreditiert wie Demokratie nach dem Irak-Feldzug der Vereinigten Staaten. Es bleibt die alte Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit.
Nach wie vor gibt es Intellektuelle, die Diktatoren dienen oder als Mitglieder von Think-Tanks ihre Dienste als Berater anbieten. Doch sie operieren ausserhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit im Graubereich. Für den Intellektuellen als einflussreichen Mahner, als anerkannte öffentliche moralische Instanz scheint es keinen Platz mehr zu geben. Hat das mit der ideologischen Desorientierung zu tun? Oder dem Dahinschwinden einer national begrenzten bürgerlichen Gesellschaft?
Vielleicht weist eine Bewegung in der Art von “attac” den Weg in die Zukunft: als Chance zur Entwicklung eines internationalen Forums, einer neuen Form von Öffentlichkeit. Das setzte allerdings voraus, dass eine Alternative zu der heute weitgehend vom herrschenden System kontrollierten Öffentlichkeit entstände.
© Hans Hübner, 14.02.2007