Große Hitze, Trockenheit, Torf- und Waldbrände in Russland, Starkniederschläge mit gewaltigen Überschwemmungen in Pakistan und Erdrutschen in China, heftige Regenfälle und Hochwasser im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien. Alles dies sind gravierende Ereignisse. Und doch zögern die Klimawissenschaftler, eindeutig von Klimawandel und seinen Folgen zu sprechen; ihre kollektive Antwort lässt sich auf ein Wort eindampfen: ‚wahrscheinlich’. Manche empfinden die Frage allerdings als falsch gestellt: Es ginge gar nicht um Klimawandel oder Wetterextreme, es ginge immer um Elemente von beidem. Dabei entsprechen die Ereignisse genau dem, was der Weltklimarat in seinen Sachstandsberichten vorhergesagt hat: Die Klimaerwärmung geht mit einer Häufung von extremen Wetterereignissen einher. Die Theorie besagt, dass der Klimawandel zu heftigeren Regenfällen im Sommer, stärkeren Schneefällen im Winter, zu vermehrten Dürren und Hitzewellen führen wird; in einer wärmeren Welt wird die zusätzliche Wärme mehr Rekordhöhen und weniger Rekordtiefen bewirken. Und die Statistik bestätigt, dass genau dies schon seit geraumer Zeit stattfindet.
Soziologen definieren Katastrophen als eine Extremform sozialen Wandels, eines radikalen, rapiden und ritualisierten Wandels: Aus vereinzelten Ereignissen werden gründlich wirksame Ereignisse, aus langsamen Veränderungen wird hoch-beschleunigter Wandel, magisch-kausale Erklärungen treten an Stelle von säkularen Erklärungen. Katastrophen stellen die gesellschaftliche Organisation als unzureichend heraus, nach Katastropheneintritt droht das Ende kollektiver Abwehr und die Liquidation tradierter Werte. Während vor der Katastrophe die Frontbildung zwischen Helfern (Experten) und Opfern (Laien) unproblematisch ist, wird sie mit Katastropheneintritt prekär: Fall-Eliten differenzieren sich von Schutz-Laien, immunisieren sich gegen Kritik, wiegeln ab, täuschen sich über ihr eigenes Problemlösungspotenzial, Nebenfolgen und Folgerisiken finden keine glaubhaften Warner mehr. Dann kommen ‚Katastrophen-Sheriffs’ ins Spiel, von denen man charismatische Lösungen erwartet. Wenn die gegenseitige Ungläubigkeit aber zunimmt oder die Unwirksamkeit von Maßnahmen offensichtlich wird, endet die kollektive Abwehr: ‚Rette-sich-wer kann’-Strategien greifen um sich, Widerstand erlischt, Tot tritt ein oder Massenflucht. Wenn jetzt keine neue Friedensstiftung erfolgt, endet gesellschaftliche Organisation.
In allen zurzeit erlebten Fällen finden sich Elemente dieser Theorien. In Russland ist aufgrund der allmählichen Trockenlegung der Moore eine bei langer Trockenheit und großer Hitze schadens-sensible Landschaft entstanden. Durch weitgehende Auflösung der Naturschutzbehörde hat das Waldmanagement einen drastischen Kompetenzverlust erlitten, Folge von Zentralisierung und Deregulierung zugleich. Der ein Löschflugzeug steuernde Premier versucht, wenigstens die Herrschaft über die Ikonografie zu erhalten. In Pakistan bringt der Sommermonsun traditionell große Wassermassen mit sich, während im Rest des Jahres Wasserknappheit herrscht; die Siedlungen wurden deshalb vor allem in Flussnähe gebaut. Ein in Folge des Klimawandels chaotisch wechselnder Monsun übersteigt die Absorptionskapazität der Landschaft und die Stabilität der Infrastruktur, wodurch Millionen Menschen betroffen sind und enorme Schäden entstehen. Und wenn dann der Präsident sich im Ausland statt vor Ort aufhält, gehen politische Glaubwürdigkeit und Steuerungskapazität verloren, die gesellschaftliche Organisation droht zusammenzubrechen.
In den Flussgebieten des Dreiländerecks hat die anhaltende Flächenversiegelung durch Haus- und Infrastrukturbauten die natürlichen Überschwemmungsflächen stark reduziert, Hochwasserschäden sind weiterhin unterversichert, wodurch Bauherren überhöhte Risiken eingehen. Im Katastrophenfall werden lokale Politiker je nach Showtalent schnell zu Sündenböcken oder zu ‚Deichgrafen’ stilisiert.
Wie lernt der Mensch, wie lernt eine Gesellschaft? Mindestens drei Antworten liegen im Wettbewerb miteinander: durch Katastrophen, durch gute Beispiele, durch Kooperation und Kommunikation.
Wer eine Katastrophe miterlebt hat, möchte sie möglichst nicht noch einmal erleben. Wer die beste Praxis übernimmt, verringert die Gefahr des Scheiterns. Wer mit anderen kommuniziert und kooperiert, erhöht die Chance des eigenen Überlebens. Es könnte sein (und wäre zu wünschen), dass die jüngsten Katastrophenfälle dazu beitragen, diese drei Teilantworten miteinander zu verknüpfen. Bisher wird aber im Wesentlichen nur repariert. Pakistan erhält Zelte, Lebensmittel und Medikamente, Russland Atemmasken und Löschflugzeuge, China baut neue Dörfer und entlang der Elbe werden die Deiche erhöht. Katastrophenschutz darf aber nicht nur als Nachsorge verstanden, sondern muss auch als Vorsorge gedacht werden. Und wenn und in dem Maße wie man erkennt, dass Naturkatastrophen durch menschliche Fehler verschärft werden können, kommt der Klimawandel wieder in den Blick: Die globale Erwärmung muss durch eine polyzentrische Klimapolitik eingegrenzt werden, durch drastische Verhaltensänderungen vor Ort, durch bessere regionale Kooperation und durch effektive internationale Vorkehrungen und Vereinbarungen.
Schon die UNO-Resolution Nr. 44/346 von 1989 verlangte, dass alle Länder in die Lage versetzt werden sollten, Naturkatastrophen in ihren Auswirkungen durch resistente Strukturen materieller wie institutioneller Art einzudämmen. Im Jahre 2010, nach allem was wir inzwischen über den Klimawandel wissen, muss der Begriff Naturkatastrophe aber um den der menschengemachten Katastrophe erweitert werden.
© Erstveröffentlichung in: „FREITAG“ , 19. August 2010