21. März 2006 | Hilde Domin

Hand in Hand mit der Sprache, bis zuletzt

von Margret Karsch. Berlin


Zum Tod der Dichterin Hilde Domin am 22. Februar 2006.

Lesezeit 5 Minuten

„Hand in Hand mit der Sprache/bis zuletzt“ [1] – so lauten die letzten Verse des Gedichtzyklus´ „Älter werden“. Hilde Domin hat die drei Abschnitte des Zyklus´ als Antwort auf ein Zitat von Christa Wolf formuliert, das von dem „unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht“ spricht. Domins Verse konstatieren dagegen im ersten Abschnitt die Ewigkeit der Sehnsucht, aber den Verfall der Hoffnung und der Liebe. Der zweite Abschnitt verweist auf den Selbstmord als stets gegenwärtige Fluchtmöglichkeit vor dem anderen Menschen. Die beiden zitierten Verse des letzten Abschnitts jedoch nennen zumindest einen lebenslangen vertraulichen Begleiter: die Sprache. Auch wenn sie keinen Schutz vor der Welt bieten kann, so ist das bloße Gefühl von Nähe, Vertrautheit und Zweisamkeit, das sie vermittelt, doch tröstlich.

Am 22. Februar 2006 ist Domin im Alter von 96 Jahren gestorben. Die Sprache hat ihr Halt gegeben – den Erfahrungen der nationalsozialistischen Verfolgung und des Exils zum Trotz, die sie keineswegs verdrängte oder beschönigte. 1909 in Köln geboren, hatte Domin als Jüdin von Kind auf Erfahrungen mit dem deutschen Antisemitismus sammeln können. In Italien, der ersten Station ihrer „Sprachodyssee“, wie sie ihr Exil einmal genannt hat, heiratete sie den Archäologen Erwin Walter Palm. Sie promovierte über Macchiavelli, bevor beide gemeinsam nach Großbritannien und dann in die Dominikanische Republik flüchteten. Überall lernten sie die Landessprache, und zwar mittels einer besonderen Methode: Sie lasen vor allem Lyrik und übersetzten sie. Palm schrieb schon früh selbst Gedichte, Domin begann damit erst nach dem Tod ihrer Mutter 1951. Das Lesen wie das Schreiben von Lyrik können Trost bieten, wie Domins Gedicht „Das Gefieder der Sprache“ andeutet, das 1963 entstand:

Das Gefieder der Sprache
Das Gefieder der Sprache streicheln
Worte sind Vögel
mit ihnen
davonfliegen.

Hilde Domin

Dieser Trost bleibt jedoch äußerst fragil, wie die Schlussverse von Domins wohl bekanntestem Gedicht „Nur eine Rose als Stütze“ offenbaren: „Meine Hand/greift nach einem Halt und findet/nur eine Rose als Stütze.“

Hilde Domin veröffentlichte ihre Texte in Anlehnung an ihre gegenwärtige Heimat, die Dominikanische Republik, unter dem Pseudonym „Domin“. Nach eigener Aussage wollte sie ihrem Mann nicht unter seinem Namen Konkurrenz machen. Auch wenn Domin in Gesprächen immer von sich und „Erwin“ spricht, wenn sie Anerkennung für sein Leben fordert, so haben sie und ihr Werk Palms Bekanntheitsgrad tatsächlich längst übertroffen.

Domin trug zum Lebensunterhalt mit Übersetzungsarbeiten und Sprachunterricht bei. In Santo Domingo arbeitete sie zeitweise als Lektorin an der Universität, außerdem unterstützte sie ihren Mann, der nun als Kunsthistoriker und Lateinamerikanist tätig war, indem sie mit ihm beim Schreiben und Übersetzen von Artikeln zusammenarbeitete und für ihn Architekturfotografien aufnahm. Auch bei seiner literarischen Arbeit half sie ihm. Im Vorwort der zweisprachigen Anthologie spanisch-amerikanischer Lyrik „Rose aus Asche“, die 1955 erschien, dankt Palm „Hilde“ für ihren Beitrag zu den Übertragungen: „Ihre Unbestechlichkeit war die feinste Waage für die Worte.“

Nach dem zweiten Weltkrieg hielten Palm und Domin sich immer wieder für längere Zeit in Deutschland auf, und als Palm 1960 einen Ruf an die Universität Heidelberg erhielt, kehrten sie in die Stadt zurück, in der sie sich während ihrer gemeinsamen Studienzeit kennen gelernt hatten und in der Domin ihren eigenen Worten zufolge „das geistige Rüstzeug“ für ihr Leben erhalten hatte. Palm starb 1988. Domins Liebesgedichte sind oft Palm gewidmet, mit dem sie ein halbes Jahrhundert zusammen gelebt hat. Einige werfen durchaus auch einen kritischen Blick auf Liebesbeziehungen. Andere offenbaren den Schmerz über den Verlust des Partners, so etwa „Mein Herze wir sind verreist“:

Mein Herze wir sind verreist – Für E.W.P.

Mein Herze
wir sind verreist
nach verschiedenen Weltteilen.
Eurydike
meine Hand
deine Schulter berührend

Ich schreibe mit deinem Stift
ich möchte eintreten
durch diese großen Trichter
am Meer
in das Reich
in dem du gehst oder liegst
oder stehst
in dem du jetzt alles weißt
oder alles vergißt

Ich dein schneller dein zu langsamer
Weggefährte
Ich komme hinter dir her
‚Langsamer’ sagst du wie immer
‚Sei langsam’

So sitze ich hier
hoch über dem Meer
blau grün fern
deinen Stift in der Hand

Hilde Domin

Domin betrachtete ihre Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland nie als endgültig. Ihrem Verhältnis zu Deutschland hat sie in ihrem einzigen Roman „Das zweite Paradies“ Ausdruck verliehen, der 1968 erschien. Darin steht eine Liebesgeschichte im Vordergrund, eine Dreiecksbeziehung. Deren Höhen und Tiefen sind verschränkt mit der Suche nach Heimat, der Sehnsucht nach dem verlorenen Ort, der Hoffnung, ihn wiederzugewinnen, und der Begegnung mit der neuen Heimat.

Domin war eine engagierte Demokratin, die für Selbstbestimmung und Verantwortungsbewusstsein eintrat, das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgte, sich einmischte sowie lokale und weltpolitische Ereignisse kommentierte, die ihren Widerspruch herausforderten. Das galt insbesondere für antisemitische, rassistische und imperialistische Phänomene und entsprach ihrer Auffassung von Zivilcourage, die sie immer wieder auch in ihren Gedichten einforderte. Domin formulierte ihren Anspruch jedoch nicht in propagandistisch-agitatorischem Stil, sondern subtiler, wie es das 1963 entstandene Gedicht „Wer es könnte“ beweist:

Wer es könnte

Wer es könnte
die Welt
hochwerfen
dass der Wind
hindurchfährt.

Hilde Domin

Domin besaß eine kritische Weltsicht, dabei bewahrte sie sich jedoch die Fähigkeit, den Dingen positive Seiten abzugewinnen und sich daran zu freuen. Von der Wohnung unterhalb der Heidelberger Schlossruine aus konnte sie den herrlichen Blick über die Stadt und das Neckartal genießen. Domin empfing gerne Besuch, und viele ihrer Leserinnen und Leser kamen sogar mehrmals vorbei. Das belegt das Gästebuch, das sie in den letzten Lebensjahren führte.

Domin ist am 3. März in Heidelberg neben ihrem Mann beerdigt worden. Die Grabinschrift stand schon seit langem fest: „Wir setzten den Fuß in die Luft/und sie trug“. Die Verse enthalten eine Reminiszenz an den spanischen Autor Lope de Vega und verweisen einmal mehr auf die Erfahrung der Haltlosigkeit einerseits und die Kraft der Dichtung andererseits.

Heidelberg bildete also die letzte Station von Domins Sprachodyssee. Doch die Reise ihrer Worte setzt sich im Rezeptionsprozess ihrer Leserinnen und Leser fort. In dem einleitenden Text der von Domin herausgegebenen Anthologie „Doppelinterpretationen“, die sie 1966 publizierte, und in der 1968 erschienen Essaysammlung „Wozu Lyrik heute“ formulierte sie ihre literaturtheoretische Position. Die aktuelle Rezeptionssituation der jeweiligen Leserinnen und Leserinnen entscheide über die Interpretation und Wirkung von Literatur. Eine solche Begegnung mit offenem Ausgang beschreibt auch Domins Gedicht „Die Botschafter“, das 1964 entstand:

Die Botschafter

Die Botschafter
kommen von weither
von jenseits der Mauer

barfuß
kommen sie
den weiten Weg

um dies Wort abzugeben.
Einer steht vor dir
in fernen Kleidern

er bringt das Wort Ich
er breitet die Arme aus
er sagt das Wort Ich

mit diesem trennenden Wort
eben saht ihr euch an
ist er nicht mehr

geht in dir weiter.

© Margret Karsch, 31.3.2006

——————————–

[1] Alle Gedichte zitiert nach: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. 7. Aufl., Frankfurt a.M. 1999 (1987).



Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert