Wie schön die Stadt sei, antwortet er, wenn man ihn fragt, wie er denn Berlin empfinde. „Die neuen Gebäude, die alten Schinkel-Gebäude.“ Er lächelt und guckt aus dem Fenster auf den Boulevard Unter den Linden. In Eric Kandels Blick liegt die Perspektive eines Mannes, der sich sehr wohl zu fühlen scheint bei dem, was er gerade macht – jede Menge Interviews geben. Und bei dem, was er getan hat: forschen nämlich, nach den Grundlagen dessen, was das Gehirn ausmacht, was Geist ist und wo er seine biologische Entsprechung hat. Berlin? Er hat Freunde hier, außerdem ist er Mitglied des Ordens Pour le mérite, einmal im Jahr komme er her.
Berlin schneidet ziemlich gut ab im Vergleich mit jener Stadt, in der er 1929 geboren wurde: Wien. „Wien ist sehr schön. In Wien gibt es sehr wenige Sachen, die architektonisch nicht sehr interessant sind. Ich glaube, Wien wurde wohl nicht so zerbombt.“ Eine an ihrer Schönheit leicht träge, matt und missmutig gewordene Stadt. Kandel bleibt höflich: „Wien ist eine wunderbare Stadt.“
Der Mann, dem vor sechs Jahren der Nobelpreis für Medizin verliehen wurde, für seine Forschungen zur Funktionsweise von Nerven und in Sonderheit im Gehirn, spricht Deutsch, und man ahnt den Wiener Akzent; im Hause seiner Eltern, die als Juden 1939 in die USA emigrierten, sprach man weiterhin das Idiom der Heimat.
Österreich – eine Heimat? „Nein, ich war viel zu jung, um mich an Österreich zu gewöhnen.“ Aber ist es nicht viel schwerer, in Berlin zu sein, der Hauptstadt jenes Landes, aus dem der Holocaust hervorgegangen ist? „Wissen Sie, am Anfang war es tatsächlich sehr schwer für mich, nach Deutschland zu kommen.“ Dann jedoch habe er Freunde hier gefunden, Wissenschaftler wie er selbst, Kollegen, mit denen er über die Nazizeit reden konnte. Deutschland, sagt Eric Kandel, habe mit seiner Vergangenheit gerungen und wünsche eine Renaissance jüdischen Lebens. Und Österreich? „Dort tanzt man die ganze Zeit herum“, sagt er. Die Leute weigerten sich, über diese Zeit zu sprechen, sie fühlten sich als Opfer der Deutschen. „Das hab ich nicht gern.“
So oder so, von Heimweh könne überhaupt nicht die Rede sein, „das Leben in Amerika ist so wunderbar für mich“. Im Herbst 2000, als er den Anruf vom Nobelpreiskomitee erhielt, tickerten anderntags österreichische Medien, nun habe man wieder einen Nobelpreisträger – und Kandel dementierte umgehend. Diese Auszeichnung habe mit allem Möglichen zu tun, mit der Arbeit seiner Kollegen, seinen Teams, seiner Familie und Amerika sowieso – aber nichts mit Österreich. „Ich bin ein amerikanischer Jude“, sagt er – und lacht laut, sehr laut und lang. „Das war wichtig zu sagen. Ich hab gern die Kultur von Wien – Klimt, Schiele, Kokoschka, Mahler, Werfel, Mozart. Aber die Stadt und die Leute? Nein, ich habe gar kein Heimweh, dort zu leben … Zero.“
Dann erzählt er eine Anekdote über journalistische Texte in den Zwanzigerjahren, als man von einer judenfreien Stadt spintisierte, von einem Wien ohne schöne Frauen, erfolgreiche Anwälte, liberale Kultur – und welche Armut, geistig, materiell, das mit sich brächte. Kandel schließt die Geschichte mit der Pointe, dass die Stadtväter dies nun auch nicht wollten. Die Juden sollten alle wiederkommen: „Ich warte immer noch auf diese Einladung.“
Außerdem sei es sehr leicht, „ein Amerikaner zu werden“, pragmatisch gesehen. In Paris müsse man perfekt Französisch sprechen, „sonst wird man nicht verstanden, oder sie verstehen einen, wollen aber nicht mit einem sprechen“. In Amerika hingegen sei ein Akzent gar kein Problem: „Denn man will eine Kommunikation haben.“
Eric Kandel hat ein erfolgssattes Leben hinter sich. Und er ist stolz, „so alt zu sein“. Zumal bei äußerst klarem Verstand. Eigentlich wollte er Geschichte studieren, womöglich um zu verstehen, was war; dann, ein Interesse noch aus Wiener Zeit, wuchs in ihm so etwas wie Leidenschaft für die Psychoanalyse. Die Entdeckungen des Unbewussten, des Triebhaften, der Gefühle und all der Fantasien, die im Menschen schlummern und – böse oder gut – zum Vorschein kommen.
Kandel entschied sich um, vielleicht längst amerikanisch geprägt, nur Dingen zu trauen, die materiell nachweisbar sind. Gefühle? Fantasien? Psychisches überhaupt? Muss man messen können, im Gehirn auffinden – ein Lachen als Spur in der Zellen- und Nervenmasse. Und irgendwie muss Kandel in einer Art Schuld gestanden haben; die Entdeckungen Freuds standen bei Biologen und Medizinern nicht hoch im Kurs, die einen sprachen von Quacksalberei, die anderen von Thesen ohne Grund. Freud neurobiologisch auf die Füße zu stellen schien sein Auftrag. Den großen Österreicher, der wie Kandel selbst vor den Nazis fliehen musste.Kandel hat es auf seine Art tatsächlich geschafft. Seine Forschungen am Beispiel einer Schnecke, der Aplysia, waren Belege für all das, was Freud und die Seinen, ohne neurobiologische oder medizinische Beweise im Rücken, als Psychoanalyse in die Welt setzten: Der Mensch ist keiner ohne einen anderen; das Gehirn lebt nicht ohne ein mindestens Zweites für die Kommunikation; das Gehirn ist der Geist und dieser nichts, was außerhalb des Menschen läge, sondern etwas in ihm. Das Gehirn sei die Schaltzentrale des Körpers. Das Gehirn kann der Kandel’schen Lesart zufolge niemals einem Computer unterlegen sein, denn kein Computer erfindet einen Menschen – er wird allenfalls von ihm programmiert. „Mehr noch“, so Kandel begeistert, „wenn wir miteinander sprechen, ändern sich unsere Gehirne!“ Ein Gehirn für sich entwickele sich nicht fort, es bleibe menschlich einflusslos. Und es sei niemals nur da, statisch, fertig, ausgeformt, am Ende. Jede Kommunikation verändere uns, im Guten wie im Schlechten, alles, was war, schlage sich als Spur in einem Gehirn nieder – das ist neurobiologisch nachweisbar, Kandel hat die Indizienketten selbst geknüpft und verifiziert; in seiner Sprache ließe sich sagen: Er hat unbewusst immer für plausibel gehalten, was Freud herausfand – und mit Willen und Vermögen die entsprechenden biologischen Entsprechungen destilliert. Der Mensch als Figur, in die alles, was mit ihm ist und war, eingeschrieben ist – in seinem Gehirn, das flexibler, multidimensionaler arbeitet als alles, was an künstlicher Intelligenz denkbar ist.
Aber wenn es denn so ist, gibt es einen freien Willen? Eine Frage, die in Deutschland erörtert wird – denn die Neurobiologe lehre doch, dass der Mensch einer Codierung folge, einer biologischen, nicht einer psychischen. Kandel antwortet knapp: „Ja. Als ob!“ Das möge er bitte erklären. „Einen freien Willen außerhalb des Gehirns gibt es nicht. Alles Mentale kommt vom Gehirn. Im Gehirn gibt es Prozesse, die uns das Gefühl des freien Willens geben – und das Gefühl hat eine große Realität, wenn auch nicht zu hundert Prozent. Wenn Sie jetzt aus dem Zimmer fliegen wollen, können Sie das nicht tun. Okay, man kann es versuchen, aber es wird schrecklich enden.“
Das Gefühl jedenfalls, einen freien Willen zu haben, sei das entscheidende Argument für dessen Existenz. „Freiheit hat eine große unbewusste Komponente, das ist aber keine Einschränkung der These, dass ich tun kann, was ich will. Meistens jedenfalls. Ich sehe keinen Widerspruch zwischen einem biologischen Verständnis und dem freien Willen.“
Also gibt es keinen echten freien Willen, nur einen, der so genommen wird? „Genau darauf aber kommt es an – dass alle Menschen glauben, sich entscheiden zu können. Und das tun sie ja auch.“ Und er selbst? „Ich habe, vielleicht wie alle anderen Menschen auch, lange gebraucht, um meinem Unbewussten zu trauen, meinen Gefühlen.“ Descartes habe gewusst, dass das Gehirn den Körper kontrolliert. „Er hat gesagt, das ist biologisch, das kann man untersuchen, aber die Seele, das Denken, die höheren Prozesse, die seien nicht biologisch zu verstehen. Aber das stimmt nicht. Gehirn und Körper sprechen immer miteinander, rund um die Uhr.“
Eric Kandel hat anlässlich der Nobelpreisverleihung der Psychoanalyse alle Ehre zuteil werden lassen. Seine Forschungen würden Freuds Annahmen mehr und mehr fundieren. „Seit ich mich mit der Psychoanalyse beschäftige“, sagt er, „arbeite ich auf einem viel fundamentaleren Niveau zum Problem des Gedächtnisses.“ Kein Geschehen, so die Erkenntnis, verlischt je ernsthaft, sondern es findet im Gedächtnis einen Speicher – in welch verquerer, verfremdeter, verhüllter Form auch immer.
Aber bislang ist das, was die Neurobiologie herausfand, nur das, was man als Bestätigung dessen nehmen kann, was auf den psychoanalytischen Sofas als innere Wirklichkeit zum Vorschein kommt – als je individuelles Universum voller Gefühle für das, was war und was ist. Was kann die Hirnforschung der Psychoanalyse sagen, was diese nicht schon im Bewusstsein trägt? „Man möchte“, antwortet Kandel, „wissen, wie der unbewusste Prozess funktioniert und wie er zum Bewusstsein führt. Was geschieht im Gehirn, wenn man in Therapie ist? Was ändert sich hierbei anatomisch?“ In der Psychoanalyse werde Patienten eine Chance gegeben, Lebenserfahrungen zu reinszenieren – und wenn dies zu einer Änderung im Verhalten führe, „muss es ein anatomisches Gegenüber finden. Das lässt sich im Gehirn finden.“
Immerhin, Kandel hat mit der Idee aufzuräumen geholfen, im Gehirn ließen sich feste Areale lokalisieren, in denen Verhalten eingeschrieben sei, Intelligenz, die Neigung zu Kriminalität oder Alkoholismus oder die zu Homosexualität. Aber auch er glaubt, gegen sein eigenes Theorem vom notwendig und bis zum Tod fluiden Prozess der Gehirntätigkeit, an reduktionistische Schemata des Psychischen, an so etwas wie einen Ort für Homosexualität oder das, was der neurobiologische Mainstream für abweichend von der Norm des Heterosexuellen hält: „Ich glaube fest daran, dass es diesen Platz im Gehirn dafür gibt, Kollegen sagen dies. Aber ich bin kein Spezialist.Woraus speist sich sein Interesse, die anatomischen Grundlagen psychischer Prozesse zu untersuchen? Hat er die Absicht, die Psychoanalyse zugunsten von Psychopharmaka wie Prozac überflüssig zu machen? „Nein, auf keinen Fall. Ich möchte das erläutern. Wenn wir miteinander sprechen, ist das eine persönliche Interaktion. Mein Gehirn verändert sich, Ihres auch. In der gleichen Sekunde. Das ist anders als bei einer Pille, die ist immer nur ein Ersatz, für den Notfall. Ich glaube, man muss immer Eltern, Lehrer und Psychotherapeuten im Leben haben. Man wird in zwanzig Jahren besser verstehen, wo Pillen helfen und wo eine Therapie. Ich glaube, bei schweren Krankheiten muss man beides aufbieten. In den letzten fünfzig Jahren sind die Pillen sehr verbessert worden. Das therapeutische Wissen aber ist nicht mitgewachsen.“
Und hat er eine Mission? „Eine Allianz zwischen Neurobiologie und Psychoanalyse“, sagt er, „die habe ich im Sinn. Beide Disziplinen lernen voneinander.“ Der Psychoanalyse begegne man seitens der Naturwissenschaften inzwischen mit größerem Respekt. Ein Gran seines inneren Auftrags, so gesehen, geht ja längst in Erfüllung – Neurobiologen in Kandels Nachfolge studieren Freuds Materialsammlungen, um aus ihnen zu lernen.
Kandel selbst hat jüngst einen neuen Universitätsvertrag bekommen. „Ich freue mich, noch lange arbeiten zu können.“ Eine Pille gegen die Vergesslichkeit im Alter, die möchte er jetzt erfinden: „Es ist eine Last, gesund zu sein, sich aber nicht mehr auf das Gedächtnis verlassen zu können.“ Seines scheint so lebendig wie ein junges.
© Der Artikel wurde in der TAZ vom 1. Juli 2006 veröffentlicht
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Der Autor
Jan Feddersen, Jahrgang 1957, ist taz.mag-Redakteur; er traf Eric Kandel Anfang Juni in Berlin anlässlich der Präsentation von dessen Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“