5. August 2006 | Buchrezension

Ausweitung der Freiheitszone

von Robert Misik (taz). Berlin


Der französische Sozialwissenschaftler Pierre-Michel Menger analysiert, wie der Künstler zu einer modellhaften Figur des Wirtschaftslebens geworden ist.

Lesezeit 4 Minuten

Es ist nicht so lange her, da galt der Künstler als der Gegenentwurf zum Geschäftsmann. Die Künstlerexistenz mit ihrem Hang zu Exzess, intensiven Erlebnissen und Grenzgängertum wurde als Antithese zur kalten Rationalität des Wirtschaftslebens verstanden, zum berechnenden Krämergeist des Bourgeois. Der Bohemien war das Antimodell zum gewinnorientierten Wirtschaftsbürger, der Künstler derjenige, der sich um die „Marktgängigkeit“ seines „Produktes“ nicht scherte.

So gesehen ist es durchaus erstaunlich, dass der Künstler heute als Exempel für das moderne Wirtschaftssubjekt präsentiert wird. Der Protagonist der zeitgenössischen Managementdiskurse ist der Kreative, ganz Unternehmer seiner selbst, der immer schon auf eigene Rechnung arbeitet. Aber nicht nur das heutige Ideal des Wirtschaftssubjektes ist am alten Künstlerideal modelliert, das „Kulturelle“ zieht immer weitere ökonomische Kreise. Von der „Kulturwirtschaft“ ist die Rede, von den „Creative Industries“, von den „Creative Classes“. Und kein Künstler kann heute vom Selbstmarketing mehr absehen.

Da kommt das schmale Büchlein „Kunst und Brot“ des französischen Soziologen Pierre-Michel Menger gerade recht. Darin analysiert er die frappierende Wandlung des Bildes vom rebellischen und subversiven Künstler hin zum „schöpferischen Menschen“ als einer „modellhaften Figur des neuen Arbeitnehmers“. Menger schreibt: „Durch eine gewisse innere Verwandtschaft gelten die Künstler zusammen mit den Wissenschaftlern und den Ingenieuren als der harte Kern einer ,kreativen Klasse‘ bzw. als eine fortgeschrittene gesellschaftliche Gruppierung, als ,Experten symbolischer Kommunikation‘, als eine Avantgarde zur Erneuerung des hoch qualifizierten Beschäftigungssektors.“ Metaphorisch werden die zentralen Werte der Künstlerkompetenz, zu denen Menger Fantasie, Spiel, Improvisation, atypisches Verhalten und sogar kreative Anarchie zählt, „regelmäßig auch auf andere Produktionsbereiche übertragen“. Zudem ist die Kunst, man denke an Tourismus, Kulturmanagement, Werbung, Kunstmessen, Popindustrie etc., „selbst mittlerweile ein bedeutender Wirtschaftssektor und als solcher Teil der Ökonomie“. Kurzum: Die aus dem 19. Jahrhundert ererbte Vorstellung, die den Idealismus und die Selbstaufopferung des Künstlers gegen den berechnenden Materialismus und die Arbeitswelt ausspielte, ist obsolet geworden. Aber auch der konformistische und spießbürgerliche Bourgeois, der dem originellen, provozierenden und rebellischen Künstler oft entgegenhalten wurde, hat mittlerweile ausgedient.

Menger analysiert es mit Staunen, mit Spaß auch an der kuriosen Volte und doch kritisch reserviert. Dabei schließt er implizit an die große Studie über den „Neuen Geist des Kapitalismus“ der beiden französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Ève Ciapello an. Deren These lautet ja, dass zwei Kritiken seit je den Kapitalismus begleitet hätten. Die Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit – und dazu das, was sie „Künstlerkritik“ nennen. „Künstlerkritik“ heißt: Kritik am Unauthentischen, am Konsumismus und daran, dass die Beschäftigten in der Produktion wie Maschinen behandelt würden.

Diese Kritik ist zudem das Echo einer anderen: dass auch die Kunst zum Konsumgut wird, die Wirtschaft die Kultur kolonisiert – kanonisiert ist diese Kritik gleichsam im „Kulturindustrie“-Thema der Kritischen Theorie. Letztendlich hören diese Spielarten einer ästhetischen Einrede gegen den Kapitalismus auf den Namen „Entfremdungstheorie“.

All diese Spuren der Kritik, so Boltanski und Ciapello, habe die moderne Managementtheorie aufgenommen und sich nutzbar gemacht. Das „Neomanagement“ reagiere gerade auf die „Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit, die historisch von der Künstlerkritik getragen wurden“ (Boltanski/Ciapello). Kurios formuliert: Der moderne Kapitalismus hat die Entfremdung nicht abgeschafft – die moderne Managementtheorie hat sie gewissermaßen verboten. Damit werden die realen Freiheitsgewinne nicht dementiert; doch freilich ist auch eine rein affirmative Haltung fehl am Platz.

Der Preis für die neue Freiheit ist neue Unsicherheit. Nun kann man sagen: Freiberuflertum, Flexibilität und Autonomie werden mit Unsicherheit bestraft, weil die klassischen Sozialsysteme noch immer auf die allgemeine Lohnarbeitsgesellschaft zugeschnitten und auf riskantere Lebensformen nicht eingestellt sind. Man kann aber auch sagen: Die Unsicherheiten sind die vielleicht gar nicht so unintendierten Nebenfolgen der Ausweitung der Freiheitszone.
Pierre-Michel Menger jedenfalls fragt, ob die Aushebelung kollektiver Sicherheitssysteme nicht gerade das Ziel der Propagierung des Künstlerhabitus ist. Künstlertugenden wie Individualität und Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit vertragen sich schlecht mit Gleichheitskulturen. Gerade die Welt von Kunst, Theater, Film, Pop ist ja jener gesellschaftliche Bereich, in dem Erfolgs- und Gehaltsungleichheiten nicht nur akzeptiert sind, sondern auch große Faszination ausüben und ostentativ zur Schau gestellt werden. Es ist die Welt der Celebrities. Wie der Sport ist auch die Kunst ein „The-winner-takes-it-all“-Markt. Soll heißen: Es gibt ein paar Spitzenverdiener, während die meisten nahezu leer ausgehen. Letztere sind die „Intellos précaires“, wie die Franzosen sagen. „Ich-Unternehmertum, freelancing und die sonstigen atypischen Beschäftigungsarten sind die vorherrschenden Formen der Arbeitsorganisation im Bereich der Kunst“ (Menger), sie machen sich aber auch über deren Feld hinaus breit. Zufall ist das nicht: Es ist im Interesse der neoliberalen Ideologen, dass gerade solche Role-Models als besonders attraktiv gelten, die sich mit Gleichheitskulturen schlecht, mit Ungleichheitskultur gut vertragen. Wobei anders als in der Hochfinanz etwa in der „Kreativwirtschaft“ dem Risiko die extrem geringe Wahrscheinlichkeit außergewöhnlicher Gewinne gegenübersteht. Zu hoffen ist eher auf nichtmaterielle Entschädigungen – erhebliche Reputation, geringe Arbeitsroutinen und anderes. Der Status des Kreativen ist für Pierre-Michel Menger gewissermaßen die Karotte, mit der die Prekarität schmackhaft gemacht wird.

Wobei, zugestanden, die Prekarität des „Bourgeois Bohemien“, der auf eigene Rechnung arbeitet und selbstbestimmt „sein Ding“ macht, für wechselhaftes Honorar und ohne Rentenversicherung, eine „Luxus-Prekarität“ ist – verglichen mit der des Leiharbeiters oder der Regalschichterin mit befristetem Vertrag. Wenn der „Bourgeois Bohemien“ zur neuen Leitfigur des Wirtschaftslebens wird, dann ist das auch eine Verallgemeinerung des Lebenskünstlertums. Zum Prinzip der Ökonomie erhoben zeigt es freilich bisweilen seine Schattenseite. Dann ist die Kunst der Stunde – die Überlebenskunst.

Pierre-Michel Menger: „Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers“. UVK-Verlag, Konstanz 2006, 97 Seiten, 15,40 Euro

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© Die Rezension wurde in der TAZ vom 5. August 2006 veröffentlicht



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