4. August 2007 | Innovative Seniorenarbeit

Kunst bewegt die Alten

von Karin Nell. Düsseldorf


Der so genannte Beuys-Koffers hat in der innovativen Seniorenarbeit seinen festen Platz. Wenn er auch teils provokante Äußerungen bei älteren Menschen hervorruft, so gelingt ihm jedoch immer eins: zu inspirieren.

Lesezeit 4 Minuten

Die Erfahrungen im Projekt „Kultur auf Rädern“ zeigen: Für Menschen im nachberuflichen Leben (und natürlich nicht nur für sie) kann die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Werk und den theoretischen Positionen von Joseph Beuys eine große inspirierende Wirkung haben.
Joseph Beuys (1921 – 1985) war Meisterschüler von Ewald Mataré und 1961 bis 1972 Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Über Jahrzehnte hinweg hat er wie kein anderer Künstler die Gemüter der (Düsseldorfer) Bürgerinnen und Bürger erhitzt und mit zahlreichen – zum Teil sehr umstrittenen – Aktionen in das öffentliche Leben hineingewirkt. Beuys hat nicht nur eine unüberschaubare Zahl hochinteressanter Kunstobjekte geschaffen, er hat sich auch durch spektakuläre Äußerungen zur Kunsttheorie hervorgetan. Unter anderem ist ihm der Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ zu verdanken, der in seiner Bedeutung nicht hoch genug gewertet werden kann. Sehr schlicht wird hier eine weit reichende Feststellung getroffen, nämlich die, dass alle Menschen – und nicht nur die so genannten Kunstschaffenden – schöpferische Fähigkeiten besitzen und schöpferisch tätig sind.

Beuys forderte die Menschen dazu auf, sich auf ihre schöpferischen Fähigkeiten zu konzentrieren, sie zu entfalten, zu würdigen und verstärkt in die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzubringen. „Sein anthropologisches Weltverständnis geht immer vom Menschen als einem schöpferischen Wesen aus, das in die Lage versetzt werden muss, seine Zukunft zu gestalten“ (Stachelhaus 2001: 191). Im Gegensatz zum konventionellen Verständnis von Skulptur bezog Beuys „das schöpferische Gestaltungsprinzip nicht nur auf sichtbare, materielle Werke, sondern ebenso auf unsichtbare Skulpturen“ (Richter 2000: 46). Für ihn galt auch das soziale Miteinander als Kunstwerk. Er prägte die Begriffe „soziale Plastik“ und „soziale Skulptur“ [1] und forderte nicht nur seine Studentinnen und Studenten, sondern auch alle anderen Mitglieder eines Gemeinwesens auf, „aus der inneren Tiefe, dem Kreativen, dem Schöpferischen“ in die sozialen Zusammenhänge einzugreifen (Richter 2000: 50).

Entgegen der allgemeinen Meinung, ältere Menschen könnten nichts mit moderner Kunst und schon gar nichts mit der Kunst von Joseph Beuys anfangen, belegen die Erfahrungen beim Einsatz des Beuys-Koffers: Das Gegenteil ist der Fall. Es besteht sogar ein großes Interesse an der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Joseph Beuys.

In einem alten schwarzen Überseekoffer aus Leder sind viele Materialien enthalten, mit denen Beuys gearbeitet hat: zum Beispiel Filz, Honig, Fett (Speck und Margarine), Kristalle, Steine, Holz, Mullbinden, Kupferplatten, Kupferdrähte, Kalk Muscheln, und Schiefer.
Der Koffer enthält auch Abbildungen von Beuys-Arbeiten (Zeichnungen, Installationen), Ausstellungskataloge, Bücher über Beuys, Fotos von Aktionen und ein „Original“ Multiple („Gib mir Honig“).

Zwar reagieren Ältere oft verunsichert, manche sogar verärgert, wenn sie bei den Besuchen von „Kultur auf Rädern“ in Privathaushalten oder in Alteneinrichtungen die Abbildungen betrachten oder nur den Namen des Künstlers hören; bittet man sie allerdings, sich den verwendeten Materialien zuzuwenden, ändert sich ihr Verhalten schlagartig. Dann gibt es keine Vorbehalte. Beim Betrachten und Befühlen des Materials werden Assoziationen und (Kindheits-) Erinnerungen geweckt.

  • Filz: Schutzkleidung, Wärmespeicher, Wunsch nach Gut-aufgehoben-sein, Abgrenzung,
  • Fett: wichtiges Nahrungsmittel, Margarine-Rationen während des Krieges, Schutz, gehaltvoll, Energielieferant,
  • Honig: Süße, Süßigkeit, „Land, wo Milch und Honig fließt“, das Schöne im Leben, Trost, Belohnung für Mühe (Bienenfleiß), Balsam
  • Kupfer: Wärmeleitung, Halt, Stärke, Verbindung, Kommunikation, Selbstschutz (Grünspan).

Dann werden Geschichten erzählt und fast immer führt der Austausch von Erfahrungen zu sehr persönlichen Gesprächen über menschliche Grundbedürfnisse und menschliche Grundbefindlichkeiten – zu den zentralen Themen des Lebens im Alter.

Gegenstände und Material dienen dann als wichtige „Speicher von Erinnerungen“. Sie werfen Fragen auf und lassen hinter den Fragen noch tiefer gehende Fragen erkennen. Zum Beispiel:
Wie war ich als Kind geschützt? Wie bin ich in meinem Alter geschützt? Wie schütze ich mich selbst und meine Umwelt?
Was brauche ich, um mich wohl zu fühlen?
Was gibt mir (Lebens-)Energie? Was kostet mich (Lebens-)Energie? Wofür möchte ich meine Energien einsetzen?
Was hat mich als Kind genährt? Was nährt mich im Alter?
Mit wem stehe ich in Verbindung? Wie sieht mein persönliches Netzwerk aus?
Was heilt meine Wunden?
Was versüßt meinen Alltag?
Auch in Programmen der innovativen Senioren-bildungsarbeit wird der Beuys-Koffer immer häufiger eingesetzt. Hier zeigt sich, dass das Material auch zu den zentralen Themen des bürgerschaftlichen Engagements hinüberleitet, die bei den so genannten „jungen Alten“ sehr im Vordergrund ihres Interesses stehen: soziale Wärme, soziale Energie, soziales Kapital, schöpferische Gestaltungskraft, Kommunikation, gesellschaftliche Verantwortung, lebenslanges Lernen.

Die Beschäftigung mit den Fragen führt unweigerlich zu den (politischen) Aussagen des Künstlers Beuys. Und zu seinem gesellschaftspolitischen Engagement. Erinnern, das reicht nicht aus. Wir müssen auch aktiv werden und – allein und mit anderen – Verantwortung übernehmen.

Interessanterweise finden die zum Teil sehr provokanten Äußerungen und Ansichten Beuys’ eine große Zustimmung bei den Menschen aller Altersgenerationen, vorausgesetzt die Seniorinnen und Senioren verfügen über einen „Schlüssel“, der ihnen Zugang zu den Arbeiten und Aktionen des Künstlers erschließt. Da wundert es dann nicht, wenn sich das Kulturzentrum der Generationen, ein Projekt, das aus dem bundesweiten EFI-Programm (Erfahrungswissen für Initiativen) hervorgegangen ist, einen Beuys-Ausspruch zum Motto wählt: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden, sonst kriegen wir eine, die wir nicht wollen.“

© Karin Nell, 04.08.2007

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Über die Autorin

Karin Nell, Diplom-Pädagogin, Mitarbeiterin im Zentrum für innovative Seniorenarbeit des Evangelischen Erwachsenenbildungswerks Nordrhein (ZIS), dort u.a. zuständig für das Landesprogramm „Erfahrungswissen für Initiativen“, Lehrbeauftragte an der FH Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften.

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Literatur

  • Knopp, Reinhold; Nell, Karin (2007). Keywork: Neue Wege in der Kultur- und Bildungsarbeit mit Älteren, Bielefeld, Transcript
  • Richter, Petra (2000): Mit, neben, gegen. Die Schüler von Joseph Beuys, Düsseldorf :Richter Verlag.
  • Schwingel, Markus (1995): Bourdieu zur Einführung, Hamburg: Junius-Verlag.
  • Stachelhaus, Heiner (2001): Joseh Beuys, München: Econ


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