Das gesellschaftliche Modell, für das die Demokratie entwickelt worden war, ist der Nationalstaat. Demokratische Rechte sind den absolutistischen Herrschern abgerungen worden, die erst den Nationalstaat als rechtliche Einheit begründet hatten. Auch wenn er von Anfang an Beziehungen mit anderen Nationalstaaten unterhalten hatte, können wir einen qualitativen Wandel in diesem Netzwerk internationaler Beziehungen feststellen. Internationale Beziehungen bezeichnet ein mehr oder weniger dauerhaftes Muster von Austauschbeziehungen (von Menschen, Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Informationen etc.) zwischen einer bestimmten Anzahl unabhängiger und relativ autonomer Staaten. Globalisierung bedeutet, dass das Austauschmuster über die Unabhängigkeit der Nationalstaaten dominiert, und dass tendenziell alle Nationalstaaten einbezogen werden. Die Kraft, die diesen Prozess antreibt, ist die globalisierende Wirtschaft und vor allem ihr Finanzsektor. Daraus entstehen tiefgreifende Auswirkungen auf die ökologischen, politischen, sozialen und kulturellen Sphären.
Im Bereich der Politik, der hier am meisten interessiert, ist das Geflecht der Institutionen und Regime so dicht und bestimmend geworden, dass es die politischen Entscheidungen aller nationalen Regierungen weitgehend bestimmt. Natürlich bleibt daneben das Netzwerk der bilateralen, multilateralen und supranationalen Vereinbarungen in ihrer jeweils regionalen oder sektoralen Bedeutung. Es ist freilich wichtig, hier die nationale Basis politischer Akteure zu betonen. Regierungen bleiben abhängig von ihrer nationalen Wählerschaft und Klientel, die – zusammen mit den Nichtregierungsorganisationen – erheblichen Einfluss auf ihre Handlungsspielräume behalten. Ihre Wahrnehmung globaler Probleme und ihr Verhalten auf der internationalen Ebene bleibt freilich bestimmt durch eine exekutive Haltung, wenig beeinflusst von demokratischen Kontrollmechanismen. Sie lavieren zwischen diesen beiden Polen, indem sie einerseits die Transparenz und den Einfluss nationaler demokratischer Verfahrensweisen einschränken und andererseits ihr Verhalten durch globale Notwendigkeiten rechtfertigen. Ein typisches diplomatisches Resultat dieser Situation ist die Paketlösung, die auf der internationalen Ebene verhandelt wird (z.B. in der WTO), aber den nationalen Parlamenten nur die Alternative zwischen Annahme oder Ablehnung lässt, ohne auf die Details Einfluss nehmen zu können. Der Vertrag über die Europäische Verfassung ist das letzte wichtige Beispiel dafür. Es war nicht überraschend, dass die nationalen Parlamente bereit waren, ihn zu ratifizieren, aber die Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden ihn ablehnten (wonach die anderen geplanten Referenden abgesagt wurden).
Die Vereinten Nationen waren von Anfang an durch die Interessen, die Problemwahrnehmungen und die Machtverhältnisse der Anti-Hitler-Koalition und den beginnenden Ost-West-Gegensatz geprägt. Dies erklärt die Konstruktion des Sicherheitsrates. Es erklärt auch den Charakter der Bretton Woods-Institutionen [1], die zwar unter dem Dach der VN residierten, aber weder eine Rechenschaftspflicht gegenüber der Generalversammlung noch deren Weisungen akzeptierten, noch dem Abstimmungsprinzip one nation-one vote folgen. In der Geschichte der Vereinten Nationen lassen sich drei strukturelle Brüche beobachten:
Erstens kamen mit dem Ende der Entkolonialisierung in den sechziger Jahren rund einhundert neue formal unabhängige Staaten dazu (die „Gruppe der 77“, d.h. die Entwicklungsländer). Dadurch veränderte sich die Mehrheit in der Generalversammlung, und zwar immer häufiger zum Nachteil der Interessen der kapitalistischen Länder. Ihr wichtiges Forum wurde die UNCTAD [2], und ihr größter Erfolg die Verabschiedung der Neuen Weltwirtschaftsordnung 1974, die zusammenfiel mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise, eine Totgeburt von Anfang an. Die westlichen Länder haben sowohl das Integrierte Rohstoffabkommen als auch den Verhaltenskodex für transnationale Unternehmen abgelehnt und UNCTAD schnell zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Stattdessen bevorzugten sie das GATT (das mit dem Ende der Uruguay-Runde 1995 zur Welthandelsorganisation umgestaltet wurde).
1975 begann die Runde der Weltwirtschaftsgipfel, die zur G 7 und später, mit der teilweisen Einbeziehung Russlands, zur G 8 wurde. Die Bedeutung dieses Schrittes ist häufig unterschätzt worden: Es war der Beginn der systematischen Entmachtung der VN durch die Regierung der Vereinigten Staaten, die dabei zumindest stillschweigend von ihren westlichen Alliierten unterstützt wurde [3]. Die US-Regierung bezahlte nur noch die Minimalbeiträge, um ihr Stimmrecht nicht zu verlieren. Sie nutzte ihr Vetorecht im Sicherheitsrat, um ihre eigenen egoistischen Interessen und die ihres engsten Verbündeten, Israel, vor kritischen Resolutionen der Generalversammlung zu schützen [4]. Und sie zog sich zunächst aus der Internationalen Arbeitsorganisation (1975), später aus der UNESCO (1984) zurück im Versuch, die Vereinten Nationen unter engere Kontrolle zu bringen. Sie verweigerte die Unterschrift unter zahlreiche Abkommen vor allem zur Rüstungsbegrenzung, boykottierte internationale Verhandlungen (wie im gesamten Rio-Prozess, aber auch beim Internationalen Strafgerichtshof [5]) und verletzte ungestraft zahlreiche internationale Konventionen. Als sie damit nicht erfolgreich war, baute sie ein neues globales Machtzentrum jenseits jeder demokratischen Kontrolle auf, eben die G 7. Die beherrscht nicht nur den Sicherheitsrat (wenn man Russland ins Boot bekommt und ein chinesisches Veto verhindern kann), sondern auch den IWF und die Weltbank auf Grund der Stimmverhältnisse. Sie hat überwältigende Macht in der WTO und schließlich mit der NATO (vor allem seit ihr neues Mandat nicht mehr die Sicherung des gemeinsamen Territoriums, sondern der gemeinsamen Interessen als Ziel nennt) auch einen militärischen Arm.
Der dritte Strukturbruch folgte auf den Zusammenbruch der sozialistischen Regime. Wieder nahm die Zahl der Mitgliedsländer zu. Aber der erste Irakkrieg 1990/91 markierte auch den entschiedenen Willen der US-Regierung zum unilateralen Handeln (die 28-Länder-Koalition und die Mehrheit im Sicherheitsrat waren zusammengekauft worden). Die Ernennung eines erklärten VN-Gegners zum Ständigen Vertreter der USA bei den VN 2005 bestätigt die Absicht, die Weltorganisation vollends zu entmachten.
Die neue Welle der Globalisierung hat die Rolle der Nationalstaaten seit der Mitte der siebziger Jahre erheblich verändert. Demokratische Verfahren und Kontrollen blieben fragmentiert auf der nationalen Ebene, während immer mehr Entscheidungen auf der globalen Ebene ausgehandelt und formal getroffen wurden. Im Verlauf dieses Prozesses sind der IWF und die WTO immer deutlicher als zentrale Instrumente der amerikanischen Weltpolitik in den Vordergrund getreten, um die neoliberale Agenda (d.h. vor allem die Interessen der amerikanischen Konzerne und Finanzinstitutionen) zu befördern [6].
Die Aufhebung von Zöllen und Handelsbarrieren im GATT und in der WTO, begleitet von einer fast vollständigen Liberalisierung des Kapitalverkehrs, verhalf den grossen transnationalen Unternehmen (TNUs) zu einer Macht weit über vielen Nationalstaaten. Sie haben keine nationalen Wurzeln, sie verschieben ihre Standorte und die ihrer Filialen beliebig hin und her, um von Steuervorteilen, geringen Umweltauflagen und Sicherheitsbestimmungen, inexistenten Gewerkschaften und Tarifverhandlungen zu profitieren und in grossem Umfang Kosten zu externalisieren. Nationale Regierungen, unwillig oder unfähig, sie zu kontrollieren, sehen sich immer häufiger als Dienstleister für die TNUs. Gleichzeitig werden die Entscheidungen über Unternehmensstrategien immer mehr von institutionellen Anlegern, Banken, Versicherungen, Aktien- und Pensionsfonds, beeinflusst. Anteilseigner retten ihr Geld auf Steueroasen, die die zumindest stillschweigende Duldung der nationalen Regierungen genossen, und vermeiden damit, zur Umverteilung, zur Erhaltung der Infrastrukturen, zur sozialen Gerechtigkeit beizutragen. Tatsächlich haben die Regierungen solche sicheren Häfen nicht nur stillschweigend geduldet, sondern aktiv im Interesse der Reichen geschaffen.
Das ist die eine Seite der Globalisierung. Aber es gibt eine zweite Seite: Sie beginnt mit der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung (Rio de Janeiro, Juni 1992, UNCED). Sie diskutierte das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung und gründete sich auf zwei Säulen: die Vereinten Nationen auf der einen, die internationalen Nichtregierungsorganisationen (INGOs) auf der anderen Seite. In der folgenden Serie der Weltkonferenzen – 1992 Umwelt und Entwicklung, 1993 Menschenrechte, 1994 Bevölkerung, 1995 soziale Entwicklung und Frauen, 1996 Stadtentwicklung, 1998 soziale Verantwortung der Wissenschaft – spielten die VN eine wichtige Rolle in der Definition globaler Probleme. Jede diese Konferenzen endete mit der Verabschiedung einer Erklärung und eines Aktionsprogramms. In ihrer Summe bilden sie ein Inventar rationalen und humanen Weltgewissens, unterzeichnet von der Mehrheit nationaler Regierungen, auch wenn die (vor allem die OECD-Staaten) entschlossen waren, dem keine Taten folgen zu lassen.
Auf diesen Weltkonferenzen traten die NGOs zum ersten Mal auf globaler Ebene in Erscheinung. Sie waren nicht neu im VN-System, aber UNCED war der erste Anlass, einen Gegengipfel zu veranstalten und sich als globaler Akteur darzustellen. Seither sorgen sie für spektakuläre Ereignisse nicht nur am Rand von VN-Konferenzen, sondern an den Gipfeln von IWF und Weltbank, der WTO oder der G 7. Ihr wichtigster Erfolg bestand in der Veröffentlichung geheimer Dokumente über die Verhandlungen zu einem Multilateralen Investitionsabkommen (MAI) 1998, die in der WTO begonnen hatten, dann aber in die OECD verlagert wurden, um Entwicklungsländer von den Verhandlungen auszuschließen. Das Abkommen hätte die Nationalstaaten zum Vorteil der TNUs entmachtet, aber es verschwand wie Drakula, als es ans Licht der Öffentlichkeit gelangte. INGOs haben eine immer wichtigere Rolle gespielt als es darum ging, Entwicklungsländer in solchen Verhandlungen zu unterstützen. Es ist kaum übertrieben anzunehmen, dass sie der Dritten Welt geholfen haben, den Zumutungen der reichen Länder zu widerstehen und die aktuelle Doha-Runde zu blockieren. Darüber hinaus klagen sie auf der nationalen Ebene die Erfüllung der Verpflichtungen ein, die die nationalen Regierungen mit der Unterzeichnungen internationaler Konferenzdokumente eingegangen sind (wie z.B. die zahlreichen Lokale Agenda 21-Bewegungen). Wie wichtig das auch immer sein mag, es hat dennoch wenig zur Demokratisierung beigetragen, weil NGOs kein öffentlich legitimiertes Mandat haben. Aber die internationale Zivilgesellschaft ist in Bewegung: Die Weltsozialforen, beginnend in Porto Alegre, Brasilien, haben sich inzwischen auf der kontinentalen, nationalen und oft auch regionalen Ebene etabliert. Diese Bewegung, mit Le Monde Diplomatique als Sprachrohr und Attac als einer der wichtigsten Organisationen, wird freilich überwiegend getragen von westlichen, oder jedenfalls im Westen ausgebildeten, Mittelschicht-Intellektuellen.
© Bernd Hamm, 13.05.2007
Fussnoten
[1] Der Internationale Währungsfonds, die Weltbankgruppe, und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT
[2] Die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung
[3] Beheading the UN
[4] 30 Years Of U.S. UN Vetoes: How the U.S. has Voted/Vetoed; vgl. auch List Of U.S. Vetoes of UN Resolutions Critical of Israel: (1972-2004) hier; a list of UN Resolutions against „Israel“ 1955-1992,
[5] Bush Faces Major Test at UN on Exemption from War Crimes Court; U.S. Attempts to Exempt Troops from ICC, [hier]
[6] Krüger, Lydia (2005): Forcierte Deregulierung, Finanzkrisen und Denationalisierung in Schwellenländern. Frankfurt; Wallach, Lori, and Michelle Sforza (1999): Whose Trade Organization? Corporate Globalization and the Erosion of Democracy. Washington