Wenn Pflanzen neue Lebensräume erobern oder sich an eine verändernde Umwelt anpassen, profitieren sie von Fehlern im Erbgut. Einen solchen Fehler haben jetzt Genetiker und Bioinformatiker der TU München zusammen mit Kollegen vom Helmholtz Zentrum München näher untersucht: Zuweilen verdoppeln Pflanzen ihr gesamtes Erbgut. Obwohl das Erbgut selbst dabei unverändert bleibt, gerät das Regelwerk der Gene durcheinander, wie die Forscher herausfanden. Damit kamen sie einem potenziellen Evolutionsmechanismus auf die Spur, der bislang kaum beachtet wurde.
Anders als bei Tieren üblich besitzt ein großer Teil aller Blütenpflanzen ein Vielfaches des doppelten Chromosomensatzes: Die Pflanzen sind polyploid, ihre Zellen beherbergen vier, acht oder noch mehr Erbgutkopien.
Im Laufe ihrer Evolutionsgeschichte hatten praktisch alle Blütenpflanzenarten polyploide Vorfahren. Solche Verdopplungen, so vermuten Evolutionsbiologen, führten zu einer Vielzahl neuer Eigenschaften der Pflanzen, die damit neue Lebensräume besiedeln konnten.
Im Gegensatz zu Veränderungen einzelner Gene, deren Vorteile sich erst nach mehreren Generationen zeigen, führt Polyploidie sehr schnell, von einer Generation zur nächsten, zu einer Menge an Veränderungen – zumindest, so die bisher verbreitete Annahme, wenn die Chromosomensätze verschiedener Pflanzenarten miteinander verschmelzen. Diese Form von Polyploidie hat maßgeblich zum Artenreichtum etwa der Familien der Kohlgewächse (Brassicaceae), der Nachtschattengewächse (Solanaceae, mit Tabak, Kartoffel und Tomate) und der Gräser (Gramineae) beigetragen.
Dupliziert sich dagegen der Chromosomensatz ein- und derselben Art, so unterscheiden sich die polyploiden Nachkommen augenscheinlich kaum von ihren Eltern, die nur halb so viele Genkopien besitzen.
Entwicklungssprünge scheinen diese auto-polyploiden Pflanzen nicht zu verheißen, das Potenzial dieses Verdopplungsweges für die Evolution wurde lange wenig beachtet.
Zu Unrecht, finden die beiden Pflanzengenetiker Alfons Gierl und Ramon Torres-Ruiz. Zusammen mit ihrem Team an der TU München und Wissenschaftlern vom Helmholtz Zentrum München haben sie tief in die molekularen Strukturen auto-polyploider Pflanzen geblickt, die sie künstlich erzeugten. Dazu sorgten sie bei Pflanzen der Art Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) dafür, dass der Chromosomensatz in Pollen und Eizellen der Elternpflanzen nicht halbiert wurde, sondern doppelt erhalten blieb. Aus der Befruchtung entstanden dann polyploide Pflanzen mit einem vierfachen Chromosomensatz.
Wie erwartet unterschieden sich die polyploiden Nachkommen äußerlich kaum von ihren Eltern. Doch als die Forscher analysierten, welche Gene von den Pflanzen wie stark aktiviert werden, erlebten sie eine Überraschung: Bei einigen Pflanzen fanden sie in mehr als 250 Genen zum Teil deutliche Unterschiede. Die betroffenen Gene waren an so grundlegenden Prozessen wir Photosynthese, Zellwandbau, Stressmanagement, Alterung und pflanzliche Verteidigung beteiligt.
„Die Unterschiede weisen darauf hin, dass Auto-Polyploidie in der Evolution eine größere Rolle spielen könnte, als wir bisher vermutet haben“, meint Ramon Torres-Ruiz. Denn die Arabidopsis-Pflanzen vererbten die Auto-Polyploidie problemlos an die Folgegeneration, damit können sich neue Eigenschaften etablieren. Tendenziell seien die Unterschiede von Auto-Polyploiden zu ihren Elternpflanzen zwar geringer, als wenn Chromosomensätze verschiedener Pflanzen miteinander verschmelzen.
Torres-Ruiz meint jedoch: „Wir denken, dass solche schnellen, subtilen Änderungen zum Beispiel bei allmählichen Umweltveränderungen, die das Klima oder die Bodenbeschaffenheit betreffen, von Vorteil sein könnten. Denn dramatische Erbgutveränderungen bergen immer auch das Risiko, dass die Nachkommen nicht lebens- oder fortpflanzungsfähig sind.“ Weitere Experimente von Torres-Ruiz, Gierl und ihren Mitarbeitern werden zeigen, warum sich die Aktivität der Gene ändert.