15. Februar 2011 | Weltsozialforum in Dakar

Globaler open space mit Aktionsorientierung

von Sven Giegold.


Wie schon das Weltsozialforum 2009 im Brasilianischen Belém fand das Forum in Dakar unter dem starken Eindruck der tiefen Krise des neoliberalen Globalisierungsprojekts statt.

Lesezeit 7 Minuten

In einigen Weltregionen läuft die Wirtschaft schon länger wieder gut, in anderen hat sie sich an der Oberfläche erholt. Das kann jedoch nicht über die tiefen sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme hinwegtäuschen. Auf dem Weltsozialforum (WSF) in Dakar trafen sich diejenigen aus den Bewegungen und Zivilgesellschaft, die einen tiefen Bruch mit der neoliberalen Globalisierung wünschen, entweder in Form einer sozialen und ökologischen Regulierungspolitik, wie etwa in einem „Grünen New Deal“, oder durch einen grundsätzlichen Bruch mit dem Kapitalismus. Diese Spannweite politischer Alternativen charakterisierte dieses WSF wie auch die altermondialistische [1] Bewegung seit ihrer Gründung. Gustave Massiah (2011a & 2011b) [2] schrieb dazu vor Dakar ein viel beachtetes Buch und veröffentlichte 12 Thesen zur altermondialistischen Bewegung.

Doch während beim Weltsozialforum 2009 im Brasilianischen Belém die Diskussion um die Zivilisationskrise und grundlegende Alternativen zur Globalisierung des Kapitalismus wie die Idee des „buen vivir“ [guten Lebens] die Debatten beherrschten, war dies in Dakar anders. Die friedlichen Revolutionen in Ägypten und Tunesien sowie der besondere afrikanische Kontext mit seinen eigenen Themen dominierten auch das WSF. Schon auf dem beeindruckenden Eröffnungsmarsch wurde deutlich, dass dies kein Forum der großen übergreifenden Forderungen und Parolen würde. Dem Organisationskomitee war es gelungen, in großer Breite die sozialen Bewegungen und Basisinitiativen Westafrikas zu mobilisieren. Dazu trugen auch die über Land reisenden Karawanen bei, die sternförmig aus allen Nachbarländern in den Senegal zogen und damit eine kostengünstige Anreise ermöglichten und gleichzeitig auf das WSF aufmerksam machten. Sie kamen jedoch nicht roten, grünen oder anderweitig gleichartigen Fahnen, sondern mit ihren eigenen Anliegen: Landraub („land grabbing“) durch den immer schärferen Druck auf das knapper werdende landwirtschaftlich nutzbare Land für die Bedürfnisse der globalen Konsumentenklasse. Der Schutz lokalen Saatguts und lokaler Produktion vor Kontrolle der Multis und Agrarsubventionen wurden eingefordert. Überfischung („sea grabbing“) durch die industriellen Fischfangflotten auf Kosten der familiären Fischereibetriebe. Besonders sichtbar waren überall auf dem Forum die starken Frauenbewegungen in Afrika, sowohl in Bezug auf Landrechte, die Fischerei und die Beteiligung von Frauen an Konfliktlösung in Afrika.

Schließlich war die Festung Europa mit seinem menschenverachtenden „Grenzschutzregime“. Immer wieder wurden die TeilnehmerInnen aus Europa gefragt, auch von Studierenden aus dem Senegal: Wie kann es sein, dass Ihr ohne Visum hierherkommen könnt und wir nicht einmal die Chance auf ein Visum haben? Immer wieder wurde die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit erhoben, als Teil globaler Bürgerrechte. Schon vor dem Forum verabschiedete ein eigenes Forum zu Migration eine „Charta der Migranten„.

Kurzum: die neuen und alten Formen des Kolonialismus‘ waren die bestimmenden Themen des Weltsozialforums. Anders als beim WSF in Nairobi 2007 blieb diesmal die Beschimpfung oder überhebliche westliche Kritik an Afrikanischen Basisbewegungen aus. Dazu trug auch bei, dass religiös motivierte Gruppen – ob christlich oder muslimisch – wenig sichtbar waren und damit die religiöse Intoleranz mancher Linker weniger provoziert wurde. Erfreulich aktiv waren die katholischen und evangelischen Hilfewerke, die auch vielen ihrer Partnerorganisationen im Süden die Teilnahme am Weltsozialforum ermöglichten. Der Evangelische Entwicklungsdienst stellte auf dem Forum eine vielbeachtete Studie zu EU-Westafrikanischen Fischereikooperationen vor, die massiv das Recht auf Nahrung der Fischer und ihrer Familien an den Küsten verletzen. Anders als bei den Foren in Lateinamerika und 2003 in Mumbai waren dagegen linke Parteien und Gewerkschaften vergleichsweise wenig sichtbar. Aus Deutschland war aus den Gewerkschaften nur die GEW dabei. Die großen NGOs waren zahlreich vertreten, dominierten jedoch nicht das Forum. Auch regional entsprach die Beteiligung der Verankerung der altermondialistischen Bewegung auf den verschiedenen Kontinenten. Während EuropäerInnen und LateinamerikanerInnen neben den zahlenmäßig dominierenden AfrikanerInnen sehr sichtbar waren, gab es aus Asien außerhalb von Indien nur wenig Beteiligung. Auch die NGOs aus Nordamerika waren nicht so zahlreich vertreten, wie es ihrer Stärke eigentlich entspricht.

Anders als in Lateinamerika gibt es keine Regierung auf dem afrikanischen Kontinent, die sich auf die altermondialistische Bewegung bezieht. Somit wurden die Revolutionen in Tunesien und Ägypten zum machtpolitischen Bezugspunkt des Forums. Gerade im Maghreb hatte ein Duzend Sozialforen stattgefunden und dazu beigetragen, den Boden für den Wandel vorzubereiten. Allerdings wäre es eine Übertreibung, die beiden Absetzungen undemokratischer Regime als Erfolge der altermondialistischen Bewegungen zu sehen. In jedem Falle wollen etliche Organisationen aus dem Weltsozialforumsprozess am 20. März nach Tunesien reisen. Auch das europäische Attac-Netzwerk bereitet mit Attac Tunesien eine Delegation vor.

Bewährt hat sich wiederum die neue Methodik des WSF: Nach einem Tag von Veranstaltungen zu afrikanischen Themen gab es zwei Tage mit selbstorganisierten Veranstaltungen der teilnehmenden Organisationen.

Große, zentral organisierte Veranstaltungen gab es außer der Eröffnung und dem Abschluss nicht. Wie bei vorigen WSFs fanden vielfach zu den gleichen Themen verschiedene Veranstaltungen statt, weil sich die OrganisatorInnen schichtweg nicht kannten. Am Schluss des Forums folgten dann eineinhalb Tage, die Aktionsversammlungen vorbehalten waren. Zu jedem relevanten Thema fand hier jeweils eine Versammlung statt – insgesamt 38. Sie waren praktisch durchweg ein großer Erfolg.

Oft basierten die beschlossenen gemeinsamen Aktionen auf den Vorbereitungsarbeiten von globalen Netzwerken, die schon vor einigen Jahren auf vorigen WSF gegründet wurden. Diese Netzwerke – oft mit kleinen Sekretariaten, Mailinglisten, regelmäßigen Telefonkonferenzen – sind eines der größten Erfolge der Weltsozialforen und bei der Kommentierung am meisten übersehenen. Das Weltsozialforum ist ein globaler Open Space mit Aktionsorientierung.

Es gab keine systematische Dokumentation der Ergebnisse der 38 Aktionsversammlungen. Hier sind daher nur einige viel Ergebnisse von viel beachteten Versammlung erwähnt. Sie binden politisch nur die TeilnehmerInnen, nicht jedoch das Weltsozialforum als Ganzes. Bei einer mit 300 TeilnehmerInnen sehr gut besuchten Versammlung zu „land grabbing“ wurde eine ganze Reihe von Aktivitäten vereinbart und dazu eine Erklärung zum Thema verabschiedet. Dabei wurde klar, dass der Kampf um traditionelle Landnutzungsrechte und damit das Recht auf Nahrung jeweils vor Ort gewonnen werden muss. Zwar sind die Konsumwünsche der global gesehen Reichen und auch multinationale Konzerne bzw. mächtige Staaten ursächlich für das „Land grabbing“ im Süden, ein entscheidender Schlüssel liegt jedoch bei den lokalen Behörden und Nationalstaaten im Süden. Sie müssen die Rechte der Kleinbauern verteidigen, statt der Exportlandwirtschaft in oft korrupter Art und Weise zu dienen. Ganz Ähnliches wurde auch bei einer am Rande des Weltsozialforums durchgeführten großen Konferenz zu „land and sea grabbing“ unserer Grünen Fraktion im Europaparlament mit betroffenen Kleinbauern und Fischern deutlich. Natürlich müssen wir gerade die Bedeutung des Themas auf dem Weltsozialforum nutzen, um Druck gegen illegitime Praktiken westlicher Konzerne und auch die Handelspolitik der EU zu machen, die zum Schaden kleiner Produzenten im Süden ist. Gleichzeitig müssen wir fairen Handel stärken und die Bewegungen im Süden unterstützen, die Druck auf ihre Regierungen machen.

In verschiedenen Versammlungen wurde auch die Mobilisierungsagenda der nächsten Monate deutlich. In Frankreich finden dieses Jahr der G8 und G20-Gipfel statt. Frankreichs Staatspräsident Sarkozy will sich der kritischen französischen Öffentlichkeit als Altermondialist präsentieren, der dann billig und folgenlos an „bösen anderen Staaten“

scheitert. Gleichzeitig bremst er in der EU bei der Regulierung der Finanzmärkte und der Einführung der Finanztransaktionssteuer. Es scheint klar, dass die französischen Bewegungen diese durchsichtige Strategie nicht durchgehen lassen werden. Die Aktionsversammlung zu G8/G20 beschloss eine entsprechende Erklärung.

In Frankreich hat sich ein Organisationskomitee gebildet, das auch europäisch vernetzt ist. Es sind daher starke Mobilisierungen zum 21./22. Mai nach Deauville und zum 31. Oktober-5.November nach Cannes zu erwarten. Am 26./27. März findet in Paris eine weitere Vorbereitungsversammlung statt. Es scheint, dass es gelingt, die beim Thema Klimaschutz besonders starken politischen Spannungen zwischen NGOs und sozialen Bewegungen auszuhalten.

Darüber hinaus orientieren viele Bewegungen auf die kommende Weltklimakonferenz vom 28.11.-9.12.2011 im südafrikanischen Durban (COP-17) und stärker noch auf den Rio+20-Erdgipfel in Brasilien vom 14.-16.

Mai 2011. In Rio ist ein „People’s summit“ als Parallelveranstaltung der Zivilgesellschaft geplant. Dass diese beiden für Klimaschutz und Biodiversität entscheidenden Konferenzen in stark wachsenden Schwellländern stattfinden, ist politisch spannend. Die beiden Regierungen sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Gleichzeitig haben sie sich gerade im ökologischen Bereich alles andere als mit Ruhm bekleckert. Wie ökologische und soziale Krise in einer gemeinsamen ökonomischen Strategie angegangen werden können, wird zum zentralen Thema werden. Aus diesem Kalender ergibt sich ein Reigen von großen Mobilisierungen für die altermondialistische Bewegung: Deauville, Cannes, Durban, Rio.

Leider litt das Forum sehr unter organisatorischen Problemen. Kurz vor Forumsbeginn hatte der Uni-Direktor gewechselt. Der neue fühlte sich an vorige Absprachen nicht mehr gebunden. Das Weltsozialforum und der reguläre Uni-Betrieb fanden daher parallel statt. Die Doppelbelegung der Räume war der Normalfall. Es dauerte, bis Zelte aufgestellt waren und oft klappte die Ankündigung der neuen Räume nicht richtig. Viele, lange vorbereitete Veranstaltungen daher fielen aus. Das betraf vor allem die kleineren.

Diese Probleme können jedoch den Wert und Erfolg des Forums nicht zerstören. Beim auf das Forum folgenden Treffen des Internationalen Rates des Weltsozialforums wurde das Forum so auch als Erfolg gewertet.

Vor allem die erfolgreichen globalen Netzwerke und ihre Aktivitäten zeigen die Notwendigkeit und Nützlichkeit des WSF. Von einer angeblichen Erschöpfung der Foren oder einer perspektivlosen Wiederholung der Inhalte kann jedenfalls keine Rede sein. Die Weltsozialforen entwickeln sich regional und thematisch weiter. Was es jedoch nach wie vor nicht gibt und wohl auch bis auf weiteres nicht geben wird, ist eine übergreifende gemeinsame Theorie der sozialen Bewegungen und unabhängigen Zivilgesellschaft. Viel an der Rede von der Erschöpfung gründet vielmehr in einer falschen Sehnsucht nach Einheitlichkeit und einem großen vereinigenden „Ismus“. Dass es diese ideologische Engführung nicht gibt, ist jedoch nicht einfach Schwäche, sondern gleichzeitig demokratische Stärke der altermondialistischen Bewegung.

Kritik gab es im Rat allerdings zurecht an der Tatsache, dass ein Staatspräsident – Evo Morales aus Bolivien – das weltweite Forum der Zivilgesellschaft eröffnete, ohne dass dies im Rat abgesprochen war.

Schließlich gab es gerade aus Indien und Brasilien kritische Anfragen an den europäischen Sozialforumsprozess. Es könne nicht sein, dass er in Europa so schwach verankert ist. Tatsächlich steckt der Prozess des Europäischen Sozialforums seit Jahren in der Krise. Denn anderes als beim Weltsozialforum ist es nicht gelungen, die großen NGOs, Gewerkschaften mit den radikaleren sozialen Bewegungen zu vernetzen.

Vielmehr haben sich fast alle Großorganisationen zurückgezogen und der Prozess ist in der Hand einer kleinen, schlecht legitimierten Vorbereitungsgruppe. Dass diese Schwäche nun aus dem Süden kritisiert wird, ist ein gutes Zeichen.

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[1] Ich benutze hier „altermondialistisch“ (franz. altermondialist), der die Bewegung für eine andere Globalisierung im französischsprachigen Raum viel besser beschreibt, als das deutsche „globalisierungskritisch“.

[2] Gustave Massiah (2011a): Une stratégie altermondialiste, Paris: La Découverte; Gustave Massiah (2011b): Les douze hypotheses d’une stratégie altermondialiste



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