12. März 2009 | Slow Food

Die Verlangsamung des Kulinarischen

von Markus Wagner. Stuttgart


Sie gruppieren sich in Convivien bzw. Tafelrunden. Und nicht nur der Name jener Runden ensagt dem schnelllebigen Zeigeist. Mitglieder des Vereins „Slow Food“ suchen und finden den bewussten Genuss in der Wahrnehmung regionaler Geschmacksvielfalt. Sie rufen auf zur Wahrnehmunsänderung. Ein Mitglied berichtet…

Lesezeit 4 Minuten

„Ich möchte die Geschichte einer Speise kennen. Ich möchte wissen, woher die Nahrung kommt. Ich stelle mir gerne die Hände derer vor, die das, was ich esse, angebaut, verarbeitet und gekocht haben“ ?(Carlo Petrini, Gründer von Slow Food).

Slow Food wurde 1986 in Bra in Italien gegründet – mittlerweile ist daraus eine internationale Non-Profit-Bewegung mit über 80.000 Mitgliedern geworden. Den Slow Food Deutschland e.V. gibt es seit 1992. In einer immer enger zusammenrückenden Welt sieht der Verein seine Aufgaben darin, die biologische Vielfalt unserer Lebensmittel zu bewahren, die Geschmackserziehung zu verbreiten und die Erzeuger exzellenter Lebensmittel darin zu unterstützen, einen Markt für ihre Produkte zu finden.

So weit die Theorie. In der Praxis finden sich bei Slow Food Menschen zusammen, die Freude am Genuss haben und die Vielfalt an Lebensmitteln, die es auf dieser Welt gibt, schätzen und erhalten wollen. Sie wollen die kulinarische Eigenständigkeit jeder Region darstellen und die dort lebenden Menschen dahin führen, stolz auf die Produkte zu sein, die ihr eigener Landstrich hervorbringt.

Wer möchte, kann Slow Food als Gegenbewegung zu den kommerziellen Fast-Food-Ketten betrachten, die ihren Kunden einen weltweit einheitlichen Geschmack ohne Überraschungen versprechen und die ihren Speisen deshalb weltweit die „Persönlichkeit“ nehmen. Wir bei Slow Food sind der Meinung, dass gerade diese Vielfalt an Geschmacksrichtungen eine enorme Qualität darstellt und dass jede Anstrengung lohnt, diese zu erhalten. Darum hat die Grundidee der Bewegung auch so viel Potenzial. In ihr steckt Umweltschutz, Arterhaltung, Sortenvielfalt sowie Handwerk. Dieses Wissen ist komplex und in manchen Fällen sogar einzigartig, da es nur an einem bestimmten Ort von einem bestimmten Menschen praktiziert wird.

Nehmen wir ein so scheinbar einfaches Ding wie einen Apfel und betrachten ihn aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln. Dieser Apfel wächst womöglich auf einer schwäbischen Streuobstwiese und wird bald geerntet werden. Wird er? Vielleicht ist die Sorte zu klein oder die Anbaumenge zu gering! Vielleicht will der Bauer nicht spritzen und deshalb hat sein Obst kleine Schadstellen. Womöglich wird die Streuobstwiese auch nicht mehr gepflegt, weil Äpfel im Supermarkt billiger und schöner sind und weil sie aus Weltgegenden kommen, in denen der Anbau viel günstiger ist, weil die Bauern dort schlechter bezahlt werden oder weil Monokulturen den Anbau dort viel einfacher machen. Natürlich leidet darunter die Sortenvielfalt. Von über 1000 regionalen, oft lokalen Apfelsorten um 1900 gibt es in Deutschland inzwischen nur noch wenige Dutzend Sorten, deren Vermarktung überhaupt noch lohnt. Wichtigster Faktor bei der überregionalen Vermarktung ist leider oft nicht der Geschmack, sondern größtmögliche Unempfindlichkeit gegen Transportschäden und eine möglichst makellose Optik, die zumeist nur durch den flächendeckenden Einsatz von Pestiziden erzielt werden kann.

Viele der alten Sorten haben jedoch ganz spezielle Vorzüge – ein Apfel hat ja auch vielfache Einsatzmöglichkeiten! Ein Mostapfel muss nicht unbedingt schmecken, kann aber im Apfelmost oder als Obstbrand ungeahnte Qualitäten aufweisen. Andere haben durch eine wachshaltige Schale eine besonders gute Lagerfähigkeit und können ohne Qualitätsverlust über den Winter gebracht werden. Heute wird das aber nicht mehr geschätzt. Einheimische Äpfel lagern unter Schutzgas oft nahezu ein Jahr bis zum Verzehr und haben durch die lange Lagerzeit eine so schlechte Energiebilanz, dass es sich sogar lohnt importierte zu kaufen. Der Apfel soll ja immer wie frisch geerntet schmecken – da pfeift man doch auf die Energiebilanz! Und weil es Äpfel das ganze Jahr zu geben scheint, kümmert sich auch fast niemand mehr um die Wachstumszeiten. Ist ja alles immer global, lokal erhältlich.

Wir erkennen schon an einfachem Obst viele Zusammenhänge, die unser Leben prägen und die Richtung mitbestimmen, in die wir uns alle bewegen. Wir von Slow Food fühlen uns mitverantwortlich für diese Entwicklungen und würden kommenden Generationen gerne die Freude an der Vielfalt und am Genuss und an den ständigen Wachstumszyklen dieser Erde vermitteln. Wir möchten zeigen, dass es Spaß macht, Lebensmittel zuzubereiten und dass unsere kulturellen Wurzeln im gemeinsamen Essen stecken und dass es wichtig für uns und unsere Kinder ist, zu wissen, wie beispielsweise ein Kohlrabi aussieht und wo und wann er wächst und was man Leckeres daraus machen kann. Dafür lohnt es sich, etwas zu unternehmen und sei es nur, einigen Kindern aus der Nachbarschaft zu zeigen, wie man Laugenbrezeln backt oder wie unterschiedlich Äpfel schmecken können. Man kann ihnen zeigen, wie schmackhaft Essen ohne Geschmacksverstärker und Aromastoffe ist und man kann versuchen, eigene Vorurteile zu überwinden und selbst Neues auszuprobieren. Genuss kann auch Bildung sein und den eigenen Geschmack muss man schulen.

Ein deutsches Sprichwort sagt: „Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen“ – also, ohne Mühe kein Spaß!? Wer sich mit Ernährung beschäftigt und die Produzenten seiner regionalen Lebensmittel kennt, vielleicht sogar selbst eine Streuobstwiese oder ein kleines Grundstück bewirtschaftet, der wird feststellen, dass es viel Freude machen kann, Gedeihen zu beobachten oder gute Dinge zu kaufen. Und die Zubereitung kann Spaß machen! Wer es schafft, sein Denken dahingehend zu verändern, kann dem guten alten Spruch eine Slow Food-Note verleihen und sagen: „Zuerst das Vergnügen und dann noch mehr Vergnügen“.

© Cultura21, 12.3.2009

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Zum Autor

Markus Wagner ist Diplom Designer und lebt und arbeitet in Stuttgart.

Weitere Infos: www.slowfood.de



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