Als ich kürzlich mit Freunden in Lissabon tafelte, ließ ich mir meinen Appetit nicht durch Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit verderben. Ich genoss den dickflüssigen würzigen Käse aus der Serra als „entrada“, widmete mich mit Inbrunst der „acorda de mariscos“, den Meeresfrüchten in einem mit Knoblauch und Koriander zubereiteten Brotbrei und bestellte zum krönenden Abschluss einen „toucinho do ceu“, eine jener süßen Versuchungen aus Mandeln, Eigelb und Zucker, wie sie die portugiesischen Mönche vor Jahrhunderten erfanden. Dazu gab es einen der fruchtigen schweren Rotweine aus dem Alentejo, und um den Magen zu besänftigen, einen bagaco, einen hausgemachten Tresterschnaps am Ende.
Habe ich das eigentlich verdient?
Mit meiner Vergangenheit als bettelndes Kind machte ich Eindruck auf meine Freunde. Die tägliche Tour von einem Krankenhaus zum anderen … Immer gab es eine mir gewogene Schwester, die etwas Essbares für mich hatte. Zu Hause musste ich mich gegen meine Geschwister behaupten. Ein einziges Mal wurde ich von meiner Mutter verprügelt: als ich Essen stahl. Und was gab es? Die Wassersuppe, den ewig ungesalzenen Kohl, die zermanschten Kartoffeln.
Ich erinnere mich, dass ich Zucker klaute, den ich heißhungrig hinunterschlang: Oder Pellkartoffeln, die ich mit brennend schlechtem Gewissen, versteckt hinter einem Busch hinunterwürgte. Wie schmeckte das? Und der Hunger: Wie empfand ich den? Habe ich Ähnliches gefühlt wie die Menschen, die ich in Afrika an Hunger sterben sah? Hatte ich das Recht, mich heimlich quasi als Komplize der Straßenkinder in Rio de Janeiro zu sehen?
In Sao Paulo spendierten wir einem Straßenkind einen gewaltigen bunten Eisbecher. Das kleine Mädchen strahlte uns an, als sei ihr innigster Wunsch erfüllt worden. Wie ich wohl auch, als ich, sieben Jahre alt, meine erste Banane geschenkt bekam . Es war wie der Eintritt in einen neues Universum. Bis heute habe ich Angst, dass ich mir mein Essen nicht leisten kann. Und bis heute reagiere ich allergisch, wenn Kindern erlaubt wird, einen Rest auf dem Teller zu lassen, zum Wegwerfen.
„Langsam normalisierte sich das Leben“ erzählte ich meinen Freunden. Die Normalität der fünfziger Jahre. Das Essen als notwendiges Übel mit Tischgebet. Und die Mehlsoße, eine dickliche Pampe, mit der alles versetzt war, Bohnen und Blumenkohl, Mohrrüben und Spinat. Und natürlich der Sonntagsbraten, wenn der denn einmal aufgetischt wurde. Zum Geburtstag wünschte ich mir ein Glas Kunsthonig. Doch da waren auch Höhepunkte: der Eintopf „Quer durch den Garten“, für den meine Mutter alles im Garten verfügbare Gemüse in einen großen Topf schüttete. Bis heute versuche ich, diesen Eintopf nachzukochen. Oder das kalte Roastbeef mit Cumberland-Soße. Oder der Streuselkuchen zu Ostern.
„Ihr habt hier in Portugal eine Jahrhunderte alte Tradition der Arme-Leute-Küche,“ sagte ich meinen Freunden, “und habt gelernt, das beste daraus zu machen. Meine Mutter konnte das nicht, bis auf einige Ausnahmen, und sie hatte auch keinen Spaß am Kochen.“
Als Student und angehender Journalist war ich dem Mensa-Essen und dem Angebot billiger Gasthäuser ausgesetzt. Ich musste schließlich Geld sparen. Aschinger in Berlin verkaufte einen Teller Erbsensuppe und so viele Brötchen, wie man wollte für 40 Pfennig – ein erster Anklang von „all you can eat“. Quantität war wichtig, nicht so sehr die Qualität. Damals lernte ich, das Wort „lecker“ zu hassen, eine Vokabel, mit der in der Regel mehr als dürftige Hausmannskost angepriesen wurde. Das Schicksal ersparte mir die Kantinenkost der Bundeswehr – vermutlich wäre mir, mehr noch als bei meinen anderen Ess-Erfahrungen der Vergleich zur Futterkrippe eingefallen.
Anfang der sechziger Jahre war in Deutschland die Küche noch so provinziell wie die Politik, gleichsam versetzt mit dem Mief des Dritten Reiches. Es herrschte eine seltsame Freudlosigkeit. Meine Freunde stimmten zu, als ich meinte: “Für euch Portugiesen war das Essen immer eine Alternative, die euch auch half, die langen bleiernen Salazar-Jahre zu ertragen. Für euch hat das Essen einen eignen Wert. Historisch gesehen sind wir Deutschen offensichtlich anders.“
Ausländische Restaurants gab es kaum. Als erste tauchten einige Jugoslawen auf, später vereinzelte Italiener. Auch die Buletten-Ketten wie McDonald’s oder Burger King hatten noch nicht die Städte invadiert. Knoblauch wurde mit Juden identifiziert, Petersilie, Schnittlauch und Dill reichten meist, um die Gerichte zu würzen.
Als ich Anfang der sechziger Jahre nach Zürich kam, schien es mir, als eröffne sich eine neue Welt. Nicht nur, dass ich auf eine scheinbar intakte, vom Krieg unversehrte Gesellschaft traf, dass die Straßenzüge nicht von Trümmerfeldern unterbrochen waren, dass in der Redaktion, in die ich eintrat, eine selbstverständliche Weltläufigkeit und Mehrsprachigkeit herrschte – man aß auch anders. Essen und Essen genießen galt als normaler Bestandteil des Zusammenseins. Eine breite Auswahl von in- und ausländischen Restaurants sorgte für Abwechslung.
Der Wein gehörte zum Essen. In meinem Elternhaus trank man nicht während der Mahlzeit. Wein wurde nur zu besonderen Anlässen gereicht: bei Familienfeiern, zum Empfang besonders geschätzter Gäste. Wein an sich war etwas Besonderes, und er musste süß sein, wie noch in der DDR bis zum Ende ihres Bestehens. Dass es eine Vielzahl von Weinen gibt, die zu unterschiedlichen Gerichten passen, lernte ich erst in Zürich.
Mit bedingt durch die ärmlichen äußeren Umstände, bestand in Deutschland zu jener Zeit keine Ess-Kultur. Kreativität, die Freude am Entdecken, die Neugierde auf Neues
beschränkte sich auf eine höhere Sphäre, etwa auf Kunst und Wissenschaft, auf eine geistige Ebene. Die körperlichen Bedürfnisse standen dem Geistigen im Weg, mussten überwunden werden, ganz in der Tradition des Protestantismus. In dem Land von Calvin und Zwingli löste ich mich von diesem Erbe. Meine Redakteurin Alice Vollenweider hatte über die Küche im mittelalterlichen Frankreich promoviert, und sie schrieb unter anderem auch Kochbücher, zum Beispiel „Aschenbrödels Küche“.
Mit diesen Erfahrungen ausgestattet kehrte ich Ende der sechziger Jahre nach Deutschland zurück und kam in eine veränderte kulinarische Landschaft. Inzwischen hatten sich in der Bundesrepublik die so genannten Gastarbeiter etabliert und ihre eigenen Gaststätten und Restaurants eröffnet. Auf einmal konnte ich wählen zwischen einem italienischen, griechischen, spanischen oder portugiesischen Restaurant. Der Aufbruch der 68er Generation fegte wie ein frischer Wind durch eine vermuffte Gesellschaft. Das Postulat der freien Liebe wurde ergänzt durch die freie Küche. Der Internationalisierung des Denkens entsprach die Internationalisierung der Essgewohnheiten. Da gab es die Schmalzstullen-Kultur der Republikanischen Clubs, aber auch die Spaghetti-Orgien mit Bruschetta zum Eingang und viel rotem Wein zu erschwinglichen Preisen beim Italiener um die Ecke. Und ich begann, mit meiner portugiesischen Frau in der eigenen Küche als Koch zu experimentieren
Meine Ess- und Trinkgewohnheiten internationalisierten sich in den folgenden Jahren. Ich lernte die Feijoada kennen, das brasilianischen Nationalgericht aus schwarzen Bohnen, das einst die Sklaven erfunden und mit Fleischabfällen angereichert hatten, und die Caipirinha, die seit kürzerer Zeit auch in Deutschland zum Modegetränk geworden waren. In Afrika begegnete ich einer Küche, in der nichts verkommen darf. Wenn eine Ziege geschlachtet wird, dann werden auch die letzten Fasern in einer Stew verwertet. Mir half, dass sich im Laufe meiner Reisen mein Magen zu einem widerstandsfähigen Verdauungsorgan entwickelt hatte, zu einem Pferdemagen. In der Mongolei streikte er allerdings gegen die Unmengen von purem Fett.
„Wie kommt es eigentlich, dass in keinem anderen Land, das ich kenne, das Essen eine so zentrale Bedeutung hat wie in Portugal?“ Meine Freunde zuckten etwas ratlos mit den Schultern. Wenn wir uns nach längerer Pause wieder treffen, berichten sie mir als erstes über neue Restaurant-Geheimtipps oder über ein Rezept, das sie gerade ausprobiert haben. Es gibt kaum eine Party, in der das Essen nicht das zentrale Thema wäre. Und sie haben eine eigene Art von Gesundbrunnen. Kaum ein Portugiese hat nicht eine „terra“, einen Heimatort, in den er ein oder mehrere Male im Jahr zurückkehrt, isst und trinkt, um dann beladen mit Käse, Schinken, Wurst und Wein zurückzukommen, nach dem Motto: Zu Hause ist es immer noch am besten.
Wir prosteten uns zu, lachten und analysierten noch beiläufig die Konsistenz der acorda. „Jetzt habe ich mich also in Deutschland niedergelassen .Es geschieht nur selten, dass ich so viel esse wie heute. Ich gehe auch kaum noch in Restaurants, die sind für einen Pensionär wie mich zu teuer .Ich lebe zufrieden in dem Bewusstsein, dass alles zur Verfügung steht, was mir einfällt, ohne es unbedingt in Anspruch zu nehmen.“
Seit meiner Kindheit habe ich einen langen Weg zurückgelegt. Meine Mutter hätte sicherlich auch gerne besser gegessen und gekocht, aber sie konnte es sich nicht leisten. Ganz gewiss aber hätte sie gezögert, dem Essen eine allzu große Bedeutung beizumessen Essen und Kochen als Kultur oder gar als Kunst für sinnvoll zu halten, passte nicht in ihre Welt. Es hätte nach Verschwendung ausgesehen. Und sie wäre vermutlich auch nicht bereit gewesen, sich auf allzu abenteuerliche internationale Geschmacks-Experimente einzulassen.
Mit dem Essen habe ich einen anderen Lebensstil gelernt, eine andere Form des Wohlbefindens, der Geselligkeit. Ein Festmahl in einem portugiesischen oder afrikanischen Dorf braucht kein kulinarischer Höhepunkt zu sein, auch nicht die Spaghetti Bolognese, Spezialität einer Studenten-Wohngemeinschaft – das Zusammensein vereint die Beteiligten zum gemeinsamen Genuss.
Habe ich es verdient, so gut zu essen? Die Frage stellt sich mir heute nicht mehr. Ich habe es verlernt, mich sündig zu fühlen, gegenüber einem imaginären Gott oder auch gegenüber selbsternannten Gesundheitsaposteln, die mir vorschreiben wollen, was oder was ich auch nicht zu essen.
© Cultura21, 22.04.2009