5. Dezember 2010 | Postwachstum-Manifest

Ein Leben jenseits des Wachstums ist möglich!

von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis. Berlin


Die globalisierungskritische Bewegung sollte soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz als untrennbare Ziele verfolgen. Hier zwölf Fluchtlinien einer solidarischen Ökonomie jenseits des Wachstums.

Lesezeit 11 Minuten

1.) Unser Ziel: Soziale Rechte global und konkret

Was ist das Ziel unserer Wachstumskritik, und warum halten wir es grundsätzlich für notwendig jetzt Fluchtlinien einer Postwachstumsökonomie zu skizzieren? Unser Ziel ist, soziale Rechte global durchzusetzen, die ein gutes Leben für alle möglich machen. Unsere Alternative einer solidarischen Post­wachstumsökonomie hat nicht wie viele Spielarten der Wachstumskritik nur abstrakt „das Überleben der Menschheit“ oder „die Rettung der Natur“ vor Augen. Denn eine solche Perspektive droht konkrete soziale Rechte von Individuen und Gruppen auszublenden. Sie soll stattdessen den Anspruch sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit im hier und jetzt und in der Zukunft einlösen. Schon als die englischen Bauern von dem Landadel von den Allmenden vertrieben wurden, konnte die soziale Frage nicht getrennt von der ökologi­schen betrachtet werden – auch wenn dies in der Vergangenheit häufig getan wurde. Nach Jahren des immer stärkeren Zugriffs transnationaler Konzerne auf natürliche Ressourcen und angesichts der weltweiten Zuspitzung der Biokrise (d.h. Klimakrise, Peak Oil, Verlust der Artenvielfalt, Degradation von Böden etc.), welche die Überlebensbedingungen von hunderten von Millionen Menschen dramatisch gefährdet, kann (globale) Gerechtigkeit nur sozial-ökologische Gerechtigkeit sein. Eine zentrale Fluchtlinie dahin ist die solidarische Postwachstumsökonomie.

2.) Die Natur ist begrenzt und widerständig

Es gibt kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten. Neo-Klassische Ökonomen blenden die Existenz der Natur und ihre Widerständigkeit aus. Materie, Raum und Zeit als Dimensionen dessen, was wir als Realität bezeichnen würden, kommen in ihren Textbüchern nicht vor. Natur erscheint lediglich in Form von Ressourcen, die bei Knappheit durch höheren Kapitaleinsatz substituiert werden können. Produktion- und Reproduktion basieren jedoch grundlegend auf der Natur: sie wird genutzt (saubere Luft, Ackerland etc.) und Rohstoffe entnommen und umgewandelt. Die Natur ist begrenzt und lässt sich nur unzureichend durch Kapital kompensieren. Natürlich ließe sich ausrechnen, wie teuer es wäre, punktuell künstliche Bestäu­bungsmaschinen für eine Obstplantage in Kalifornien einzusetzen, aber wenn es keine Bienen mehr gibt, dann haben wir ein ernstes Problem.

Die globale Biokrise, vor allem die Klimakrise und das Erreichen des Fördermaximums von Erdöl (Peak Oil), setzen dem Wachstum äußere Grenzen. Insbesondere der Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der energetisch höchst dichten fossilen Energieträger und dem kapitalistischen Wachstumsregime macht Peak Oil (Prognosen reichen von 2005 bis 2020) zu einem einschneidenden Phänomen – die Frage ist nur, wie chaotisch und gewaltsam, oder demokratisch geplant und kooperativ. Tödliche Wetterextreme und Ressour­cenkriege werfen ihre Schatten voraus. Die Bedingungen für emanzipatorische Auseinandersetzungen welt­weit werden dadurch nicht besser.

3.) Entkopplung ist nicht möglich

Konzepte „nachhaltigen“ oder „grünen“ Wachstums, Green New Deal und andere Varianten eines „grünen“ Kapitalismus erleben seit ein paar Jahren eine Renaissance. Think Tanks entwickeln neue Konzepte, Politi­kerInnen versuchen damit neue Mehrheitsblöcke zu schaffen. All diesen programmatischen Ansätzen ist die Vorstellung gemeinsam, dass eine umfassende Entkopplung von Wirtschaftswachstum auf der einen und Ressourcenverbrauch und Verschmutzung der Umwelt auf der anderen Seite möglich ist. Technische Innovationen, erneuerbare Energien, Ressourceneffektivitätssteigerungen und die saubere Dienstleistungsgesellschaft – so das proklamierte Ziel des dematerialisierten Wachstums – würden es möglich machen, dass das Bruttoinlandsprodukt weiter wächst, die Ökonomie jedoch immer weniger fossile Energieträger und andere begrenzte Ressourcen verbraucht. Doch eine derartige Entkopplung – in dem notwendigen absoluten Maße – ist eine Illusion. Die notwendige Reduktion von CO2 in den frühindustrialisierten Ländern des Nordens macht bei gleichzeitigem anhaltenden Wirtschaftswachstum Steigerungen der Ressourcenproduktivität und neue Technologien notwendig, die jenseits des technisch und politisch möglichen liegen – auch angesichts der Funktionsweise unserer Ökonomie, des historisch zu beobachtenden Falls der Innovationsraten, und des bisherigen Scheiterns von Entkopplungsstrategien.[1] Heraus­wachsen aus der Biokrise ist daher keine Option. Zudem ist ein Gesundschrumpfen der Ökonomien im Norden auch notwendig, da armen Regionen im Süden mittelfristig gewisse Wachstumsoptionen zugestanden werden müssen.

4.) „Leur récession n’est pas notre décroissance!“

…lautete ein Slogan bei den Krisenprotesten 2009 in Frankreich („Ihre Rezession ist nicht unsere Décroissance!“). Denn eines ist klar: Unsere Vorstellung von Postwachstumsökonomie ist nicht, die Öko­nomien innerhalb der bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen und Verteilungsverhältnisse zu schrumpfen – dies führt zu Sozialkahlschlag, Verarmung und den anderen Begleiterscheinungen kapitalisti­scher Krisen, wie wir sie derzeit erleben. Innerhalb der bestehenden wachstumsabhängigen Strukturen bedeutet ein Schrumpfen der Ökonomie, dass die Produktivitätszuwächse nicht durch Wachstum aufgefan­gen werden können und dadurch Arbeitslosigkeit rapide zunimmt. Die zahlungskräftige Nachfrage sinkt, die Krise verschärft sich, zur Rezession kommt die Deflation. Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand, die Sozialsysteme kommen unter Druck, Verschuldung explodiert. Beides führt zu einer gefährlichen Spirale aus Rezession und Verarmung. Im auf permanentes Wachstum basierenden Kapitalismus gilt: Schrumpfung = Rezession = soziale Krise.

5.) …und eure Austerität ist nicht unser Postwachstum!

Bei der Transformation zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie geht es darum, eine neue ökonomi­sche Grammatik zu erkämpfen, die soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben für alle weltweit überhaupt erst möglich macht, und als Konsequenz zu einer Reduzierung des BIP führen würde. Ein alleiniger Fokus auf einen Schrumpfungsimperativ ist allerdings verkürzt und gefährlich. Dies zeigen nicht zuletzt neoliberale und konservativ-neofeudalistische Spielarten von Wachstumskritik insbesondere in der Bundesrepublik, die mit ihren ökologisch motivierten wachstumskritischen Argumenten in den reaktionären Chor des „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“ oder „Wir müssen den Gürtel enger schnallen“ einstimmen und Wachstumskrit­ik zum Rechtfertigungsinstrument und Hebel von Austerität und Sozialabbau machen.[2] Im Gegensatz dazu zielt das Konzept einer solidarischem Postwachstumsökonomie der Décroissance auf eine demokratisch ausgehandelte Schrumpfung von Produktion und Konsum, um soziale Rechte für alle zu ermöglichen, weltweit, jetzt und in Zukunft.

6.) Es gibt kein gutes Wachstum, sondern nur ein gutes Leben!

Postwachstum zielt nicht auf abstraktes und utopisches Spekulieren über eine Gesellschaft nach dem Kapitalismus, sondern es geht um die Anerkennung von oft ausgeblendeten sozio-ökonomischen, sowie ökologischen Dynamiken und die Neuausrichtung emanzipatorischer Strategien. Regierungen und transna­tionale Konzerne stehen dem entgegen. Aber auch wer in der jetzigen Krise wie die Brüsseler Bürokraten des Europäische Gewerkschaftsbundes mit dem Slogan „No cuts, more growth!“ agiert, sitzt – bei aller drängen­den Notwendigkeit sich gegen die Sozialkürzungen zu stemmen – der Illusion auf, die gesellschaftlichen Probleme ließen sich durch mehr Wachstum lösen. Doch seit Jahrzehnten gehen die Wachstumsraten in den Industrieländern zurück, ein Prozess, dessen Ursachen nicht nur in den äußeren Grenzen des Wachstums liegen (Verteuerung der Ressourcen, Zerstörung des Klimas etc.), sondern auch in den inneren Schranken kapitalistischer Entwicklung (relative Sättigung). Wachstum reicht schon seit langem nicht mehr, um die strukturelle Arbeitslosigkeit effektiv zu lindern (jobless growth), Wachstum steigert nicht die Wohlfahrt, und die steigende Flut hebt nicht alle Boote.[3] Peak Oil ist eine ernste Herausforderung auch für traditionell-linke Wachstumsstrategien. Kriege zur Absicherung der Rohstoffe, katastrophale Tiefseebohrungen und Millionen von Flüchtlinge gehören untrennbar zum fossilistischen Wachstumsmodell. Wachstum steht dem Ziel globaler sozialen Rechten entgegen. Denn was da wächst sind abstrakte Tauschwerte, Akkumulations-möglich­keiten für wenige, die ein gutes Leben für alle unmöglich machen.

7.) Goodbye, Keynes – good morning Keynes and beyond…

Keynesianische Politik scheiterte in den 1970/80er Jahren, als sie die Verwertungsbedingungen des Kapitals nicht mehr gewährleisten konnte. Sprich: das keynesianische Wachstumsmodell stieß an seine Grenzen. Die Antwort war die neoliberale Konterrevolution, wie sie ihr Vordenker Milton Friedmann nannte. Inzwischen ist auch das neoliberale Wachstumsmodell, der finanzmarktgetriebene Kapitalismus, in einer Krise. Ange­sichts des Scheiterns des Keynesianismus – vor allem im globalen Kontext – und der ökologischen Grenzen, sind allerdings Hoffnungen auf eine neue keynesianische Phase, die Hoffnung auf ein öko-keynesianisches Wachstumsregime jenseits des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus verfehlt. Viele der in der emanzipatori­schen Linken diskutierte – auch keynesianische – Konzepte sind jedoch weiterhin zentral, besonders zur Dämpfung von sozialer Ungerechtigkeit und Ausbeutung: radikale Umverteilung, Arbeitszeitverkürzung, Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle von Kapital und Investitionen. Diese gilt es mit darüber hinausgehen­den Konzepten wie (Wieder)Aneignung der Gemeingüter, Deglobalisierung, neuen Formen der Arbeit, Ernährungssouveränität[4] und Energiedemokratie neu zusammen zu denken, und zwar unter den Vorzeichen einer Wirtschaft, die nicht wächst, sondern bis zu einem Stabilisierungspunkt schrumpft. Dabei geht es auch darum, den verborgenen Keynes, den Stagnationstheoretiker zu entdecken, der eine Gesellschaft befreit von Arbeitszwang und Profitstreben skizzierte. Letztlich müssen wir durch Keynes hindurch und über ihn hinaus, um zu unserer solidarischen Postwachstumsökonomie zu gelangen. 

8.) Weniger Produzieren, Arbeitszeit verkürzen, Reichtum umverteilen, Investitionen kontrollieren

Postwachstum ist der Bruch mit der Scheinlogik des verteilungspolitischen Positivsummenspiels und der Illusion der Knappheitsökonomie, in der nur umverteilt wird, wenn die Wirtschaft wächst. Die Politik des „Trickle-down“ ist nicht nur fundamental gescheitert – Wachstum geht real mit der Produktion von Unter­entwicklung und zunehmender Ungleichverteilung einher. Doch es ist genug für alle da. Der bestehende Reichtum muss gerecht verteilt werden, und nicht weiter wachsen. Dafür brauchen wir nicht nur ein Mini­maleinkommen, sondern auch ein Maximaleinkommen, wie in der französischen Décroissance-Bewegung gefordert wird.

Postwachstum verabschiedet sich auch von der Illusion der wachstumsbasierten Vollbeschäftigungsgesell­schaft. Schon lange reichen die realen Wachstumsraten nicht mehr aus, um die durch Produktivitätssteige­rung und Ökonomisierung freigesetzten Arbeitskräfte wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Alter­native zu Hartz-IV, Verarmung und dem „überflüssig“-machen großer Teile der Gesellschaft ist die Arbeits­zeitverkürzung für alle. Zudem ist eine Absenkung der absolut geleisteten Zahl von Lohnarbeitsstunden nötig, um das BIP tatsächlich dauerhaft abzusenken. 20 Stunden sind genug – für’s erste![5] Nicht zu vergessen: es gibt ein Leben jenseits von Lohnarbeit, in dem – wie feministische Ökonominnen immer betonen – die notwendige Arbeit getan wird, die die Gesellschaft zusammenhält. Und auch diese muss umverteilt werden – auf alle.

Arbeitszeitverkürzung ist Sand ins Getriebe der Wachstumsökonomie und schafft neue strategisch notwen­dige Spielräume, allein reicht sie allerdings nicht. Schließlich würde weitere massive „Rationalisierung“ die Antwort der Unternehmen sein, und ihr Imperativ Profite zu erzielen, also zu wachsen, würde nicht ausgehebelt. Neue Formen entmonetarisierten Wirtschaftens, der Solidarischen Ökonomie und der Bewirt­schaftung von Commons/Allmenden sind notwendig. Gleichzeitig muss es darum gehen, in den real-existierenden Finanzmarktkapitalismus einzugreifen und Investitionen demokratisch zu kontrollieren und umzulenken – weg von fossilistischen Hochwachstumssektoren hin zu Sorgeökonomie, gebrauchswertorien­tierten Basisdienstleistungen und sozial-ökologischem Umbau. Und statt (öffentliche) Schulden zu bedienen, kämpfen wir für Schuldenerlass. Drop the debt![6]

9.) Jenseits des Kapitalismus

Alle, die ernsthaft versuchen, über Wachstumskritik hinaus zu gehen und eine Schrumpfung und darauf folgend eine stabile Ökonomie anzupeilen, stehen vor immensen Herausforderungen, denn es geht um eine grundlegende soziale Transformation, die an die Wurzeln geht. Plausible technokratische Konzepte für eine solidarische Postwachstumsökonomie, aber auch beispielhafte Insellösungen solidarischer Ökonomie, sind unverzichtbar – sie reichen jedoch nicht, wenn der Akkumulationsprozess des Kapitals weitergeht. Wachstum wird angetrieben durch die blinde Selbstverwertung des Kapitals: Geld wird in die Produktion investiert, um mehr Geld zu werden, was die Zunahme der Produktion von Werten voraussetzt. Postwachstum heißt daher, dass die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals abnehmen und die durch die Finanzmärkte aufgeblähten fiktiven Vermögensansprüche nicht realisiert werden können. Darüber hinaus müssen, um zu einer solidarisch-ökologischen Ökonomie zu kommen, viele Produktionsstätten – vor allem in den fossilistischen Sektoren – im Zuge der Transformation in eine Postwachstumsökonomie stillgelegt werden (Disinvestment). Beides bedeutet die Vernichtung von Kapital. Um globale soziale Rechte zu ver­wirklichen, führt kein Weg an diesem Kern der politischen Ökonomie und damit an dieser Machtfrage vorbei. Das Problem: das neoliberale Globalisierungsprojekt mit seiner Liberalisierung der Märkte (WTO, IWF), Privatisierung, Deregulierung und Angriffen auf kollektive soziale Akteure hat die Macht des transna­tional agierenden Kapitals enorm gesteigert. FAQ: Welche sozialen Akteurskonstellationen mit welchen Interessen, Mitteln und Strategien wollen und können eine solidarische Postwachstumsökonomie und die notwendige Dekommodifizierung und Entmonetarisierung von (Re)Produktionsräumen durchsetzen?

10.) Buen vivir jenseits von Tradition und Moderne

Die Idee von ewigem Wachstum verbunden mit der Idee des homo oeconomicus, ist integraler Bestandteil des Konzepts der Moderne. Von diesen gilt es hier und jetzt zu desertieren. Aber die gute Nachricht ist: „Wir sind nie modern gewesen!“, wie Bruno Latour entdeckte und Donna Haraway bekräftigte.[7] Und wir sind auch nicht die „Dromomaniacs“ (Geschwindigkeitsfanatiker) zu denen der französische Urbanist Paul Virilio uns ernannte.[8] Aber auch wenn wir uns vom Wachstum verabschieden – farewell, farewell! – beanspruchen wir natürlich weiterhin die modernen Konzepte wie Menschenrechte und Demokratie, die das Ergebnis von Kämpfen um Emanzipation sind. Postwachstum heißt nicht, die Idee der Möglichkeit von Fortschritt aufzugeben – sondern eine Loslösung der Fortschrittsidee vom Glauben an Güteranhäufung und Wirt­schaftswachstum. Postwachstum heißt damit eben nicht zurück zur Tradition, zur Steinzeit, oder sich einer anything-goes-Postmoderne zu ergeben. Postwachstum nimmt die postkoloniale Situation und die  seit dem Aufstieg der Schwellenländer multipolare Konstellation ernst – und damit die Frage nach globaler Gerech­tigkeit und Gleichheit. Die konkrete Utopie des guten Lebens (buen vivir) in einer egalitären Gesellschaft ohne Wachstum konstituiert eine neue Fluchtlinie jenseits von Tradition und Moderne. Die Idee der solidari­schen Postwachstumsökonomie wiedereröffnet den Horizont der Möglichkeiten jenseits der Dominanz der herrschenden ökonomischen Vorstellungen und Zwänge. Es geht um die Dekolonialisierung der Imagination, um die Demystifizierung von allzu oft fetischisierten Konzepten wie Wirtschaftswachstum, Fortschritt, Lohnarbeit, Effizienz und BIP. Fragend schreiten wir voran…

11.) Transkommunalismus statt Postdemokratie

Die Demokratie erlebt/e schwere Attacken durch das neoliberale Roll-back seit den 1970/80ern. Spätestens unter dem Ausnahmezustand der Weltwirtschaftskrise und den über Nacht geschnürten exzessiven „Rettungspaketen“ für die Banken sind wir in einer Postdemokratie angekommen. Die sozialen Auswirkun­gen der Krise und die sozialen Folgen der Biokrise – erhöhen den Druck auf demokratische Strukturen. Eine solidarische Postwachstumsökonomie erfordert daher neue demokratische Institutionen, eine Rekonstituierung von lokaler und nationaler Demokratie. Eine europäische und globale Demokratie sind noch ein weiter Weg. Und die Restrukturierung von Produktion zielt auf Deglobalisierung[9], eine neue Artikulation der lokalen Ebene mit der nationalen und globalen auf Basis neuer demokratischer Verfahren. Dazu gehören die Kontrolle von Finanzmärkten und insbesondere Investitionen. In die Falle eines kurzsichtigen Lokalismus werden wir nicht tappen. Ebenso rassistischen Chauvinismus angesichts von Migrationsströmen und absehbar 9 Mrd. Menschen auf diesem Planeten. Stattdessen gilt es demokratische transkommunale Strategien zu erfinden.

12.) Der Postwachstumshorizont

Abwehrkämpfe gegen Austeritätspolitik werden die zweite Krisenphase, die mit der Eurozonen-Krise begann, prägen. Diese Kämpfe gegen Sozialkahlschlag sind und bleiben absehbar defensiv. Ein offensives Projekt, welches tatsächlich über den (neoliberalen finanzmarktgetriebenen) Kapitalismus hinaus weist, fehlt bisher. Aber wir brauchen einen neuen Horizont, um unsere Energien zu fokussieren. Eine der Fluchtlinien, die diesen neuen Horizont zeichnen, ist die solidarische Postwachstumsökonomie.

Die globalisierungskritische Bewegung – oder auch altermondialistische oder „global justice“-Bewegung – (aus GewerkschafterInnen, politischen Gruppen, Netzwerken und Organisationen) spielte mit ihrer anti-neoliberalen Positionierung eine wichtige Rolle dabei, die soziale Frage nach den langen Jahren des neoliberalen „pensé unique“ der 90er Jahre zu rekonstituieren. Seit etwa 2007/08 – symbolisiert durch die Gründung von Climate Justice Now! beim Klimagipfel in Bali, der ersten Degrowth-Konferenz in Paris und vor allem Dank indigener Bewegungen beim Weltsozialforum im amazonischen Belem[10] etc. – beginnt eine Rekonstituierung des Feldes kritischer politischer Ökologie, von Umwelt- und Klimagerechtigkeit.

Uns erscheint es zwingend, dass ökologische Gerechtigkeit integraler Bestandteil eines möglichen zweiten Zyklus der „global-justice“-Bewegung wird. Der Postwachstumshorizont verbindet die soziale und ökologi­sche (Verteilungs-)Frage, und er verknüpft Mikro-Praktiken und makro-ökonomische Konzepte und verbin­det transkommunal das Lokale mit dem Nationalen und Globalen. Die solidarische Postwachstumsökonomie ist eine Perspektive für eine offensive Bewegung, die Alt und völlig Neu zu einem kommenden Horizont verknüpft.

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Fußnoten

[1] Vgl. Sustainable Development Commission (2009), Prosperity without growth?; NEF (2010), Growth Isn’t Possible.

2] Siehe www.denkwerkzukunft.de. Vgl. aber auch die Ideen von Zac Goldsmith, Abgeordneter der Konservativen im Unterhaus, „The Constant Economy“.

3] Dieses Sprichwort geht ursprünglich auf J.F. Kennedy zurück und besagt, Wachstum steigere die Einkommen der Ärmsten. Vgl. z.B. die Rede des Managing Director des IMF, Rodrigo de Rato, A Rising Tide Lifts All Boats: How Europe, by Promoting Growth, Can Help Itself and Help the World; und die Studie des NEF (2006), Growth Isn’t Working

[4] Vgl. http://viacampesina.org

[5] Vgl. www.neweconomics.org/publications/21-hours.

[6] Vgl. www.cadtm.org

[7] Bruno Latour (2008), Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.; Donna Haraway (1991), Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, Routledge, New York.

[8] Paul Virilio (1986), Speed and Politics: An Essay on Dromology, Autonomedia.

[9] Walden Bello (2002), Deglobalisation: Ideas for a new world economy, Zed Books.

[10] Vgl. www.movimientos.org/fsm2009.


Links im Artikel überprüft und veraltete Links entfernt. 4.4.24
postwachstum.net. Link veraltet. 4.4.24


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